Das Auto und wir – ist das Liebe?

Eine werbepsychologische Analyse unserer schwierigen Beziehung zum Automobil

Wer sich in Luxemburg-Stadt auf eine Mauer an einer belebten Fahrbahn setzt, der hat die Möglichkeit, eine Version der Floskel „Das Geld liegt auf der Straße“ zu bewundern: Automobile im Wert eines Einfamilienhäuschens vermischen sich hier mit unzähligen anderen, deren Wert das Jahreseinkommen der Mehrzahl unserer Mitbewohner bei Weitem übersteigt. Wer sich die Zeit dazu nimmt, kann diese Parade bewundern und sich fragen: Haben Menschen in Luxemburg eine besonders große Liebe zum Auto? Die forum-Redaktion jedenfalls hat uns genau diese Frage gestellt. Wir wollen allerdings im Folgenden zeigen, dass dieser Fragestellung ein Kardinalfehler zugrunde liegt. Zunächst aber müssen wir historisch zu den Anfangstagen des individualisierten, motorisierten Verkehrs zurückgehen.

Wie alles begann

Als die Autos und Lastwagen die Straßen der Städte eroberten, führte dies zu einer Destabilisierung des sozialen Raums. Zuvor wurde die Straße gemeinsam von Fußgängern, Flaneuren, Reitern, Kutschen, Straßenbahnen und auch spielenden Kindern genutzt – der öffentliche Raum erfüllte seinen sozialen Zweck, war Verkehrsader und Treffpunkt. Als die ersten Automobile in dieses Universum eindrangen, stieg die Zahl der Verkehrstoten sprunghaft an. Die Automobilindustrie stand vor der großen Herausforderung, Städter davon zu überzeugen, ein Automobil zu erwerben und zu nutzen. Viele Bürger wie auch die Polizei, die Justiz und die Medien sahen in den neuen Fahrzeugen jedoch eine große Gefahr und einen Störfaktor der öffentlichen Ordnung, einen Zerstörer des Gemeinwohls. 1923 starben in den Vereinigten Staaten rund 16.000 Menschen durch Autounfälle1, und dieser Blutzoll schien den Siegeszug des Automobils zu stoppen. Überall formten trauernde Mütter lokale Sicherheitsräte, große Paraden wurden für von Fahrzeugen getötete Kinder organisiert, Unfallverursacher von wütenden Menschen angegangen. Die Wut der Menschen auf das Automobil war allgegenwärtig. Fast alle waren sich einig, dass dieses rurale Verkehrsmittel in einer Stadt nichts zu suchen hatte. Das ist nun genau 100 Jahre her. Wie konnte es dazu kommen, dass wir heute denken, uns würde eine Liebe mit einem zwei Tonnen schweren Ungetüm verbinden?

Neuinterpretation der Wirklichkeit

Als die Automobilindustrie bemerkte, dass der Widerstand gegen das Auto zu groß wurde, musste sie einige Anpassungen vornehmen. Straßenbahnen, bei Städtern sehr beliebt, wurden als Verkehrshindernisse angesehen und auch so dargestellt. In den Vereinigten Staaten waren Straßenbahnen private Unternehmen. Diese wurden nach und nach von der finanzstarken Automobilindustrie aufgekauft und aufgelöst. Vor allem kümmerte man sich um das Image des Autos.

Bis in die 1920er Jahre hinein wurde das Automobil als Spaßmobil vermarktet. Angesichts der zahlreichen Verkehrstoten war dieses Bild aber eher ungeeignet, um den Markt zu erweitern.2 Die Automobilindustrie begann, ihr Produkt mit derselben Teflon-Beschichtung zu versehen, die der liberale Markt für alle Produkte, die dem Gemeinwohl und der Umwelt schaden, bereithält: Freiheit! Der Besitz und die Nutzung eines Automobils wurden als persönliche, politische und marktpolitische Freiheit dargestellt. Durch diesen Wechsel von Luxus und Spaß zu Freiheit konnten alle schwierigen Fragen zu Gerechtigkeit, öffentlicher Ordnung und Effizienz umgangen werden. Denn: Freiheit, die will niemand einschränken. Dieser Wandel war ein sehr wichtiger Schritt zur dominierenden Wirklichkeitsinterpretation in Bezug auf das Auto.3

Den Opfern eine Mitschuld geben

Das bis in die 1920er vorherrschende Bild war das von den vielen Unschuldigen, die ihr Leben aufgrund der Raserei einzelner Autofahrer verloren. Diese Verantwortung musste die Autoindustrie von sich weisen. Fußgänger mussten eine Mitschuld an den Unfällen tragen. Zu diesem Zweck erfand die Autoindustrie den Begriff jaywalker, den unachtsamen Fußgänger, und machte so über Nacht aus respektablen Bürgern, die zu Fuß unterwegs waren, Regelbrecher. Große, nationale Kampagnen wurden gestartet, um Fußgängern beizubringen, sich nicht auf die Fahrbahn zu begeben. Der öffentliche Raum wurde so durch schiere Gewalt, also durch PS-starke Fahrzeuge und eigentlich haltlose Bevormundung, neu aufgeteilt. Es wurden Schulungsmaßnahmen für Kinder eingeführt, bei denen sie lernten, sich von der Straße fernzuhalten. Die von besorgten Eltern gegründeten lokalen Sicherheitsräte wurden unterwandert und zu regionalen und nationalen Räten und Automobilclubs um- und ausgebaut. Die Automobilindustrie konnte sich so nach und nach selber regulieren. Diese wachsende nationale Organisation, die durch erhöhte Autoverkäufe die finanzielle Macht der Unternehmen steigerte, und die damit einhergehende Anpassung des politischen Klimas vereinfachten den Paradigmenwechsel.

Jedweder Widerstand wurde fortan als ewiggestrig dargestellt – als altmodisch, fortschritts- und freiheitsfeindlich. Verkehrstote waren der Kollateralschaden einer autoproklamierten Notwendigkeit. Die Autoindustrie entwarf Zukunftsszenarien und präsentierte „Autostädte“, in denen ohne das Automobil nichts mehr ging. Achtspurige Fahrbahnen und riesige Kreuzungen durchzogen fortan die Zwischenräume der Wolkenkratzer. In den 1930er Jahren war der Übergang zur neuen Welt fast komplett umgesetzt. Kinder, die in den 1920er Jahren beigebracht bekamen, wo ihr Platz im öffentlichen Raum war, nämlich auf dem Gehsteig, wurden zu jungen Erwachsenen. Diese wünschten sich natürlich, denn so war die neue Realität, nichts sehnlicher als ein Automobil, um sich endlich frei im stetig wachsenden Straßennetz zu bewegen. Derweil ist die Automobilindustrie zu dem einflussreichsten Industriezweig der Welt geworden. Unter den zehn größten Firmen der Welt befinden sich drei petrochemische Unternehmen und zwei Autohersteller.4 Selbstverständlich vertreten diese Firmen ihre Interessen, nehmen massiv politischen Einfluss und verteidigen ihr Geschäftsmodell. Daran besteht kein Zweifel.

Mythos Freiheit

Der aufgeklärte Bürger aber lässt sich heute, 100 Jahre nach der Eroberung des Straßenraums durch die Autos, nicht mehr blenden, oder? Wir kennen den enormen Umweltschaden, der durch thermische Motoren verursacht wird, den Feinstaub, das Mikroplastik, den Lärm und die Luftverschmutzung, an der alleine in Europa jährlich 450.000 Menschen frühzeitig sterben. Aus diesen Gründen verzichtet eine Mehrheit auf das Auto, und wenn es sich doch nicht vermeiden lässt, dann kaufen die Wenigen, die darauf angewiesen sind, nur die kleinsten Maschinen, mit den sparsamsten Motoren und bilden Fahrgemeinschaften, um den ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich zu halten. Schön wär’s! So ist es nicht.

Aber wie ist das möglich? Liegt es etwa an einer tiefen, warmen Liebe zum Automobil? Und wenn ja, woher soll diese kommen? Für die absolute Mehrheit ist das tägliche Autofahren eine Belastung, eine lästige Routine. Klar, manchmal macht es Spaß, aber meistens wäre man gerne schon angekommen oder eben nicht mehr im stockenden Verkehr oder Stau. Im Alltag ist das Automobil längst nicht so effizient, wie es uns die Stadtplaner in den 1960er Jahren eingeredet haben, und es ist bei weitem nicht so befreiend, wie es uns die Werbeleute seit Jahrzehnten vorgaukeln.

Sollten Sie einer jener Mitmenschen sein, die nicht an die Wirkung von Werbung glauben, so erlauben Sie uns diesen einen Satz: In Unternehmen, die auf Wachstum und schwarze Quartalszahlen angewiesen sind, wird kein Euro an einer Stelle verschwendet, an der nicht ein Vielfaches des investierten Geldes wieder in der Firmenkasse landet. Und die Automobilindustrie ist die größte Werbemacht der Welt. Wenn wir uns die Zahlen für Deutschland im Jahr 2014 ansehen, so werden die sechs größten Werbeetats von sechs Autofirmen5 mit einem Gesamtbudget von 1.027 Millionen Euro gestellt. In Frankreich waren unter den Top 4-Werbebudgets des Landes drei Autohersteller.6 Woran liegt das?

Es gilt, einen Mythos aufrecht zu erhalten: den des Autos als Garant der Freiheit. Heute setzt die Branche auf eine Mischung aus Nachhaltigkeit, Geschwindigkeit und Sicherheit als Hauptbotschaft. Und das aus gutem Grund: Es ist eine Reaktion auf das oben genannte Allgemeinwissen um die Schädlichkeit des Produktes. Der Automobilindustrie bleibt gar nichts anderes übrig als Milliarden in Werbung zu stecken, um bei dem größtmöglichen Anteil der Bevölkerung diese Bedenken mit schönen Bildern, fetziger Musik und an wunderschönen Stränden auf leeren Straßen dahingleitenden Autos zu übertünchen. Diese Werbemilliarden in Kombination mit der Wirkung, die der allgegenwärtige Automobilsport auf unsere niedersten Instinkte ausübt, ergibt ein Geflecht aus Begeisterung, willfähriger Gutgläubigkeit und schamloser Bereitschaft, uns selbst zu belügen. Immerhin sind wir umgeben von Fahrzeugen, wurden als Kinder bereits herumkutschiert, erhalten positives Feedback unserer Freunde und Bekannten beim Kauf eines neuen Modells und können damit auch gleich unseren Statusanspruch im gesellschaftlichen Gefüge untermauern. Aber ist das Liebe?

Der Sieger schreibt die Geschichte

Wie Peter D. Norton in seinem Buch Fighting Traffic von 2011 anmerkt, leben wir in einer Zeit, deren Realitätserzählung von den Siegern des Kampfes erzählt wird, der vor 100 Jahren ausgetragen wurde. Es ist der Autoindustrie gelungen, ihre Vision der Zukunft durchzusetzen. Ihren Sieg im Kampf um die Deutung des Autos stellt sie als eine „natürliche technologische Selektion“ dar, als ein Überleben des Stärkeren. Das einzige Mittel, um eine solche Verfälschung der Realität zu hinterfragen, besteht darin, an den Anfang der Problemstellung zurückzugehen. Dann sehen wir, dass der Siegeszug des Autos durch die Infragestellung des öffentlichen Raumes durch einen Neuankömmling hervorgerufen wurde, der anfangs nur auf wenig Gegenliebe stieß. Durch geschickte Propaganda aber gelang es der Autoindustrie, uns die absolute Notwendigkeit ihrer Produkte einzutrichtern.

Hier können wir wieder auf den eingangs erwähnten Kardinalfehler aufmerksam machen. Reden wir von der Liebe zum Automobil, so spielen wir unbewusst das Spiel der Autoindustrie mit, indem wir dieses Klischee immer weiterverbreiten. Dabei ist die Rede von der Liebe zum Auto keine, die natürlich entstanden wäre. Auch sie wurde erschaffen, wurde durch Werbemaßnahmen kolportiert und einer Nachkriegs-Generation ins Ohr geflüstert, die die Sprüche und Werbesätze wohlwollend aufnahm. Diese Generation sah Werbung selten kritisch, und viele Firmen nutzten dies aus, um für ihre Produkte beliebte Charaktere zu erschaffen, die allabendlich in die Wohnzimmer kamen, um dort auf dem Fernsehschirm das moderne Leben anzupreisen: Wäsche war weißer als weiß, Finger glitten fast erotisch durch Spülmittel, Zigaretten wurden als gesund beschrieben. Aus genau dieser Zeit stammt auch der Spruch der „Liebe zum Automobil“, und er kam, wie so vieles, aus den USA.

Verscheuklappung der Massen

Wir haben uns beim Schreiben dieses Beitrages die Frage gestellt, ob die Luxemburger im Vergleich mit anderen Nationen eine besonders große Liebe zum Auto hegen. Die Anzahl an PKWs pro Einwohner (siehe die Infografik in diesem Heft) legt diese Vermutung nah. Dass innerhalb der EU den Luxemburgern der höchste Pro-Kopf-Besitz an Autos zuzurechnen ist, mag daran liegen, dass im Großherzogtum die Kaufkraft besonders hoch ist. Allein aus diesem Grund ist es in Luxemburg einfacher, den Käufern immer wieder neue Autos schmackhaft zu machen und sie ihnen dank einer werbetechnisch großartig umgesetzten „Verscheuklappung der Massen“ zu verkaufen.

Indes, wir haben aufgezeigt, dass die Frage nach der Liebe zum Auto an sich problematisch ist, weil sie auf der falschen Annahme fußt, dass das Auto auf eine „natürliche Art und Weise“ spezifische psychologische Bedürfnisse des Menschen erfüllt. Die Autoindustrie aber hat uns über Jahrzehnte – mit recht großem Aufwand – eingeredet, dass der Besitz eines Automobils es uns erlaubt, uns effizient von A nach B zu bewegen, uns dabei sicher zu fühlen, die Kontrolle zu haben, beliebt und populär zu sein und dazuzugehören, je nach Lebensabschnitt zu den Erwachsenen, zu den Reichen, zu den Coolen. Das einzige psychologische Bedürfnis, welches das Fahren eines Autos von Anfang an scheinbar von selbst zu erfüllen vermochte, war der Spaß an der Beschleunigung. Wer allerdings glaubt, dies würde uns dabei helfen, uns selbst zu verwirklichen, der ist schon zu lange nicht mehr bewusst Fahrrad gefahren.

  1. National Safety Council, „Public Accidents: America Leading the World in Accidental Deaths“, in: Journal of American Insurance, 1 (1924), p. 23.
  2. „Der Wechsel des Begriffes erfolgte schrittweise in den 1920ern. 1922 bemerkte ein Washington Autoverkäufer, dass der Begriff pleasure car den Fortschritt der Industrie behinderte. Er plädierte dafür, das Auto als eine Notwendigkeit, und nicht weiter als einen Luxus darzustellen.“ R.H. Harper, „Auto Overcomes Expensive Toy Idea“ in: Washington Post vom 3. Dezember 1922.
  3. Peter D. Norton, Fighting Traffic – The Dawn of the Motor Age in the American City, Cambridge, MIT Press, 2008.
  4. Platz 2 China Petroleum & Chemical Corp.; Platz 4 PetroChina Co. Ltd.; Platz 7 Royal Dutch Shell PLC; Platz 9 Toyota Motor Corp.; Platz 10 Volkswagen AG.
  5. VW (292,7 Millionen), Daimler (179,9 Millionen), Ford (147 Millionen), BMW (143,7 Millionen), Audi (140 Millionen) und Opel (124 Millionen).
  6. Renault (412,1 Millionen), Peugeot (343,7 Millionen), Citroën (319,1 Millionen).

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