Das luxemburgische Wahlsystem: eine Lotterie?

Wie die Reihenfolge auf den Wahllisten die Chancen der Kandidaten beeinflusst

Trotz einiger Besonderheiten wird das Wahlsystem der Schweiz und Luxemburgs in den meisten Ein- leitungen zu diesem Thema nur am Rande erwähnt. Neben der Möglichkeit des Panaschierens, zeichnet sich das luxemburgische Wahlsystem auch dadurch aus, dass seine Listen sehr offen sind.
Aktuell gibt es weltweit eine große Anzahl an Ländern, in denen ein Verhältniswahlrecht besteht. Wie der Name es schon andeutet, erhält eine Partei in diesem System einen Sitzanteil, der ihrem Stimmenanteil proportional entspricht. Dies sagt jedoch noch nichts darüber aus, welche Personen diese Mandate am Ende bekommen. In Luxemburg wird diese Frage maßgeblich durch die Anzahl der persönlich en Stimmen entschieden, wobei das Los im Falle von Stimmengleichheit entscheidet. Im Gegensatz dazu stellen bei geschlossenen Listen die Parteien jeweils ein Ranking auf. In anderen Systemen stel- len Parteien ein Ranking auf, das aber anschließend vom Wähler verändert werden kann. Das Beispiel Luxemburgs fällt also in eine besondere Kategorie, weil die Reihenfolge der Kandidaten auf einer Liste theoretisch keinen Einfluss auf die Ergebnisse hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies auch für die Praxis gilt.
Die Frage, ob die Reihenfolge auf Wahllisten die Wahlchancen von Kandidaten beeinflusst, ist nicht neu in der Politikwissenschaft, wurde aber erst in den letzten zwei Jahrzehnten im Kontext von pro-portionalen Wahlsystemen eingehend analysiert. So beschäftigte sich zum Beispiel Georg Lutz mit dem Wahlsystem der Schweiz, welches dem luxem- burgischen sehr ähnlich ist. Statt einer detaillierten Analyse aller statistischen Modelle, werden hier kurz die wichtigsten Ergebnisse präsentiert. Die Haupt- frage, die in diesem Artikel aufgeworfen werden soll, ist jedoch die nach den möglichen Folgen und den Denkanstößen, welche diese Arbeit den Parteien lie- fern kann.
Die Macht der gleichgültigen Wähler
Ob ein Wähler für einen bestimmten Kandidaten stimmt, hängt von vielen Faktoren wie beispielsweise Sympathie, Einschätzung von Kompetenz, Erfah- rung in politischen Ämtern oder demographischen Faktoren ab. Doch was passiert, wenn der Wähler keine eindeutigen Kriterien zur Entscheidung hat, bzw. nicht ausreichend Informationen, um seine Kriterien anzuwenden? Wenn er absolut gleichgültig ist, könnte man annehmen, dass die Wahrschein- lichkeit zwischen zwei Kandidaten auszuwählen für jeden Kandidaten bei je 50 % liegt. Studien aus der Psychologie, in denen Testpersonen eine Reihe von Optionen präsentiert werden sprechen jedoch dage- gen.1 Sie zeigen, dass die Testpersonen sich eher für Optionen entscheiden, die am Anfang oder Ende präsentiert werden. Bei Experimenten in schriftli- cher Form gibt es eine größere Tendenz zu den er- sten Optionen.
Da Wahllisten schriftlich verfasst werden, sollte man einen Vorteil für Kandidaten, deren Name oben auf der Liste erscheint, erwarten. Dies entspricht dem Ergebnis einer Großzahl an Studien in diesem For- schungsfeld. Jon Krosnick2 erwähnt aber auch die Möglichkeit, dass Kandidaten unten auf dem Wahl- zettel von einem Vorteil profitieren können, wobei dieser schwächer bleibt als der von Kandidaten, de- ren Name im oberen Bereich der Wahlliste steht.
Diese Überlegungen lassen vermuten, dass gleichgül- tige Wähler einen gewissen Einfluss auf das Wahlre- sultat haben, ohne dass dieser beabsichtigt ist. Zwei Faktoren spielen hier eine Rolle. Erstens sind gut in- formierte Wähler oft weniger gleichgültig. Zweitens gibt es unterschiedliche Ebenen der Komplexität des Wahlsystems und diese können eine Herausforde- rung für das Verständnis des Wählers darstellen. Das luxemburgische Wahlsystem weist zwei, „komplexe“ Charakteristiken auf: Zum einen gibt es eine sehr große Anzahl von Kandidaten, zwischen denen sich der Wähler auf offenen Listen entscheiden muss. Zum anderen hat der Wähler mehrere Stimmen zur Verfügung und das heißt, dass er mehr als nur eine Wahl treffen muss. Es ist also ein größerer Einfluss gleichgültiger Wähler (die ihre Stimmen nach Kri- terien abgeben, die „unpolitischer“ Art sind) im Lu- xemburger und Schweizer System zu erwarten.
Statistische und experimentelle Beweise
Um den Einfluss der Position eines Kandidaten auf sein Ergebnis zu überprüfen, wurden zwei Arten von Daten analysiert. In einem ersten Schritt wurden statistische Modelle auf Basis von Kandidateninfor- mationen und Wahlergebnissen aus der Schweiz und Luxemburg untersucht. Für Luxemburg handelte es sich um Daten, welche den Zeitraum von 1994 bis 2013 abdecken. Um sicher zu stellen, dass ein Effekt auf die Kandidatenreihenfolge zurückzufüh- ren ist, wurden politische Ämter, demographische Daten, Informationen zu Spitzenkandidaten, usw. berücksichtigt. Die Ergebnisse der genannten Unter- suchung zeigen, dass Kandidaten in oberen Listen- positionen einen klaren Vorteil gegenüber anderen Kandidaten auf ihrer Liste haben. Dieser Effekt wird stärker, je länger die Listen werden. Das heißt, dass die Größe eines Wahlbezirks wiederum eine Rolle spielen kann. Insbesondere in größeren Bezirken ha- ben Kandidaten, deren Name gegen Listenende er- scheint, einen Vorteil im Vergleich zu ihren Kollegen in der Listenmitte. Der Vorteil ist jedoch kleiner, als der Vorteil, der sich aus einem Platz am Anfang der Liste ergibt.In einem zweiten Schritt wurden diese Ergebnisse mit denen aus einem Experiment verglichen, das in einem Labor in Oxford mit 96 Versuchspersonen or- ganisiert wurde. In acht Wahlrunden sollten diese Teilnehmer in fiktiven Wahlsimulationen nach einer vereinfachten Version des luxemburgischen Wahl- systems wählen. Dabei gab es in jeder Runde zwei Wahlzettel, die jeweils von einer Hälfte der Teilneh- mer benutzt wurden. Dabei konnte bestätigt wer- den, dass unterschiedliche Kandidatenreihenfolgen einen Einfluss auf das Ergebnis haben und dass die Länge der Liste sowie die verfügbaren Informatio- nen über einen Kandidaten einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben. Wie sollte die Politik auf diese Ergebnisse reagieren? Vier mögliche Strategien zum Aufstellen von Wahllisten sind vorstellbar.
Rotationen der Listenplätze
In einigen US-Staaten werden verschiedene Wahl- zettel mit unterschiedlichen Kandidatenreihenfolgen benutzt. Der Grund für dieses Verfahren ist die Neu- tralisierung des Effekts dadurch, dass jeder Kandidat den Vorteil auf einigen aber nicht auf allen Wahlzet- teln hat. Eine Methode, die einige Fragen aufwirft: Erstens muss geklärt werden, wie viele verschiedene Wahlzettel nötig wären. Reicht es aus, nur die Liste bei Rotationen zu berücksichtigen oder muss man auch die Position im Verhältnis zu Kandidaten an- derer Parteien mit einbeziehen? Zweitens kann die Herstellung von mehreren Wahlzetteln kostspielig sein. Drittens müsste der Staat direkt eingreifen, um diese Methode festzuschreiben und die Rotationen durchzuführen, während die Parteien aktuell kom- plett für die Listenreihenfolge verantwortlich sind. Neben der Kritik eines zu großen Eingriffs des Staa- tes besteht ebenfalls das Risiko, dass an der richtigen Umsetzung der Rotationen gezweifelt wird. Einfa- cher wäre es die Entscheidung über Listenplätze den Parteien zu überlassen.
Alphabetische Listen
Mit Ausnahme von Spitzenkandidaten werden mo- mentan die Kandidaten meistens alphabetisch auf- gelistet. Der Vorteil hierbei ist, dass nach außen sichtbar kein Kandidat bevorzugt wird, weil ein neutrales, von der Situation abhängiges Kriterium zur Aufstellung der Liste benutzt wird: das Alphabet. Alphabetische Listen eliminieren aber keine Vorteile durch gute Listenplätze. Außerdem ist die Wahr- scheinlichkeit von diesem Vorteil zu profitieren nur durch den Nachnamen des Kandidaten im Voraus bestimmt. Ein Kandidat dessen Nachname mit A beginnt hat bessere Chancen gewählt zu werden als ein vergleichbarer Kandidat dessen Name mit M be- ginnt. Deshalb scheint die alphabetische Reihenfolge
besonders fair zu sein, obwohl nicht jeder Kandidat die gleichen Chancen auf einen guten Platz hat.
Vergabe durch Lotterie
Eine Alternative dieser Nachnamen-Lotterie wäre das Auslosen der Listenplätze. Auch hier würde wie bei der vorherigen Methode der Effekt nicht eliminiert werden, aber das Grundprinzip wäre die Gleichbehandlung der Kandidaten. Bei einer Auslo- sung der Listenplätze wird statt einer unabhängigen Reihenfolge ein unabhängiger Juror genommen: der Zufall. Dieser kann in gewisser Weise mehr Fairness als das Alphabet bieten. Während der Listenplatz und die damit verbundenen Wahlchancen bei der alphabetischen Methode von Anfang an feststehen, hat bei der zufälligen Auslosung jeder Kandidat die gleiche Chance einen guten Listenplatz zu ergattern. Hauptproblem bei dieser Methode wäre jedoch der wahrscheinliche Widerstand innerhalb der Parteien. Neben möglichen Zweifeln über eine faire Lotterie stellt sich die Frage, ob Lotterien auch als fair an- gesehen werden. Die britische Politologin Barbara Goodwin vertritt zum Beispiel die Meinung, dass die Gerechtigkeit von Lotterien in einer leistungsori- entierten Gesellschaft oft unterschätzt wird. Haupt- problem dürfte also die Überzeugungsarbeit sein.
Gezielte Förderung
In einigen Fällen könnten Parteien davon profitie- ren, ihre Kandidaten nicht gleich zu behandeln. Zum Beispiel könnte eine Partei ein Interesse daran haben, einige Kandidatengruppen wie Frauen, Nachwuchstalente oder besonders kompetente Kan- didaten zu fördern. Im Gegensatz zu den anderen Methoden wird hier der Vorteil als ein positives Len- kungsinstrument angesehen. Allerdings gibt es auch bei dieser Methode zwei wichtige Nachteile. Erstens birgt diese Strategie ein großes Konfliktpotenzial un- ter den Kandidaten. Deshalb ist die gezielte Förde- rung auch nur umsetzbar, wenn Einigkeit über das Ziel besteht, wie zum Beispiel die Förderung von Frauen in der Politik, oder ein Konsens über die Notwendigkeit, eine neue Generation zu etablieren. Solche Strategien riskieren ebenfalls als gewollte Ma- nipulation verstanden zu werden und nicht mit dem Prinzip offener Listen vereinbar zu sein. Diese Kritik setzt aber voraus, dass Manipulation immer schlecht ist und man in diesem Fall wirklich von Manipula- tion sprechen kann. Durch die gezielte Vergabe von Listenplätzen drückt eine Partei lediglich ihre Wün- sche aus und versucht die Chancen einiger Kandida- ten zu erhöhen. Dies bedeutet aber weder, dass der Wähler diese Vorschläge annehmen muss, noch dass die Partei ihre Ziele erreicht.Spielt das alles eine Rolle?
Vor allem die Größe des Einflusses von Listenplät- zen auf das Wahlergebnis könnte zur Schlussfolge- rung führen, dass das Thema unwichtig sei. Die- ser Schlussfolgerung kann man aber aus einigen Gründen widersprechen. Erstens ist der Effekt klar messbar und statistisch signifikant. Den Effekt nur auf seine Größe zu reduzieren würde bedeuten, die eigentliche Aussage zu ignorieren. Obwohl Listen- plätze theoretisch keinen Einfluss haben, beeinflus- sen sie in der Praxis das Wahlresultat. Zwar könnte man den Effekt minimieren, aber dies bedeutet nicht, dass Parteien sich nicht intensiver mit der Frage der Listenaufstellung beschäftigen sollen. Für Luxemburg stellt sich die Frage, ob die alphabeti- sche Reihenfolge beibehalten werden soll, obwohl sie nur zum Teil gerecht ist. Die Auslosung von Lis tenplätzen und die gezielte Vergabe nach Kriterien, auf die eine Partei sich einigen kann, sind dabei viel- versprechende Alternativen.
1 Vgl. Krosnick, Jon, 1992, „The Impact of Cognitive Sophistica- tion and Attitude Importance on Response Order and Question-
Order Effects“, in: Schwarz und Sudman: Context effects in social and psychological research, Springer Verlag, New York.
2 Miller, Joanne und Jon Krosnick, 1998, „The impact of candidate
name order on election outcomes“, in: Public Opinion Quarterly, Vol. 20 No. 3, S.291-330.

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