Das vergebliche Streiten für Vielfalt in unseren Bildungsanstalten

Zugegeben: Ich sehe schwarz. Und könnte ich schwärzer als Schwarz sehen, dann würde ich auch das tun. Aber das Schwarz, das ich sehe, ist nicht das Schwarz einer wertekonservativen politischen Haltung, sondern das Schwarz, das sich am Rande eines Abgrundes auftut – und das entgegen aller proklamierten Buntheit der gegenwärtigen politischen Tribüne. Mit dem Verfall traditioneller Politik, welche sich bis vor kurzem noch versuchte als schwarz-rotes Gegeneinander zu verkaufen, und dem Erstarken zweier Antagonisten neueren Datums, den „Feinden der Demokratie“ und den Liebhaber*innen derselben, machen sich in den westlichen Staaten immer häufiger Stimmen hörbar, welche „unsere“ Werte als politische Agenda proklamieren wollen.

Wertevielfalt als Ideal einer Demokratie ist ein Produkt neueren Datums. Und obwohl sie heute als zeitloses Geschöpf aufzutreten hat, wurde ihr das Gastrecht erst gewährt, um eine im Entstehen begriffene, multikulturelle Gesellschaft kognitiv fassbar und urbar machen zu können. Auf das Podest der großen Politbühne stieg sie auf, als westliche Politiker Wege suchten, um den „Feinden der Demokratie“ etwas entgegnen zu können. Seither ist Wertevielfalt auch ein Kampfbegriff geworden, und genau in dieser Funktion liegen einige Schwierigkeiten verborgen: Dort wo es um politische Aufhänger und das Verkaufen ideologischer Interessen geht, kommt oft die Praxis zu kurz oder wird von eben diesen Interessen daran gehindert, im positiven Sinne erblühen zu können. Ausgespart werden im Narrativ der Wertevielfalt als Retterin der liberalen Demokratie nämlich immer die vorangegangenen Bodenkämpfe, die erst dazu geführt hatten, dass es überhaupt einen Nährboden für das Denken von Vielfalt gibt: die feministische Bewegung, die Homosexuellenbewegung, weitere queere Bewegungen, die verschiedensten identitären Bewegungen von People of Colour weltweit und sicherlich noch andere, mir unbekannte. Am Anfang standen all diese Kämpfe um die gesetzliche Anerkennung des Rechtes auf Andersartigkeit und/oder Gleichheit.

Warum im Bereich des politischen Handelns eine Differenzierung zwischen Praxis und ideologisch gefärbtem Handeln sinnvoll erscheint, und wie sie sich bemerkbar machen kann, soll im Folgenden am Beispiel des Feminismus und seiner quasi Abwesenheit in unseren Bildungsanstalten, lange bevor von Wertevielfalt die Rede war, erläutert werden.

Gerne würde ich diesen Abschnitt mit einem allgemeingültigeren Einstieg als demjenigen der persönlichen Erfahrung beginnen; gerne würde ich mit einem Lobgesang auf den Feminismus beginnen können, in der Art wie er sooft im Zusammenhang mit der Demokratie bemüht wird. Und es ist genau dieser Wunsch, welcher bereits auf unterschwellige Schwierigkeiten – und ergo auf die Notwendigkeit des Feminismus – hindeutet: Auf der einen Seite hat ein Lernprozess stattgefunden, der dazu führte der eigenen Subjektivität so wenig Wert zuzuerkennen und andererseits gab es eine Geschichtserzählung, welche sich sehr selektiv als die Heldengeschichte des europäischen Geistes und seiner Eroberungszüge darstellen wollte.

Bevor ich aufs Gymnasium ging, begegnete ich in meinen Büchern einer Frau, die ich sehr bewundernswert fand: Alexandra David-Néel. Vieles von dieser Frau ist mir bis heute unbekannt, aber ich erinnere mich an die Faszination, die ihre Tibetreise auf mich ausübte. Dieses Unternehmen hatte so etwas Ungeheuerliches an sich und wirkte irgendwie entrückt auf mich: Ich wuchs in einer Zeit auf, in der Alexandra David-Néel bereits tot war, aber in meiner Welt gab es keine vergleichbaren Abenteurerinnen. Der Fortschritt hatte es wohl so gewollt, dass die Frauen in meinem gesamten Lebensumfeld Hausfrauen und Mütter waren. Einige wenige waren auch Lehrerinnen und Nonnen. Aber Forscherinnen, Feministinnen, Politikerinnen, Pastorinnen, Astronautinnen oder Schreinerinnen gab es keine. Es gab auf einer sehr grundsätzlichen Ebene keinen nennenswerten Horizont, um „Frau“1 zu sein in dieser Gesellschaft, sprich im Sinne mit einhergehenden gesellschaftlich anerkannten Positionen, welche nichts mit Haushalt, Kindern oder Versorgung im Allgemeinen zu tun hatten. Meine erste große Heldin war Pippi Langstrumpf. Den Sprung hin zu Astrid Lindgren schaffte auch ich damals noch nicht so ganz. Frauen, die reisen, die forschen, die Schriftsteller*innen sind und sich auch im Wort eigenständig in der Welt verorten, wurden und werden immer noch nicht offiziell repräsentiert: Es gibt keine offiziell unterrichtete Geschichte der Kontinuität ihres Strebens wiewohl es eine Kontinuität ihrer Geschichte gibt. Entgegen der Realität werden sie immer noch als Ausnahmeerscheinungen gehandelt. Das feministische Streben war kein Thema und fand auch keinen Eintritt in das Pantheon sogenannter offizieller westlicher Kultur, welche uns ja meist in der Schule vermittelt wird.

Was „Frauen“ waren und was sie im Laufe der Geschichte geleistet haben, wie sie sich in das öffentliche Leben eingebracht haben, wurde hier entweder rigoros ignoriert oder, schlimmer, rigoros verschwiegen und unter den Teppich gekehrt. Dass in einem solchen Klima die Leistungen der „Frauen“ unsichtbar bleiben, seien es ihre Leistungen als Mutter, als Hausfrau, als Lehrerin, als Nonne, als Sexarbeiterin, als Feministin, als Politikerin, als Studentin, als Astronautin, als Professorin, als Schriftstellerin, als Handwerkerin, als Sportlerin usw., verwundert nicht weiter.

Ihr fragt euch, wo denn nun das Thema Schule eigentlich bleibt? Ich frage mich das auch, aber wie es scheint waren „Schule“ und „Frauen“ Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Luxemburg noch zwei Bereiche, die wie von unsichtbaren Gräben getrennt, sich irgendwie fern blieben. Es war so, als hätte es die Frauen* eher nur stillschweigend auch in den Schulen gegeben.

Spätestens im Gymnasium wurden Bildung und Wissen aus einer sehr einseitigen Perspektive heraus vermittelt: derjenigen „des westlichen Mannes“, der sich in humanistischer Tradition über Universalien Gedanken macht. Eines dieser Universalien scheint darin „die Frau“ zu sein. Gerät sie in den öffentlichen Diskurs, dann ob ihrer scheinbaren „Frauenqualitäten“: Ganz egal was sie macht, sie wird immer daran bemessen, wie sie es macht; dabei wird das ‚Wie‘ einzig daran bemessen, ob sie es genug in der vermeintlichen Art einer „Frau“ macht oder ob sie die „Gattungsgrenzen“ überschreitet und sich anmaßt, Dinge „wie ein Mann“ zu machen. Spätestens mit dem Eintritt in die Pubertät erfährt „Frau“ am eigenen Leib, dass ihr „Frausein“ von der Außenwelt in erster Linie mit Brüsten, mit Zyklen, mit Schwangerschaften und Schwangerschaftsvermeidung, mit Stimmungsschwankungen und eben mit ihrer Fürsorglichkeit, ihrer vermeintlichen „Gefallsucht“ – oder Schönheit – und Bereitschaft zur Aufopferung für andere assoziiert wird. Manchmal auch noch mit Hysterie. Wer in solch einer Erwartungshaltung aufwachsen muss, hat unverschuldet schlechte Karten, um als Subjekt wahrgenommen und in die Gesellschaft hinein gelassen zu werden. Wem kein eigenständiges Begehren, welches nicht als Resultat seiner Natur, sondern als Ausdruck der eigenen menschlichen Bewusstheit gewertet wird, zuerkannt wird, der*die wird in seinem Wachstum behindert.

Als ich irgendwann mein Abitur in der Tasche hatte, schaute ich in den Spiegel und konnte nicht mehr mich selbst erblicken. Es war so, als hätte das Gymnasium mir nur wenig Möglichkeit für die Aufgabe der Selbsterkenntnis geboten. Während all der Jahre wurden mir und meinen Genossinnen in über 98 Prozent der Fälle lediglich die Erzeugnisse, seien sie literarisch, künstlerisch, historisch oder philosophisch, von weißen Männern vorgeführt und angepriesen. Trotz aller Berechtigung, die auch diese Positionen in der Welt haben, war es in seiner Einseitigkeit nicht unbedingt das Material, das für alle gleichermaßen Vorbildcharakter haben konnte. Dabei war ich anfangs, beim Eintritt in diese edle Anstalt unglaublich stolz gewesen, dort hingehen zu dürfen: Es fühlte sich wie ein echtes Privileg an, etwas, das ich mir über all die Jahre in der Grundschule erarbeitet hatte. Aber niemand hatte mir gesagt, dass das Durchlaufen einer gymnasialen Laufbahn wie ein Zerrspiegel auf meine Identität wirken wird.

Niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass die alten Kämpfe eines Kindes gegen die Gitterstäbe des Hierarchieverständnisses der Erwachsenen um die unsichtbare, aber stets präsente Verbarrikadierung von „Männern“ gegen „Frauen“ erweitert werden würden. Mit meinen zwölf Jahren stand ich gewissermaßen relativ optimistisch in der Welt und dachte alles würde nun darauf hinauslaufen, dass ich mir meinen Platz in dieser Welt, sprich in der Wirkordnung der Erwachsenenwelt, zu erobern hätte. Ich war aber unwissend über eine gewisse, in der Gesellschaft anzutreffende Unlust, Menschen, die als „Frauen“ gelesen werden, an der Gesellschaftsgestaltung teilhaben zu lassen. Zwischen den „Frauen“ und dem Handeln in der Gesellschaft steht die Hürde des Virilitätsgesetzes.

Dieses Gesetz, wiewohl es nicht existiert und dennoch so getan wird, als würde es existieren, besagt, dass Virilität das Markenzeichen des „Mannes“ ist und die „Frau“ keine Virilität zu besitzen habe. Tut sie dies dennoch, wird es ihr als Zeichen einer Störung, eben jener „wie ein Mann“ sein zu wollen, angedichtet und sie wird immer wieder in ihre Schranken verwiesen, sich doch endlich wie eine „richtige“ Frau zu verhalten. Das heißt, die Realität dessen, was eine Frau* sein kann, wird zugunsten von Männerphantasien, wie eine Frau zu sein habe, negiert. Ich spreche im Präsens, denn ich bin jung und jedes Mal, wenn ich mit noch jüngeren Frauen rede, höre ich nur immer dasselbe: Dass es keine Besserung gibt, dass unsere Geschichte in der Schule nicht gelehrt wird, dass unsere Literatur nicht gelesen wird, dass „Männer“ weiterhin so tun, als gäbe es die Gleichheit aller Geschlechter – es gibt ja weitaus mehr Geschlechter als nur Männer* und Frauen* – nicht.

Frauen* dürfen heute zwar wählen und arbeiten, aber wenn sie mit ihrer Geschichte und mit ihren individuellen Bedürfnissen ernst genommen werden wollen, so müssen sie weiterhin tagtäglich dafür kämpfen und einer ganzen Gesellschaft erklären, dass sie ein Recht auf ein eigenes Leben haben und darunter auch das Recht, andere Träume zu verfolgen als jene, die ihnen die Gesellschaft an Modulen vorschreiben will.

Wertevielfalt in der Schule?

Dort, wo Frauen nicht als Gleiche anerkannt werden, ist noch keine Grundlage für Wertevielfalt geschaffen worden. Dort, wo die Stimmen der Frauen kein Gehör finden – und Literatur setzt sich nun einmal auch aus Stimmen zusammen –, ist noch kein gesellschaftlicher Chor entstanden, in dem viele mitmischen (dürfen? können? – Wer bestimmt darüber?). Dort, wo archaische Vorstellungen über Frauen gewichtiger sind als die Frauen* und ihre Leben selbst, ist die Bevormundung durch das Patriarchat und die Männer noch nicht beendet. Dort, wo Lebensläufe wie jener von Alexandra David-Néel ausgespart werden, befinden wir uns erst am Anfang neuer gesellschaftlicher Notwendigkeiten: jener, unsere Strukturen zu überdenken, und jener, Platz zu schaffen für all jene, welche wir in unserer Hybris üblicherweise glauben mitzudenken, ohne ihnen Gehör und Platz für ihre Geschichte und Geschichten zu schenken. Kein Wert schwimmt frei in der Gegend herum, und dort wo ein Wert von seiner Geschichte entkoppelt ist, verliert er sofort auch die Möglichkeit, seine volle Wirkung zu entfalten. Ohne den Feminismus, in seiner ganzen Pluralität und Streitkraft, wäre mir vielleicht bis heute nicht bewusst, dass es zu jeder Zeit wichtige Frauenstimmen gegeben hat. Nur muss bis in die Gegenwart hinein jede Frau* wieder von vorne anfangen, auf ihr Stimmrecht zu pochen, weil die gängige Geschichtspraxis sie immer wieder verschluckt und in die Vergessenheit der Weltzeit schickt. Es ist an der Zeit, unsere Kultur zu entstauben und wieder sehend durch die Welt zu gehen.

Es ist so wie im Höhlengleichnis von Platon. Genau so. Und es betrifft alle Menschen, ganz gleich welchen Geschlechtes sie sind. Ohne eine reflektierte Lebenspraxis ist alle Politik nur Ideologie, etwas, das wirkt, als würde es allein um des Glanzes Willen geschehen, etwas, das sich von der Gesellschaft in ihrer real existierenden Vielfalt abgesondert hat.

Politik in jenem Falle ist wie eine leere Worthülle, ein fataler Irrtum, der über die letzten Jahre in Westeuropa immer öfter und immer deutlicher zutage tritt. Ahoi, ihr Menschen und Wortführer*innen! Glaubt weiter an die Wertevielfalt, aber fangt auch endlich damit an, sie zu praktizieren.

Dann nämlich können auch andere euch wieder glauben, dass es euch auch wirklich um demokratische Werte geht. Ihr könnt noch heute entscheiden, dass in Zukunft 50 Prozent der zu lesenden Literatur, Literatur ist, die von Frauen* geschrieben worden ist. Und wer glaubt, ich würde übertreiben mit meinem Schwarzsehen, der*die bedenke was es macht, aus einer unerschöpflichen Wissensquelle in all den Jahren auf dem Gymnasium gerade mal vier Bücher von Frauen kennenlernen zu dürfen: Bonjour tristesse von Françoise Sagan, Das siebte Kreuz von Anna Seghers, Barrage contre le pacifique von Marguerite Duras und Woman on the Edge of Time von Marge Piercy.

Es ist klar, dass es nicht nur um die Literatur von Frauen* geht, sondern um die doch sehr reichhaltige Literatur aller marginalisierten „Gruppen“. Aber solange der Feminismus als eine der ältesten Emanzipationsbewegungen des Westens nicht endlich als Teil des Humanismus begriffen wird, wird sich auch der Humanismus insgesamt nicht realisieren können. Die Frage, wie der*die andere von der Position einer als zu beschriftenden verstandenen Kategorie hin zu der Position einer/s vollwertigen Dialogpartnerin/s rücken kann, stellt überhaupt erst die Grundlage für jegliches Reden über Wertevielfalt dar.

(1)  Über meine Verwendung des Begriffes „Frau“ will ich Folgendes anmerken: In den Fällen, wo mir bekannt ist, dass eine Person sich selbst als „Frau“ bezeichnet hat oder die Kategorie „Frau“ aus historischen Gründen berechtigt zu sein scheint, schreibe ich den Begriff ohne Klammern. Dort wo der Begriff „Frau“ aber mit dem Horizont der Idee „Frau“ tangiert, setze ich ihn unter Anführungszeichen. Wer „Frau“ ist und wer nicht „Frau“ ist, darüber will ich kein Urteil fällen, weil die Erfahrung zeigt, dass dies nicht von dem subjektiven Empfinden einer jeden einzelnen Person abgetrennt werden kann. Ich behalte die Kategorie „Frau“ gegenwärtig vor allem deswegen bei, um über gewisse gesellschaftliche Diskurse schreiben zu können. Jede, unabhängig von ihrer konkreten persönlichen „Frauengeschichte“, darf sich angesprochen fühlen und keine muss sich als solche definieren, um sich dennoch angesprochen fühlen zu dürfen. Falls es mir in einem Satz wichtig schien ganz besonders auf die Geschlechterdiversität aufmerksam zu machen, habe ich mich für die Form der Frau mit * entschieden.

 

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