- Kultur, Politik
Das größte Nichts in der Geschichte
Eine Replik
In forum 411 erörterte Henning Marmulla die Frage, ab wann man in öffentlichen Debatten von Cancel Culture sprechen sollte. Richtung22 kritisierte den Beitrag in forum 412 mit einer Replik. In dieser Ausgabe nimmt der Politologe Michel Dormal Stellung und weitet den Dialog zur Debatte aus, die uns auch in den kommenden Ausgaben beschäftigen wird.
No you kant! In forum 412 schreibt das Kollektiv Richtung22: „Es ist gut, sich von Gefühlen leiten zu lassen“.1 Das dürfte sich gegen Henning Marmullas Forderung richten, in der öffentlichen Auseinandersetzung habe „das Gefühl nichts verloren“.2 Die Emotionen in die Schmuddelecke zu verbannen, hat eine lange, aber zweifelhafte Tradition. Die Vernunft, so Platon, müsse über die Leidenschaften herrschen wie der König über die unsteten Untertanen. Kant, in dessen Fahrwasser moderne Diskurstheorien navigieren, grenzte den kategorischen Imperativ streng gegen die bloße „Neigung“ ab. Dieser Dualismus, meinen Kritiker, spiegele die Arroganz des weißen Mannes, der sich über gefühlige Frauen und animalische Schwarze erheben wolle.3 Dem, wie echte Menschen sich in der politischen Welt orientieren, wird die Abwertung des Gefühls jedenfalls kaum gerecht. Drückte Willy Brandts Kniefall in Warschau nicht Gefühle aus? Sind Greta Thunbergs emotionale Auftritte nicht auch eine Art, an die Urteilskraft zu appellieren?
Soll also niemand mehr seine Anliegen in einer für andere nachvollziehbaren Weise vorbringen? Das nicht, aber es gibt auch emotionale Weisen des Nachvollzugs. In seiner Theory of moral sentiments sah Adam Smith in der Fähigkeit, sich situativ Affekte von anderen vorzustellen, die Grundlage aller Ethik. Auch die Philosophin Martha C. Nussbaum sieht Gefühle als „intelligente Formen einer wertenden Wahrnehmung“.4 Sie signalisieren uns, wenn in der Welt etwas nicht stimmt. Droht damit ein Kampf aller gegen alle im Namen des Bauchgefühls? Nein, Emotionen liefern keine absoluten Begründungen, so wenig wie Religion oder Wissenschaft. Das kleinliche Ausschau-Halten nach Gelegenheiten, zornig zu sein, hält auch Nussbaum daher für fragwürdig.5 Es stehe einem vertrauensvollen zukünftigen Zusammenleben eher im Weg. Dem stellt sie die Großzügigkeit gegenüber, die sie durch Martin Luther King oder Nelson Mandela verkörpert sieht. Man kann also an Henning Marmullas Argumentation das kantische Erbe ablehnen, aber trotzdem seine Schlussfolgerung teilen, dass fehlende Toleranz und Verständigungsbereitschaft schlecht sind.
Überall Strukturen!
Nun gibt es durchaus eine Ausprägung von Cancel Culture, bei der mit Vorliebe Karikaturisten umgebracht werden, weil sie die „Gefühle von Millionen Muslimen“ (Erdogan) verletzt hätten. Aber derart primitiv wollen die meisten fortschrittlichen Freunde des öffentlichen Abkanzelns dann doch nicht sein. Nicht um Gefühle gehe es, sondern um Machtstrukturen. Sie nutzen daher lieber ein unpersönliches Vokabular. Auch Richtung22 schreibt, es gehe um das „System Rassismus und das System Sexismus“. Das Argument geht so: Es gibt Machtmechanismen, die vorstrukturieren, wer überhaupt gesehen und gehört wird. Diese müssen wir skandalisieren und ihrer Selbstverständlichkeit entkleiden. Was Cancel Culture genannt wird, ist daher vielmehr „Teil des gesellschaftlichen Fortschritts“.6 Ein Diskurs von Gleich zu Gleich bleibe dagegen Lüge. Zumindest bis durch eine schmerzhafte „Wurzelbehandlung“ (Richtung22) alle Privilegien beseitigt wurden, gilt frei nach Carl Schmitt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“. Die Pointe ist klar. Sie ist aber politisch fragwürdig. Das zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit der Geschichte progressiver Bewegungen.
Ein erster Einwand, der hier mehr behauptet als belegt werden kann, betrifft die Ubiquität von Begriffen wie Struktur und System. Was Henning Marmulla als fehlende „Neugier auf die Position des Anderen“ beklagt, hat in meinen Augen oft mit einer strukturalistischen Engführung zu tun. Der Andere wird nicht als Person, sondern als soziale Position betrachtet. Auch wo von Reflexionsfähigkeit die Rede ist, auf die man zähle, ist tatsächlich gut platonisch nur die Einsicht in die wahre Struktur der Welt gemeint – nicht eine Fähigkeit, mit Kontingenz umzugehen. Der Marxismus hat es vorgemacht: Indem Politik auf Klassenkämpfe reduziert wurde, ging es am Ende nicht mehr um ein Handeln zwischen Personen, sondern um die richtige Erkenntnis der Klassenstruktur. Über diese schlug man sich dann die Köpfe ein. Nun will ich nicht bezweifeln, dass es Strukturen gibt. Manche sind schützenswert, andere weniger. Um über diese Fragen eine politische Auseinandersetzung zu führen, müssen wir jedoch pragmatisch unterstellen können, dass weder die debattierenden Personen selbst noch die Ordnung ihres Diskurses in diesen Strukturen völlig aufgehen. Nur dann können wir wechselseitig an unsere Urteilskraft appellieren.
Beichte und Avantgarde
Was Cancel Culture genannt wird, läuft zweitens auf eine zweifelhafte Avantgarde-Konzeption hinaus. Man selbst durchschaut das System, die anderen nicht. Man selbst kennt die Marschrichtung, jetzt muss man sie den anderen aufzeigen. Das ostentative Bekenntnis, man sei selbst nur ein armer Sünder und müsse stets auch seine eigenen Privilegien hinterfragen, ändert daran nichts. „Wir müssen die Selbstzufriedenheit niederhalten und beständig an unseren eigenen Mängeln Kritik üben, ebenso wie wir, um immer sauber zu sein […] täglich unser Gesicht waschen“, heißt es schon in der Mao-Bibel (Kap. 27). Das Bußritual stabilisiert wie in der Kirche den größeren Anspruch. Gerade die Schonungslosigkeit der Selbstkritik verleiht die Legitimation, die anderen zu führen.
Worauf basiert dieses Privileg? Die Marxisten sagten: auf Wissenschaft und der historischen Stellung des Proletariats. Heute lernt man einerseits im Uni-Seminar, die unsichtbaren Mechanismen der Macht routiniert zu durchschauen. Andererseits sollen die Betroffenen die Deutungshoheit haben. Letzteres wird schnell kompliziert. Was machen wir daraus, dass die weiße Kolonialmacht im 19. Jahrhundert in Afrika gegen den arabischen Sklavenhandel vorging? Sogar mit Hilfe aus Luxemburg?7 Dass einer von zwei afrodeutschen Bundestagsabgeordneten bei der AfD ist? Sollte uns der Umstand irritieren, dass Jüdinnen und Juden in der Avantgarde des Fortschritts oft keinen Platz haben: Beim lesbischen Chicago Dyke March 2017 wurden drei Teilnehmerinnen, „die mit einer mit Davidstern versehenen Regenbogenfahne am Marsch teilnahmen, […] nach zahlreichen Anfeindungen […] von den OrganisatorInnen gebeten, den Marsch zu verlassen“.8
Akademisch kann man diese Widersprüche immer irgendwie auffangen, wie auch die Marxistinnen es mit stets raffinierteren Analysen über Geschichte, Klassenbewusstsein und Kapital taten, in die sie ungeheure intellektuelle Energie investierten. Heute arbeitet die Intersektionalitätsforschung sich nicht uninnovativ an den Gemengelagen der Ungleichheit ab. Das politische Handeln aber folgt einer anderen Logik. Hier ergeben sich, wie zuletzt an der Uni Münster9, schnell Streitigkeiten, etwa darüber, wer jetzt wirklich eine Person of Color ist. Wer hat die Autorität, wenn, was ganz unvermeidlich ist, verschiedene Personen unterschiedliche Erfahrungen mitbringen und die Welt jeweils anders sehen? Eine feinere Analyse hilft nicht. Es braucht auch einen politischen Raum, in dem diese Verschiedenheit praktisch erscheinen und zur Sprache gebracht werden kann.
Methode und Inhalt
Wenn es diesen Raum nicht gibt, wird Politik dogmatisch. Legitimer Dissens ist dann nur in Bezug auf das „Wie“ vorgesehen. In Bezug auf das „Was“, also in grundsätzlichen Dingen, gilt er hingegen als Ignoranz, die durch Erziehung zu beheben ist10, oder wie im Falle J.K. Rowlings als Apostasie11, die scharf bekämpft gehört. Gut, wird man sagen, aber vom Ziel einer gerechteren Gesellschaft kann man auch nicht in legitimer Weise abweichen. Das, so lesen wir, hieße die „Methode“ gegenüber dem „Inhalt“ zu „fetischisieren“.12 Wer so argumentiert, hat jedoch offenkundig ein Begrenzungsproblem. Wo hört man auf? Jede Grenze steht zur Disposition, wenn man nur eine inhaltlich passende Begründung findet. Und in dieser Hinsicht sind die Menschen sehr kreativ. Längst frisst daher auch die Cancel Culture ihre Kinder. Lann Hornscheidt, einst an der Humboldt-Uni Berlin tätig und bekannt für queeren Aktivismus, empfahl früher selbst, unliebsame Veranstaltungen zu stören. Dann wurde Hornscheidts eigenes Seminar gesprengt, weil es angeblich rassistisch sei.13
Man mag einwenden, das seien Einzelfälle. Wer sie aufbausche, führe „ablenkende Diskussionen“ (Richtung22) oder spiele dem „konservativen Projekt“14 in die Hände. Mit ähnlichen Argumenten hat man sich einst jahrzehntelang über den Charakter des Stalinismus und zahlreicher sogenannter Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt belogen: Wer von linkem Totalitarismus spreche, mache sich mit dem Feind gemein. Als palästinensische Terroristen 1987 ein Mitglied der verbündeten „Revolutionären Zellen“ hinrichteten, rangen letztere „aus Sorge, der falschen Seite in die Hände zu arbeiten“, sich erst Jahre später zu einer öffentlichen Kritik durch.15 Vor dem Hintergrund der politischen und moralischen Verwahrlosung, die die Linke im 20. Jahrhundert durchgemacht hat, ist es nicht ablenkend, sondern geschichtsbewusst und notwendig, an die Gefahren solcher Logik zu erinnern.
Das (Un-)Verhandelbare
Aber, wird man sagen, fortschrittliche Politik kann deswegen ja trotzdem nicht alle Sichtweisen gleichermaßen akzeptabel finden? Wäre das nicht eine Bankrotterklärung? Einverstanden! Wir brauchen eine „Unterscheidung zwischen dem Unverhandelbaren und dem Aushaltbaren“. Richtung22? Nein, ich zitiere hier Thomas de Maizières Plädoyer für eine demokratische Leitkultur.16 Wie zieht man diese Grenze? Ich würde folgenden Vorschlag machen: Demokratie konstituiert eine „objektive Wertordnung“ (wie es im Verfassungsrecht heißt) und ist insofern sicher nicht neutral. Sie muss allerdings offen bleiben für konkurrierende Interpretationen dieser Werte. Denn diese sind ja selten evident. Verpflichtet der Grundsatz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, dazu, dass gehbehinderte Personen mittels technischer Hilfsmittel an professionellen Golfwettbewerben teilnehmen können?17 Das kommt wohl sehr darauf an, ob man „gehen“ als konstitutiven Teil des Golfsports ansieht, und hierzu sind die Meinungen geteilt. Impliziert das Prinzip, dass niemand wegen seines Geschlechts diskriminiert werden darf, dass bereits eine bestimmte Auffassung von Geschlecht – als etwas, das in erster Linie mit dem Körper und seinen Merkmalen zu tun hat – diskriminierend ist? Gewiss, es gibt andere Verständnisse von Geschlecht. Aber dass die demokratische Wertordnung nur mit einem einzelnen davon kompatibel wäre und Feministinnen, die noch glauben, dass biologisch „männliche Menschen keine Frauen sind“, umstandslos als Menschenfeinde anzuklagen wären18, leuchtet nicht ein.
Burkas und Briefkästen
Aber wird denn überhaupt gecancelt? Oder doch nur Kritik geübt an jenen, die das nicht gewohnt sind? Denn ein Recht, nicht kritisiert zu werden, gibt es natürlich nicht. Das hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits 1958 im sogenannten Lüth-Urteil festgestellt. Besagter Herr Lüth hatte aufgerufen, einen Film eines vormaligen NS-Regisseurs zu boykottieren. Der wehrte sich, weil ihm ein Schaden entstehe. Das BVerfG entschied, Meinungsfreiheit bedeute nicht nur Abwesenheit von Zensur, sondern auch das Recht, mit Werturteilen in die Gesellschaft hinein zu wirken.19 Wirtschaftliche Interessen müssten dabei zurücktreten. Dass Kritik bewirken darf, dass jemand Geld oder seinen guten Ruf verliert, ist seitdem klar. Aber das Gericht hielt auch fest, die Gegenseite könne ja „ebenfalls vor der Öffentlichkeit erwidern. Erst im Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen Auffassungen kommt die öffentliche Meinung zustande“. Um diesen Punkt ist man heute besorgt: Die gleiche Freiheit von Vortrag und Erwiderung sei nicht mehr selbstverständlich.
Stimmt das? Ich habe selbst Konferenzen erlebt, bei denen Vortragenden aus dem Publikum heraus die Berechtigung abgesprochen wurde, zu einem „nicht-weißen“ Thema überhaupt sprechen zu dürfen. Aber unwidersprochen blieb das nicht. Auch Boris Johnson wurde am Ende noch Premierminister, obwohl man seinen Parteiausschluss forderte und ihm rechtsextreme Positionen vorwarf, als er in der Zeitung schrieb, dass Burkas wie (britische) Briefkästen aussähen.20 Also alles halb so wild? Nein. Um beim Beispiel zu bleiben: Dass Johnson Rechtsextremismus vorgeworfen wurde, obwohl er inhaltlich gegen ein Burkaverbot argumentierte, zeugt davon, dass hier einiges falsch läuft. Ein solcher sich begierig auf einzelne Satzteile stürzender Twitter-Jakobinismus, der nur daran interessiert ist, im Kampf gegen die dunkle Seite ein Exempel zu statuieren, hat mit der sympathischen Vorstellung einer lediglich „breiter und diverser werdenden Öffentlichkeit“ (Richtung22) wenig zu tun. Eher erinnert er an Ulrike Meinhof: „es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden“.21 Auf diese Weise verwahrlost früher oder später, wofür ich in diesem Beitrag eine Lanze zu brechen versucht habe: der Raum, in dem legitime politische Pluralität erscheinen und urteilende Personen um alternative Interpretationen demokratischer Werte konkurrieren können – nicht universalistisch, aber offen für die Anderen, gerne emotional, aber ohne epistemische Privilegien zu behaupten. Einen solchen Raum gibt es bislang noch nicht für alle? Das will ich nicht bestreiten, aber es macht nichts daran falsch, sich um ihn zu sorgen. Wer im Kampf um seine Erweiterung fahrlässig seine Zerstörung in Kauf nimmt, kämpft hingegen, wie es in Apocalypse Now über den Vietnamkrieg heißt, „für das größte Nichts in der Geschichte“.
- https://www.forum.lu/article/yes-we-cancel/ (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 16. Dezember 2020 aufgerufen).
- https://www.forum.lu/article/zwischen-freiheit-und-verbot/
- https://tinyurl.com/y9663gxg
- Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/Main, Suhrkamp 1999, S. 166.
- Martha Nussbaum, Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2017.
- https://verfassungsblog.de/demokratisierung-durch-cancel-culture/
- https://www.land.lu/page/article/882/336882/DEU/index.html
- https://www.gender-blog.de/beitrag/antisemitismus-intersektionalitaet
- https://ideologiekritik-muenster.net/
- https://www.forum.lu/article/warum-demokratien-call-outs-brauchen/
- https://tinyurl.com/umrqomv
- https://jungle.world/artikel/2020/30/no-justice-no-debate
- https://jungle.world/artikel/2015/40/bringt-euch-sicherheit
- Wie Anm. 6.
- http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn04.htm
- https://tinyurl.com/ycn8vku7
- Der Fall PGA Tour v. Martin wurde 2001 vor dem Supreme Court verhandelt.
- Siehe zum Kontext Anm. 11.
- https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/rs19580115_1bvr040051.html
- https://taz.de/Burka-Aeusserung-von-Boris-Johnson/!5524777/
- https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44931157.html
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