„… raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist“, lautet der berühmte Kinderreim, bei dem letztlich nie das genannte Alter entscheidet, ob man noch dabei ist oder nicht. Und selbst wer später im Leben aus dem Gröbsten raus war, war irgendwie immer noch mitten drin. Dabei ist die Mitte gerade in der Zeit-, Alters- und Lebensrechnung immer ein undankbarer Wert, bietet er doch nur wenig sichere Anhaltspunkte über Anfang und Ende. Auch wer sich an der Sprache orientiert, wird die drohende Sinnkrise zeitlich auf die Lebensmitte eingrenzen. Über den Daumen gepeilt, gilt der ungefähre Zeitrahmen zwischen dem Alter von 40 und 60 Jahren als besonders anfällig für die Lebenskrise der Mitte, die, so hatte man zumindest in der Vergangenheit das Gefühl, eher männlich war. Film und Fernsehen hatten dazu beigetragen, dass sich Klischees, etwa vom Erwerb eines PS-starken fahrbaren Untersatzes (in vornehmlich roter Farbe), der Liebelei mit einer weitaus jüngeren Frau oder des veränderten Kleiderstils, als vermeintlich zuverlässiges Symptombild der „Midlife crisis“ durchsetzen konnten. Frauen waren glücklicherweise davon verschont geblieben, hatten sie doch mit den Tücken der Wechseljahre und den damit einhergehenden biologischen Veränderungen genug zu kämpfen. Dass einer als potenziell krisenanfällig identifizierten Lebensphase ein dann doch sehr großzügig ausfallendes Zeitfenster von rund 20 Jahren eingeräumt wird, weist das Konzept der Lebensmitte als einen relativ flexiblen und seine Krise als einen individuell variierenden Richtwert aus.

Als der kanadische Psychoanalytiker Elliott Jacques 1965 in seinem Aufsatz Death and the mid-life crisis1 jenes Phänomen der sogenannten „Midlife crisis“ das erste Mal näher beschrieb, setzte er in der Forschung der kommenden Jahre einen Trend, der die Lebensentwicklung des Menschen vor dem Hintergrund seiner eigenen Sterblichkeit aufschlüsselte. Wer die „Halbzeit“ des Lebens erreicht, sieht seine Koordinaten auf der Zeitachse zwischen den beiden Extrempunkten Geburt und Tod zwangsläufig ein Stück weiter nach vorne verlagert. Mit dem Anbruch der zweiten Lebenshälfte vollziehe sich so unweigerlich eine Umkehr der Zeitrechnung von „Zeit seit der Geburt“ zu „verbleibende Lebenszeit“. Auch wenn der Tod immer noch in weiter Ferne stehe, so ließe er sich nun zumindest nicht mehr verdrängen. Genau diesem unbewussten, natürlichen Verdrängungsmechanismus sei nämlich die Unbeschwertheit des frühen Erwachsenenalters zu verdanken. Zwar wisse der Mensch um seine Vergänglichkeit, sei sich seiner Sterblichkeit aber längst nicht bewusst. Die Einsicht aber, dass die Hälfte des Guthabens an Lebenszeit aufgebraucht ist, schärfe nicht nur den Blick für das, „was bleibt“, sondern verleite den Menschen auch dazu, die Qualität des bisher Gelebten zu re-evaluieren. Statt der Frage „Was willst Du werden, wenn Du groß bist?“, die einst die Kindheit prägte, drängt sich nun die Frage auf: „Was ist aus Dir geworden, da Du groß bist?“ – eine Konfrontation mit den Idealen früher Jugendjahre, dem das bisher Erreichte selten standhalten kann, vor allem wenn der retrospektive Blick die Sicht auf die eigenen Möglichkeiten von früher verklärt. Optionen, gegen die man sich seinerzeit bewusst entschieden hat, werden rückblickend als weit offen stehende Türen und ungenutzte Chancen erinnert. Unterschiedliche Trennungserfahrungen wie die sog. „empty nest-Phase“, Scheidung, Tod der Eltern usw., die in diese kritische Periode hineinspielen, können die Krise begünstigen.

Von der Krise der Lebensmitte zur Viertellebenskrise

Trotz oder vielleicht gerade wegen der nunmehr unüberschaubaren Anzahl an Publikationen zur „Midlife crisis“ bleibt ihr Status innerhalb der Wissenschaft umstritten. Mangels standardisierter und allgemein anerkannter Kriterien hängt ihr der Ruf an, eine bloße Erfindung psychologischer Populärliteratur der 70er Jahre gewesen zu sein. Wer heute als Laie Fachliteratur oder Ratgeber zum Thema „Mittleres Alter“ aufschlägt, wird statt den vermuteten Krisengeplagten nur auf sogenannte „Pro- und Free-Ager“ stoßen, die das einstige Krisengebiet verlassen haben.

Die Krise aber ist geblieben – und man will meinen – jünger geworden. Um die Hälfte, um genau zu sein. In abgewandelter Erscheinungsform, aber mit ähnlich vagem und diffusem Symptombild erobert die „Quarterlife crisis“, die Viertellebenskrise der Mittzwanziger die Ratgeberregale der Buchhandlungen und setzt als Phänomen der vorverlegten „Midlife crisis“ deren Erfolgsgeschichte in der Populärwissenschaft fort. Doch woher kommt das Bedürfnis, verfrüht Bilanz zu ziehen, zu einem Zeitpunkt, an dem das Leben sprichwörtlich erst beginnt? Und woher rührt die Krise der Mittzwanziger?

Life in progress

Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit werden zu den Eigenarten einer Generation der Überflexiblen hochstilisiert. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung zu ihrem Mantra. Was wie eine weitere Aneinanderreihung von Klischees klingt, macht aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive durchaus Sinn. Die Lebenswirklichkeit der Generation der heutigen Mittzwanziger unter den Bedingungen der Postmoderne und Globalisierung ist von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, in denen traditionell identitätsverbürgende Kategorien wie Ethnie, Klasse, Geschlecht zunehmend ihre Bedeutung verlieren. Die Folge: Der Prozess der Identitätsbildung sei potenziell gefährdet, „weil die tradierten gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen für eine stabile soziale Verortung und Einbindung der Menschen zunehmend wegbrechen.“2 Das Wegbrechen von biografischen Lebensankern in Form von sicheren Arbeitsverhältnissen, stabilen Familienstrukturen oder auch einem festen Glauben, die einst kollektive Zugehörigkeit vermittelt haben, begünstigen Individualisierungsprozesse, in denen Identität als ein unabgeschlossener Prozess und das Selbst als „work in progress“ zu begreifen sind.

Vor dem Hintergrund unendlicher Identitätsangebote, Lebensmodelle- und stile und ihren schier unbegrenzten Überschneidungs-, Verknüpfungs-, und Kombinationsmöglichkeiten wird die eigene Biografie zur Konstruktionsaufgabe des Einzelnen. Die Aussicht auf eine selbstbestimmte und individuelle Lebensführung, die als einmalige Chance der kreativen Lebensgestaltung der heutigen Mittzwanziger ausgelegt wird, blendet ihre Verlustseite aus. Wo scheinbar unbegrenzte Wahlfreiheit herrscht, ist Orientierungslosigkeit nicht selten die Folge (man denke an den Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht). Die in Eigenregie zusammengebastelte Biografie kann schnell Überforderung und tiefe Verunsicherung schaffen. Während die Midlife-crisler die Reue über die ungenutzten Chancen der Vergangenheit peinigt, schmerzt die Quarterlife-crisler die Angst vor den möglichen Konsequenzen getroffener Fehlentscheidungen. Haben erstere zum Zeitpunkt ihrer Krise zumindest Familie und Beruf meist erfolgreich etabliert, laufen letztere Gefahr, länger in der Krisenphase zu verharren, weil der Einstieg ins Berufsleben, der ihren Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter markieren sollte, auszubleiben droht. Wer sich in den nächsten Lebensabschnitt nicht erfolgreich eingliedern kann, bleibt erst einmal in der Transitionsphase.

Dass sich Konzepte wie die der „Mid- und Quarterlife crisis“ so erfolgreich durchsetzen können, liegt weniger daran, dass sie einen Befund mit universell gültigem Symptombild liefern, sondern, dass ihre Kriterien allgemein bleiben und die Malaise eines Kulturkreises nachzeichnen, der sich mit der beschriebenen Gefühls- und Lebenslage stark identifizieren kann. Wenn sich unter dem Strich die Krise als biografische Konstante in den Lebenslauf schreibt, bleibt zumindest die Gewissheit, dass sie nicht zwangsläufig an ein bestimmtes Alter gebunden sein muss. Ein Gedanke, der nicht unbedingt für Erleichterung sorgen wird, weiß man doch nie genau, in welcher Lebensphase sie einen ereilen kann. Was bleibt, ist die kleine Genugtuung, dass sich jede/r Mittvierziger*in heute zweimal überlegen wird, ob es sich lohnt, mit einer/m Mittzwanziger*in durchzubrennen. Man weiß ja nie, wer von beiden gerade in einer Krise steckt.

[1] Jaques, E. (1965). „Death and the mid-life crisis.“ The International Journal of Psychoanalysis, 46(4), 502-514.
[2] Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher: Identität, 3., unveränderte Auflage, Bielefeld:transcript, 2010, S. 5.

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