Covid1984 und andere Lügen

Über Fake News und Verschwörungstheorien

Mittwoch, 19. Mai 2021, ein sonnig-grauer Tag in Luxemburg-Stadt. Ich sitze im Homeoffice. Zeit für’s Mittagessen. Da fällt mir ein, dass ich noch gar nicht nach der Post gesehen habe. Ich öffne den Kasten und hole neben dem Schreiben eines Immobilienmaklers, der gerne das Haus kaufen möchte, in dem ich wohne, eine weitere Wurfsendung heraus. Eine Zeitung, halbwegs professionell aufgemacht, aber ohne Impressum. Sie heißt Transparency for a Greater Future, ist markiert als Mai-Ausgabe, aber ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Neugierig schlage ich sie auf.

Fake News im Briefkasten

Quellenangaben fehlen weitgehend, Beiträge und Kästen sind entweder gar nicht namentlich gezeichnet oder hauptsächlich von Ernst Wolff verfasst, schon länger bekannt als Verschwörungstheoretiker mit Auftritten und Beiträgen für die international agierenden russischen Medien Russia Today und Sputnik. Die Informationen zu Wolff finde ich später bei Recherchen im Netz, in der Zeitung (seiner Zeitung?) erfahre ich nichts über ihn. Neben einer Seite zum „globalen Finanzsystem“, auf der vor der „totale(n) zentrale(n) Kontrolle über den Geldfluss“ und einer „neue(n) Knechtheit“ gewarnt wird, geht es auf den acht Seiten um Corona. Da ist die Rede von Todesfällen, die „fast täglich kurz nach der Impfung auftreten“. Die Nebenwirkungen der Impfungen, die ja die normale Immunantwort des Körpers auf die Impfung sind, werden skandalisiert und dramatisiert (Überschrift: „Der Tod lauert nach der Impfung“). Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung wird als Profiteurin der Impfkampagnen präsentiert, um auf der folgenden Seite zu erklären, warum „Bill Gates in der Schweiz nicht verhaftet werden kann“. Und es werden natürlich viele Fragen gestellt. Das „Just asking“, das immer gleich versichert, dass man ja keine These vorträgt, sondern nur kritisch nachfragt, hinterlässt natürlich Spuren bei denen, die eben auch einfach nur mal fragen wollen, weil sie glauben, einer ganz heißen Sache auf der Spur zu sein. Und jede irreführende Frage hinterlässt eine Ahnung, und aus Ahnungen werden Gewissheiten.

Beispiele gefällig? „Mal ne Frage… ist die Grippe im Frühjahr 2020 an Covid1984 gestorben? Man hört nichts mehr von ihr.“ „Seit wann glauben Sie Politikern oder Führern?“ „Was kommt als Nächstes? Werden sie etwa unsere Körper patentieren, nachdem sie uns mit dem mRNA-Impfstoff genetisch umgebaut haben?“ Noch unverhohlener und ohne Fragezeichen geht es dann in Kapitälchen auf Seite 7 zu: „DIE GLEICHEN, DIE DIE BANK OF ENGLAND INSTALLIERTEN, DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION ANGESTIFTET HABEN, […], SÄMTLICHE BÜRGERKRIEGE AUF DIESER WELT AUSLÖSTEN, EUROPA MIT ZWEI WELTKRIEGEN ZERSTÖRTEN, […], DIE MASSENIMMIGRATION LOSGETRETEN HABEN UND IHRE FREIZEIT AUF JEFFREY EPSTEINS ,LOLOTA ISLANDS‘ VERBRINGEN – WOLLEN DICH NUN IMPFEN!!!“ Sie, die Gleichen! Sie! Um wen handelt es sich denn bei diesem ominösen „Sie“? Wer ist das denn, der schon vor Jahrhunderten sich verschworen hat, unsere Welt zu zerstören, nach den eigenen Vorstellungen umzubauen? Es wird nicht konkret benannt, aber wer verstehen will, wird es tun. Die Schlagworte sind gesetzt. Die, für die solche „News“ formuliert sind, wissen diese Reizwörter zu entziffern. Mit Epstein ist die assoziative Verbindung zum Judentum und dem angeblichen Pädophilenring um Hillary Clinton gesetzt, zu den globalen Eliten, die in den Augen von QAnon-Anhänger*innen1 und anderen davon ausgehen, dass eben diese Eliten ihrer Erlöserfigur namens Donald die Wahl gestohlen haben. Mit dem Schlagwort der Massenimmigration wird das Bild des „großen Bevölkerungsaustauschs“ heraufbeschworen, das in extrem-rechten Kreisen die Hetze gegen Flüchtlinge mobilisiert. Der Feind ist also benannt. Was er weiter vorhat, lässt sich in einem Beitrag über China nachlesen. Die Tatsache, dass China PCR-Tests auch anal durchgeführt hat, wird hier mit der Falschmeldung verbunden, dass durch sogenannte Theragripper mittels dieses Tests ungefragt Impfungen verabreicht werden könnten. Als „Beleg“ steht über dem Artikel: „Johns Hopkins University bestätigt: Menschen können mittels PCR-Test geimpft werden“. Ist zwar nicht wahr – die Universität hat diese Falschmeldung, die schon zuvor in impfgegnerischen Blogs kursierte, dementiert2 –, was Wolff und seine Freunde aber nicht davon abhielt, die Falschmeldung trotzdem abzudrucken. Wenn’s der Wahrheitsverdunkelung dient! Und hier wird nicht nur mit der Angst vor Impfung gespielt, sondern auch mit der Angst des Mannes vor der analen Penetration durch den Feind. Die Message: Wenn das so weiter geht, sind wir alle gefickt. 

Verschwörungstheorie im Netz

Das von Christianne Wickler gegründete Portal Expressis-Verbis geht eleganter vor. Laut Impressum werden rassistische, diskriminierende, sexistische, „von Hass, Intoleranz oder andere(n) ähnlich geprägte“ Inhalte nicht veröffentlicht.3 Auch wird das Coronavirus hier nicht geleugnet. Es werden aber etwa Tipps gegeben für die, die sich nicht impfen lassen wollen. Zum Beispiel werden Lutschbonbons mit Zistroseextrakt oder das Gurgeln mit Zistrosetee als Corona-Prophylaxe angeraten. Zistrose habe das Zeug dazu, „Covid19 bereits im Anfangsstadium in Schach zu halten oder einzudämmen“.4 Das wirklich Brisante an diesem Portal sind aber nicht die falschen oder irreführenden Aussagen, etwa zu den Gefahren des Maskentragens.5 Besorgniserregender ist, dass hier ein Projekt am Werk ist, dass in nicht gerade homöopathischen Dosen Zweifel sät: an der Zurechnungsfähigkeit der Regierung auf der einen und einer ihrer Kontrollinstanzen auf der anderen Seite: an den Medien.

Dazu muss man sich nur einmal die Selbstdarstellung6 ansehen: Das beginnt schon mit dem Eingangszitat von „Berthold (sic!) Brecht“: „Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten.“

Damit ist die Mission vorgegeben: Ein breiter Mainstream wolle die Wahrheit unterdrücken, und einige wenige Mutige haben sich vorgenommen, sie zu enthüllen. Pure Information soll hier verbreitet werden, jenseits von Interessen und Weltbild. Deshalb auch der Name Expressis-Verbis. „Ist es denn nicht die reine, vollständige und neutrale Information“, so die Selbstbeschreibung, „die es uns überhaupt erlauben kann, zwei oder gar mehrere Betrachtungsweisen miteinander zu vergleichen, sie dann aufgrund von eigenen Erfahrungen und Gedanken abzuwägen, um letztlich auf dieser Grundlage eigenständig zu entscheiden, was „das Richtige“ für uns ist? Wir glauben: JA!“

Was hat denn in den nun über 14 Monaten seit dem ersten Lockdown der Qualitätsjournalismus hier in Luxemburg getan? Geschlafen? Geschwiegen? Nachgeplappert? Unkritisch Pressemitteilungen abgedruckt? Von Anfang an hat sich die Regierung, und das ist gut und selbstverständlich so in einer Demokratie, den kritischen Fragen des Journalismus stellen müssen (und sie nicht immer beantwortet). Journalist*innen haben sich immer wieder beschwert über die Informationspolitik der Regierung. Journalist*innen haben auch die Sinnhaftigkeit vieler Maßnahmen in Frage gestellt. Wieso also sollte man eine Plattform wie Expressis-Verbis benötigen?

Im Interview mit Radio 100,7 hat Christianne Wickler, Pall-Center-Chefin, Cargolux-Präsidentin und Erfinderin von Expressis-Verbis, eine interessante Antwort parat. Auf Maurice Molitors Frage, ob sie Coronaskeptikerin oder -leugnerin oder gar Querdenkerin sei, sagte sie: „Ech si weder eng Querdenkerin nach eng Leegnerin. Ech hunn e Problem dermat, dass mir d’Mënschen an d’Angscht dreiwen. Ech weess, dass de Virus do ass. Ech maachen och alles fir mäin Immunsystem ze stäerken a mir ënnerstëtzten och jidderee bei eis am Betrib domat. Mä ech hu wierklech Misär domat, wann ech gesinn, wéi verzweiwelt dass d’Leit sinn, dass d’Leit gespléckt ginn, a wéi vill Angscht dobaussen ass. An dobäi si mir hei zu Lëtzebuerg extrem gutt opgestallt an net a Gefor, well onse Gesondheetssystem funktionéiert ganz gutt.“7 In den Augen Wicklers ist es also nicht das Virus, was Angst macht, sondern die Regierung und die Medien sind es, die alles dafür tun, die Bevölkerung in einem Zustand der Angst zu halten. Ihre Lösung: Immunsystem stärken, auch das der Mitarbeiter*innen, und sich freuen über unser gesundes Gesundheitssystem. Auf die Frage, warum so viele Beiträge auf ihrem Portal nicht mit Klarnamen gezeichnet sind, kann sie nur sagen: Ihre Autor*innen hätten Angst vor den Reaktionen. Nun, da ist es aber nicht weit her mit dem von Bertolt Brecht beschriebenen Mut. Und dabei, so Wickler weiter, sei alles, was die Leute bei Expressis-­Verbis wollen, angstfrei und selbstbestimmt zu leben. Warum sie und ihre Mitstreiter aber Angst vor der Regierung und den Medien säen, erklärt sich damit nicht. Eher sind auch die hier im Interview geäußerten Bedenken, Sorgen und Ängste Versatzstücke einer kruden Verschwörungstheorie, bei der es mächtige Kontrolleure und ausgebeutete Untertanen gibt und bei der die Medien nicht mehr aufklären, sondern verdunkeln. „Verschwörungstheorien lassen strukturell an seriösen Informationsquellen zweifeln. Alles ist schließlich Teil der Verschwörung“, definieren die Philosoph*innen Romy Jaster und David Lanius das Phänomen.8 Und so erlässt in den Augen von Wickler und ihren Freund*innen die Regierung Maßnahmen nicht zum Schutz der Bevölkerung, sondern zu ihrer Kontrolle. In dieser Sicht begleiten die Medien das Kontrollspektakel unkritisch, womit die Existenzberechtigung für eine Plattform wie Expressis-Verbis gegeben zu sein scheint.

Was tun?

Bei zwei Podiumsdiskussionen, die Ende April und Anfang Mai im Trifolion in Echternach stattfanden (siehe Kasten), wurden nicht nur die Gefahren von Fake News für die Demokratie und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen für den seriösen Journalismus diskutiert, es wurden auch Lösungsvorschläge benannt. Sicherlich lässt sich viel mit Aufklärung und einer soliden Medienbildung erreichen. Das fängt schon damit an, dass man die Quellen prüft, dass man die Autor*innen und ihre Interessen einordnet, lernt zu analysieren, gegen wen sich ein Autor positioniert oder welche hidden agenda eine Autorin verfolgt. So lange wie möglich sollte das Gespräch mit Menschen, die Fake News glauben, aufrechterhalten werden. Es steht außer Frage, dass man mit der Tante, die einem bei der Weihnachtsgans von einem interessanten Artikel auf Expressis-Verbis berichtet und hinterherschiebt, dass das Tageblatt und die uni.lu doch unter einer Decke mit der Regierung stecken, diskutieren sollte. Kontro­versität, so Anne Schaaf bei der ersten Debatte im Trifolion, müsse als Tugend betrachtet werden. Auch sollte man sich immer klar machen, so Karin Weyer und Judith Reicherzer am selben Abend, dass jeder – auch man selbst – Opfer von Fake News werden könne. Niemand ist gefeit davor. Vor allem, wenn eine Meldung das eigene Weltbild bestätigt. Wir alle kennen das, wie man sich freut über Nachrichten, die genau das bestätigen, was man immer schon gedacht hat. Solange wir uns jedoch noch darauf verständigen können, dass es eine Wahrheit gibt, ist die Grundlage für Debatte gegeben. 

Der Dialog gerät aber dann an Grenzen, wenn Menschen nicht Opfer von Fake News werden, sondern zu Tätern. Wenn sie Fake News erfinden oder verbreiten, obwohl sie wissen, dass es sich bei ihren Meldungen um Lügen handelt. Wenn das Ziel ihres Handelns die bewusste Desinformation ist. Wenn ihnen Wahrheit egal ist und es um knallharte Machtinteressen geht: Machtübernahme (siehe etwa Trump vor der Wahl zum US-Präsidenten) oder Machterhalt (siehe die PiS-Partei in Polen). Was kann man da noch tun? Aufklärung und Medienbildung werden scheitern, denn: Sie wissen ja, was sie tun. Der Journalismus, darüber wurde auf der zweiten Debatte im Trifolion gesprochen, kann und sollte die schlimmsten Auswüchse der internationalen Fake News benennen. Aber auch er stößt an Grenzen, vor allem wenn er, wie Petz Bartz betonte, seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen will: zu berichten, was ist, und nicht, was nicht ist. Was also tun gegen staatlich gelenkte Desinformationskampagnen, bei denen es um nicht weniger als eine Neuordnung der globalen Machtverhältnisse geht?

Man denke an Russland, das eine traurige Berühmtheit bei der Produktion von Fake News erlangt hat.9 Es ist bekannt, dass im Auftrag des Kreml eine Armada von Schreiber*innen damit beschäftigt ist, jeden Tag Fake News in alle Welt abzusenden, um den Westen zu schwächen:10 Fake News nämlich, die auf willige Helfer*innen treffen, auf Leute wie Ernst Wolff, den Herausgeber oder Drahtzieher (zur Erinnerung: ein Impressum gibt es nicht) von Transparency for a Greater Future, Fake News, die in Deutschland Unterstützung bei der AfD, aber auch bei der Linkspartei finden, die mittlerweile nicht mehr nur für einen Austritt Deutschlands aus der NATO plädiert, nun aber auch noch ein europäisches Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands vorschlägt. Alle, die Russlands Desinformationskrieg ignorieren oder glauben, es sei eine gute Idee, mit Putin Geschäfte zu machen oder Öl-Pipelines zu bauen, machen sich mitschuldig an den gesellschaftlichen Spaltungen, die zunehmend unüberbrückbar werden. Im Falle Russlands und in anderen geopolitisch motivierten Lügenfabrikationen ist der Kampf dagegen nicht mehr Aufgabe der Medienbildung oder des Journalismus. Gegen solche Desinformation helfen auch keine kalten Umschläge und keine Pillen, nicht einmal – Herr Wolff wird sich freuen – eine Impfung. Hier sind die Nachrichtendienste gefragt, die sich statt um die Daten unbescholtener Bürger*innen lieber einmal um diejenigen kümmern sollten, die über gezielte Kampagnen versuchen, rechtsstaatliche Demokratien zu zerstören.

  1. Siehe Petra Stober, „Der Boden, auf den QAnon fällt“, in: forum 412 (Dezember 2020), S. 16-20.
  2. https://tinyurl.com/y26sfdaz (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 28. Mai 2021 aufgerufen).
  3. https://www.expressis-verbis.lu/impressum/
  4. https://tinyurl.com/4h8hu8fs
  5. https://www.expressis-verbis.lu/2020/12/28/masken/
  6. https://www.expressis-verbis.lu/uber-uns/
  7. https://www.100komma7.lu/article/aktualiteit/ma-dat-do-dat-lait-mer
  8. Romy Jaster/David Lanius, Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart, Reclam, 2019, S. 60.
  9. Siehe etwa https://tinyurl.com/ea55fv8w.
  10. https://www.nytimes.com/2018/02/18/world/europe/russia-troll-factory.html

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