Der Marmor klingt hohl wie in einem billigen Sandalenfilm. Dennoch ist Spott nicht angebracht. Hier wohnt der Volkswille, die Volonté générale. Fast so wie Gott hinter dem ewigen Licht. Hier ist die letzte Stufe auf dem beschwerlichen Weg zur Freiheit. Hier hat der Geist der Demokratie zu sich selbst gefunden. Ende der Geschichte. Oder doch nicht?

Das Mysterium des Volkswillens

Dass Gott quasi leibhaftig in jedem Tabernakel wohnt, verlangt ein gutes Stück Glauben. Ein gutes Stück Glauben steckt auch in der Zuversicht, dass der Volkswille in den Sälen der Chamber wohnt. Aufgeteilt zwischen Parteien, in Prozenten ausgezählt, in Abgeordnetenzahlen umgerechnet. Verträgt die Volonté générale soviel Arithmetik? Wie verträgt sich die Pluralität der Parteien mit der Einheitlichkeit des Volkswillens, die überall und immer wieder anklingt?

Artikel 32 der jetzigen Verfassung: „La puissance souveraine réside dans la Nation.“ LA Nation, Einzahl. Quasi verkörpert in der Person des Monarchen: „Le Grand-Duc l’exerce (i.e. la souveraineté) conformément à la présente Constitution.“ Da ist es nur folgerichtig, dass der Abgeordnete bei seinem Antritt bisher schwören muss: „Je jure fidélité au Grand-Duc…“. Da geistert immer noch ein
vordemokratisches Gesellschaftsbild durch unsere grundlegenden Texte.
In der neuen Verfassung soll der Großherzog in der Eidesformel nicht mehr vorkommen. Aber immer noch DIE Nation, Einzahl. Artikel 3: „La souveraineté réside dans la Nation dont émanent les pouvoirs de l’État“. Die Einheit des Monarchen scheint in die Einheit der Nation übergegangen zu sein. Das Rätsel der Pluralität aber bleibt.

In die politische Arena am Krautmarkt werden die Abgeordneten geschickt, um dort im Namen des Volkswillens gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu führen. Das kann doch wohl nur heißen, dass der Volkswille kein einheitlicher sein KANN.

Die Vorstellung einer einheitlichen Nation oder eines einheitlichen Volkes sei mit dem Wesen der Demokratie unvereinbar, meinte der französische Philosoph Claude Lefort. „Dans ce type de société, la figure du peuple s’esquisse, mais elle ne peut se fixer, l’unité se dérobe, les critères du juste et de l’injuste, du vrai et du faux, du bien et du mal, même ceux du possible et de l’impossible, sont indéterminables. Bref, là, la société fait ouvertement ques-
tion pour elle-même“ (Claude Lefort, Le Temps présent).

Genau das unterscheide die Demokratie von anderen Gesellschaftsformen — namentlich den modernen totalitären: die Uneinheitlichkeit und Unbestimmtheit und der institutionalisierte aber befriedete Konflikt. Deswegen sind die politischen Begriffe im Singular — DAS Volk, DIE Nation — dem Wesen der Demokratie nicht angemessen. Die Betonung des Singulars (also der Gleichschaltung) ist dagegen immer typisch für totalitäre Strömungen oder Regime: EIN Volk, EINE Partei, EIN Zentralkomitee, EIN Führer …

Der reformierten Verfassung unterstelle ich natürlich keine totalitären Züge. Aber sowohl der Singular der Nation wie auch der neue Eid des Abgeordneten auf Unparteilichkeit („impartialité“) sind zumindest mit Leforts Definition der Demokratie unvereinbar. Aber, wird man mir antworten, auf die Praxis kommt es an. Und da gibt es ja wohl keinen Zweifel, dass unser parlamentarisches System der Vertretung eine hohe Form der Demokratie ist.

Die Fiktion der Selbstgesetzgebung

Erinnern wir uns also an die klassische Definition der Demokratie: „Le peuple soumis aux lois doit en être l’auteur“ (Rousseau), oder: „Demokratische Selbstbestimmung bedeutet, dass die Adressaten zwingender Gesetze zugleich deren Autoren sind. In einer Demokratie sind Bürger einzig den Gesetzen unterworfen, die sie sich nach einem demokratischen Verfahren gegeben haben“ (Habermas). Das Problem liegt im „demokratischen Verfahren.“

Wenn sich die Bürger Athens auf der Agora versammelten und über Krieg oder Frieden abstimmten, fiel der physische öffentliche Raum mit dem politischen öffentlichen Raum zusammen. Zumindest was die Bürger betrifft, die allerdings kaum ein Zehntel der physischen Bevölkerung ausmachten. Aber auf sie traf wohl die obige Definition zu.

Wenn sich die Abgeordneten im Marmor-
saal der Chamber versammeln, dürfen zwar einige Bürger von den raren Rängen der Tribüne hinab ins Plenum gucken, aber mitentscheiden können sie nicht. Denn im Plenum sitzen ja die von ihnen gewählten Vetreter/innen. Der physische öffentliche Raum und der politische Raum fallen nicht mehr zusammen.

Wenn sich engagierte Bürger vor der Chamber versammeln, um gegen eine anstehende Entscheidung zu protestieren, fällt auch der Raum des öffentlichen Diskurses entzwei. Hier der Protest, die Stellungnahme, mehr oder weniger argumentiert; dort die Entscheidung, mehr oder weniger argumentiert. Nach dem Mehrheitsprinzip, natürlich. Das „demokratische Verfahren“ hat sich in den Wahlen erledigt. So ist das mit der repräsentativen Demokratie.

Im Rahmen des Nationalstaates konnte man vielleicht noch glauben, da sei ein Kollektiv, die „Nation“, die per freien und gleichen Wahlen über sich selbst bestimmte. Die bedenkliche Vereinheitlichung im Begriff der Nation haben wir schon erwähnt. Davon abgesehen: Wer gehört(e) zur Nation? Nur wer Steuern zahlt? Nur Männer? Nur die mit einem nationalen Pass? Die Bedeutung der Begriffe und der Raum der Selbstbestimmung wandeln sich im Laufe der Geschichte.

Mit der Multiplikation der politischen und ökonomischen Entscheidungsinstanzen in der globalisierten Welt wird die Frage noch dringlicher, ob, wie und wo der Demos die Gesetze macht, denen er gehorchen muss. Auch die Räume multiplizieren sich: Immer mehr Räume, offene, halboffene, geschlossene… Allein in Europa: Parlament, Kommission, Minis-
terrat, Europarat, Gerichtshof… Fiskalpakt, TTIP … genug!

„Plus que les dysfonctionnements internes de la sphère publique à l’échelle nationale, c’est cette reconfiguration des lieux de pouvoir et de production des règles qui révèle le caractère fictif du principe de l’autolégislation en le vidant définitivement de toute signification réelle.“
Catherine Colliot-Thélène, La démocratie sans le ‚démos’).

Zugang zum öffentlichen Raum

Auf die Krise der parlamentarischen Demokratie und die „postnationale Kons-
tellation“ hat Jürgen Habermas mit dem Konzept des öffentlichen, herrschaftsfreien Diskurses geantwortet. Dort sollen außerhalb der eigentlichen staatlichen Macht, im Austausch der Argumente, Vereinbarungen getroffen und sich schließlich in politischen Entscheidungen niederschlagen können. Deswegen unterscheidet Habermas zwischen zwei Arten von Öffentlichkeit.

„In unserer Mediengesellschaft dient die Öffentlichkeit denen, die Prominenz erlangen, als Raum der Selbstdarstellung. Sichtbarkeit oder Bekanntheit ist der eigentliche Zweck der öffentlichen Auftritte. Stars zahlen für diese Art der Präsenz in den Massenmedien den Preis einer Vermischung ihres privaten und ihres öffentlichen Lebens. Einen anderen Zweck hat die Beteiligung an politischen, wissenschaftlichen oder literarischen Auseinandersetzungen. Die Verständigung über ein Thema tritt hier an die Stelle persönlicher Selbstdarstellung. In diesem Fall bildet das Publikum keinen Raum von Zuschauern oder Zuhörern, sondern den Raum für Sprecher und Adressaten, die einander Rede und Antwort stehen. Es geht um den Austausch von Gründen, nicht um die Bündelung von Blicken.“ (Habermas, Rede zum Kyoto-Preis)

Wie ein „Raum für Sprecher und Adressaten“, wo es nur um den „Austausch von Gründen“ geht, sah der parlamentarische Raum, zumindest im Plenum, für mich nicht immer aus. Die repräsentative Demokratie ist weitgehend eben auch Darsteller- und Zuschauerdemokratie. Nicht immer weiß man, ob beim Politiker die Sensibilität für Argumente größer ist als für Applaus und Schelte des Publikums. Und nicht immer weiß man, ob beim Publikum wirklich die Kraft der Argumente alle anderen Motive überwiegt.

Eine andere Frage scheint mir dennoch wichtiger: Wer beteiligt sich tatsächlich, kann sich beteiligen, an diesem öffentlichen Diskurs? Welche Themen und Fragen sind überhaupt zugelassen?

In der „Sphäre“ der Öffentlichkeit (sphère publique) gibt es oben und unten, der Kreis ist nicht wirklich für alle gleich offen, und nicht für alle gilt die gleiche Distanz zum Zentrum. Auch dort gibt es hegemoniale Verhältnisse. Selbst das Internet ändert daran nicht viel, denn der Zugang zum weltweiten Netz ist nicht für alle gleich. Und wie jede Technik ist das Internet „dämonisch zweideutig“ (Thomas Assheuer, Die Zeit, 1.4.2015): potentiell demokratisch bis potentiell totalitär. Für diesen Sachverhalt haben die so genannten sozialen Netzwerke ihre Beweise bereits geliefert.

Gegenräume

Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser hat sich mit Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit auseinandergesetzt. Am Beispiel der Frauen und der Arbeiter hat sie gezeigt, wie wenig selbstverständlich der gleiche Zugang zur Sphäre des öffentlichen Diskurses ist. Und das gilt sowohl für gesellschaftliche (subalterne) Gruppen wie auch für die Themen — und sogar für die Frage, was eigentlich zur privaten oder zur öffentlichen Sphäre gehört. Die Frauenbewegung etwa musste lange dafür streiten, dass Gewalt und Vergewaltigung im häuslichen Raum eben keine private, sondern eine öffentliche Sache ist. Und streiten müssen wir eigentlich ja auch immer noch darüber, dass die Frage des „Privat“-Eigentums eine öffentliche Frage sein muss — vor allem angesichts der Konzentration von Eigentum, Macht und der wachsenden Ungleichheit.

So zu tun, als seien im Raum des angeblich herrschaftsfreien Diskurses alle gleich, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind, sei typische liberale Ideologie, meint Nancy Fraser. Es gehe um die Konstruktion eines scheinbaren Konsenses, der in Wirklichkeit ein neuer Modus der Herrschaft, der hegemonialen Herrschaft ist.

Jeder aufmerksame Beobachter der politischen Debatten kann feststellen, wie bestimmte politische und gesellschaftliche Positionen (im Dienst bestimmter gesellschaftlicher Interessen) zu Selbstverständlichkeiten erklärt und andere als irrelevant, unrealistisch, utopisch etc. tabuisiert werden. Die Auseinandersetzung um die Zukunft Europas liefert auch hierzulande genug anschauliche Beispiele.

Dagegen, meint Nancy Fraser, helfen nur Gegenöffentlichkeiten, Gegenräume, die sich bewusst außerhalb des offiziellen Kreises der Öffentlichkeit formieren und sich vom herrschenden Diskurs abschirmen. Sie müssten zuerst zu Selbstverständigung und Selbstbehauptung kommen, um überhaupt eine Chance für gesellschaftliche Relevanz und Wirkung zu bekommen. Nur so könnten sie die realen Verhältnisse tatsächlich so verändern, dass ein „herrschaftsfreier“ Diskurs überhaupt möglich wird.

Denn der kann nicht funktionieren mit
einer „Als-ob-Gleichheit“, wenn also in
der rauen sozialen Wirklichkeit die Herr-
schaftsverhältnisse, die Ungleichheiten
nicht tatsächlich abgebaut werden. „N’en déplaise au libéralisme, la démocratie politique exige une égalité substantielle.“ (Nancy Fraser, Repenser la sphère publique) u

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