In Luxemburg ist so gut wie jede*r auf ein Auto angewiesen. Das ist keine naturgegebene Tatsache, sondern das Resultat jahrzehntelanger raumplanerischer Fehlentscheidungen.

„Aber ich kann nicht auf mein Auto verzichten, da wo ich wohne, brauche ich es.“ Dieser oder ähnliche Sätze fallen sehr häufig, wenn man sich mit Menschen in Luxemburg über Mobilität unterhält. Die Frage, ob diese persönliche Einschätzung im Einzelnen einer objektiven Überprüfung wirklich standhält, ist zwar interessant, aber nicht das grundsätzliche Problem. Dass Luxemburg das Land mit dem höchsten Motorisierungsgrad Europas1 (676 Autos auf 1.000 Einwohner*innen) ist, lässt sich nicht dadurch erklären, dass einige Menschen noch nicht herausgefunden haben, dass sie mit dem Bus nur fünf Minuten länger zur Arbeit bräuchten und nicht einmal selbst fahren müssten. Ein springender Punkt ist die Landes- und Raumplanung Luxemburgs, die dazu geführt hat, dass ein Leben ohne PKW nur noch für die wenigsten Bewohner*innen des Landes überhaupt denkbar ist.

Natürlich gibt es ökonomische und soziologische Faktoren, die den anhaltenden Siegeszug des motorisierten Individualverkehrs teilweise erklären, aber sicher niemals ganz. Spätestens mit dem kostenlosen öffentlichen Transport können es nicht mehr die billigen Spritpreise sein, die zu den alltäglichen Blechlawinen auf den Straßen des Landes führen. Das Problem mit raumplanerischen Fehlentscheidungen ist, dass sie oft so wirken, als wären sie nicht mehr rückgängig zu machen – und tatsächlich sind die Effekte oft jahrzehntelang zu spüren. Änderungen sind oft nur schwer und durch schmerzhafte Prozesse durchzusetzen. In Luxemburg ist es vor allem die Trennung der Funktionen und die fehlende Dichte, aber auch die Zentralisierung, die den Autoverkehr für viele unabdinglich machen.

Der PKW als Normalfall

Das Automobil ist in Anbetracht des Alters unserer Städte eine recht neuartige Erfindung, genauso wie die meisten schnellen Transportmittel. Mit der Industrialisierung und dem Bau von Eisenbahnstrecken wurde es erstmals möglich, innerhalb relativ kurzer Zeit größere Entfernungen zurückzulegen. Mit dem Aufkommen des PKWs als Massenverkehrsmittel in der Nachkriegszeit wurde es möglich, längere Strecken zurückzulegen, um arbeiten und einkaufen zu können. Diese Entwicklung hat nie aufgehört, der Autobestand wuchs genauso wie die Autobahnkilometer und Umgehungsstraßen stetig. 2020, in der Pandemie, ist ihre Spitze mehr als sichtbar: Im Sommer wurden Konzerte und Filmvorführungen für parkendene Autos veranstaltet, die Testzentren für das Large Scale Testing funktionieren allesamt als Drive-in. Erfahrungsberichte von mutigen Fahrradfahrer*innen und Nutzer*innen des öffentlichen Transports in den sozialen Netzwerken belegen, dass die Mitarbeiter*innen der Testzentren von der Aussage, man habe überhaupt keinen PKW, wohl etwas überfordert waren.

Ein Blick in die luxemburgischen Fahrzeugstatistiken belegt die historische Entwicklung exemplarisch: Zwischen 1960 und 1970 hat sich die Anzahl der privaten PKWs verdoppelt.2 Mit dem wachsenden Fuhrpark hat sich auch die Art und Weise, wie wir unseren Alltag gestalten, erheblich verändert. Die Raumplanung geht gemeinhin von den sogenannten Daseinsgrundfunktionen aus, die Menschen gerne erfüllen würden. Dazu gehört natürlich Wohnen, aber auch Arbeiten, Versorgung und Freizeitaktivitäten. Mit dem Siegeszug der individuellen motorisierten Mobilität war es auf einmal möglich, all diese Aktivitäten zu entflechten und räumlich voneinander zu trennen. Es ist sicher kein Zufall, dass das erste Einkaufszentrum in Luxemburg 1974 eröffnet wurde – zu einer Zeit, in der die unmittelbare Nähe zu einem Geschäft nicht mehr das wichtigste Kriterium war, um dieses zu besuchen.

Ideen für die neue Stadt

Der Shoppingtempel auf der „grünen Wiese“ ist ebenso ein Zeichen für PKW-zentrierte Raumplanungspolitik wie das Modell der „autogerechten Stadt“, das 1959 vom deutschen Architekten Hans Bernhard Reichow propagiert wurde. Die Grundlagen für die Idee der räumlichen Trennung verschiedener Funk­tionen stammt aus der Charta von Athen, die bereits 1933 auf dem 4. Kongress der Congrès internationaux d’architecture moderne (CIAM) unterzeichnet wurde. Eine gänzlich funktionale Trennung wurde damals jedoch nicht von Le Corbusier und seinen Kolleg*innen vorgeschlagen, auch wenn dies später oft so verstanden wurde. Vor allem forderten sie, Städte nicht endlos zu verdichten und wachsen zu lassen, um den Stadtbewohner*innen Zugang zur Natur und Erholung zu gewährleisten.

Obwohl es bereits Ende des 19. Jahrhunderts Konzepte wie das der Garden City gab, lässt sich die moderne Idee, das Wohnen in Trabantenstädte auszulagern, auf die Charta von Athen zurückzuführen. Damals waren damit Wohntürme mit hoher Dichte gemeint, die je nach Konzeption durchaus eine sehr hohe Lebensqualität für ihre Bewohner*innen schaffen können. Ein gelungenes und international anerkanntes Beispiel ist der Wohnpark Alterlaa in Wien, der als Stadt in der Stadt bezeichnet wird und neben Wohnungen viele Freizeitbeschäftigungen wie Schwimmbäder oder Indoor-Spielplätze bietet.

In Luxemburg wurden solche Experimente gar nicht erst versucht. Vielmehr wurde hierzulande versucht, den American Dream im kleineren Maßstab nachzubauen. Ein freistehendes Einfamilienhaus, von allen vier Seiten von Rasen umgeben – natürlich mit einer Garage für das Auto – wurde zum erstrebenswerten Goldstandard. Heutzutage werden in diesen Siedlungen auch Mehrfamilienhäuser gebaut, die jedoch selten städtischen Charakter haben. Warum sich diese Siedlungen oft Cité nennen, obwohl sie mit einer Stadt wenig gemein haben, wäre sicher ein interessantes Thema für sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Die Bewohner*innen dieser Suburbs sind tatsächlich oft auf ihr Auto angewiesen, denn nicht nur ihr Arbeitsplatz ist weit entfernt: Geschäfte, medizinische Versorgung, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sind zwar im Idealfall nur wenige Autominuten entfernt, für Fußgänger*innen oder gar Radfahrer*innen sind sie jedoch oft unerreichbar.

Das fragmentierte Land

Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten, sondern selbstverständlich auch auf die Umwelt. Abgesehen davon, dass wir mit der täglichen Fahrt zum Cactus eine weltweite Klimakatastrophe befeuern, zerstören wir die Lebensräume der heimischen Fauna und Flora. Neben den meisten PKWs pro Kopf hält Luxemburg auch den traurigen Europarekord, das am meisten fragmentierte Land des Kontinents zu sein. Das heißt, dass Lebensräume für Tiere und Pflanzen oft sehr klein und vor allem nicht miteinander verbunden sind. Und es sind vor allem Straßen, die das Land zerschneiden. Krötentunnel und Wildbrücken können natürlich helfen, dieses Problem zu minimieren, aber in Wirklichkeit ist es der urban sprawl, der es erst schafft. So hat zwar jede*r ein Häuschen im Grünen, das Grün wird jedoch zunehmend steril und kann ohnehin nur noch vom Auto aus betrachtet werden.

Besonders betroffen von diesem Phänomen sind die Gemeinden rund um Luxemburg-Stadt, was natürlich mit der zentralen Rolle der Hauptstadt zu tun hat. Seit dem Bau der Uni in Esch-­Belval scheint sich zumindest die Minette-Region als zweiter Entwicklungspol des Landes herauszuschälen, allerdings ist die Südregion bereits dichter besiedelt als viele Gemeinden des Zentrums. Sollte das Nordstad-Projekt nach Jahrzehnten der Gespräche demnächst endlich richtig Fahrt aufnehmen, könnte hier mit viel gutem Willen und noch besserer Planung tatsächlich ein urbanes Zentrum entstehen. Ein Blick auf die Landkarte verrät jedoch, dass über Ettelbrück noch ziemlich viel Luxemburg ist: Auch im Ösling wären innovative raumplanerische Konzepte willkommen.

Verdichtung

In einem Mitte November erschienenen Bericht über die luxemburgische Umweltpolitik bemängelte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Fragmentierung der Lebensräume und schlug vor, die urbanen Gebiete dichter zu bebauen. Luxemburg liegt mit einer Bevölkerungsdichte von 237 Personen pro Quadrat­kilometer zwar auf 39. Stelle im weltweiten Vergleich, allerdings stellt sich die Frage, inwiefern solche Ländervergleiche Sinn ergeben. 70 der 102 Gemeinden liegen nämlich unter dem Durchschnitt, mit knapp 36 Einwohner*innen pro Quadratkilometer liegt die Gemeinde Kiischpelt am unteren Ende dieser Skala. Die am dichtesten besiedelte Gemeinde Luxemburgs ist nicht die Hauptstadt – die kommt nur auf den zweiten Platz –, sondern Esch-sur-Alzette.3

Eine dichte Bauweise muss nicht heißen, dass es kein Grün gibt: Parks und andere Grünanlagen gehören selbstverständlich in eine lebenswerte Stadt. Die Vorteile für die Umwelt sind ebenfalls nicht von der Hand zu weisen: Mehrfamilienhäuser sind wesentlich energieeffizienter als freistehende Einfamilienhäuser. Zudem sind die Kosten für die Allgemeinheit natürlich geringer, da Strom-, Gas- und Wasserleitungen kürzer sind. Außerdem ist es leichter, den öffentlichen Verkehr zu organisieren und Skaleneffekte auszunutzen.

Es ist jedoch nicht die Dichte alleine, die Abhilfe von der autozentrierten Lebensweise schaffen kann. Urbanität zeichnet sich auch durch eine Mischung der Funktionen aus: Wohnen, Arbeiten, Versorgung und Freizeit sind im Idealfall alle fußläufig oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Wollte eine Gemeinde hier ansetzen, könnte sie in ihren Bebauungsplänen keine reinen Wohnzonen mehr ausweisen und Arbeiten, Wohnen und Freizeit tatsächlich miteinander verknüpfen. Die urbane Funktionsmischung wird zwar immer wieder von Luxemburger Politiker*innen in den Mund genommen, allerdings sind damit dann Projekte wie das Neubaugebiet im Ban de Gasperich gemeint. Auch wenn dort nebeneinander gearbeitet, gewohnt und eingekauft wird, so stellt das neue Viertel jedoch nur die Weiterführung der autogerechten Stadt dar. Bei einem Einkaufszentrum mit 2.850 Stellplätzen ist das kein Wunder – die potenziellen Kund*innen sollen schließlich aus der ganzen Großregion mit dem Auto angerollt kommen.

Neue Impulse sind gefragt

Kann die Politik Luxemburgs Autoproblem lösen? Wenn sie nicht gerade vorhat, Autos generell zu verbieten, lässt sich das logischerweise nicht mit einer einzigen großen Geste bewerkstelligen. Die Krise des Wohnungsmarktes, die Mobilitätsprobleme, die Klimakrise, der Verlust der Biodiversität, die sozialen Spaltungen – all diese Fragen hängen zusammen. Verdichtete Bauweisen und Urbanität sind allerdings auch keine Zauberstäbe, mit denen sich alle Probleme lösen lassen. Jene Gemeinden, die tatsächlich schon Städte sind, können versuchen, nachzuverdichten: Baulücken schließen, die zulässige Geschosshöhe erhöhen – was allerdings die Wohnungspreise in die Höhe treiben kann –, keine reinen Wohngebiete mehr ausweisen. Aber wie wird aus einer Cité eine Stadt? Das sind offene Fragen, für die innovative Lösungen gefunden werden müssen.

Außerdem entsteht auch in urbanen Räumen die sogenannte „sanfte Mobilität“ nicht von alleine: Aktuell gewinnt das Auto bei der Aufteilung des öffentlichen Raums beinahe überall. Nicht nur Fahrstreifen, sondern auch Stellplätze gleich daneben prägen die Ortsbilder. Das muss nicht so sein, wie sehr viele Beispiele aus Städten in anderen Ländern zeigen. Viel braucht es dafür nicht: Der Fuß- und Radverkehr braucht Platz und baulich getrennte Infrastrukturen, die Autos müssen zurückgedrängt werden. In Luxemburg-­Stadt werden solche Ideen mit der Aussage, man sei halt eine Festungsstadt, abgewehrt. Dadurch, dass die Tram im Dezember bis zum Hauptbahnhof fährt, wird die Mobilitätswende vielleicht auch in einigen Köpfen mehr Raum einnehmen. Bis dahin kann man nur hoffen, dass bald neue Impulse in die luxemburgische Raumplanung kommen.

  1. https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/DDN-20200611-2 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 25. November 2020 aufgerufen).
  2. https://tinyurl.com/y4m2bv4e
  3. https://tinyurl.com/y5a8oswd

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