Während einer öffentlichen Vorlesung zur Geschichte der luxemburgischen Literatur an der Universität Luxemburg im Oktober 2019 wies die Literaturwissenschaftlerin Jeanne Glesener ihre Zuhörer darauf hin, dass namhafte Dichter wie Nikolaus Welter oder Paul Palgen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Industrialisierungsprozess des Landes zwar thematisierten, dies aber nur in Gedichten, in denen die Technik der Eisen- und Stahlindustrie und die Ästhetisierung der in ihr sich ballenden Energie den Kern der Werke bildeten. Romane und Erzählungen, die ein Narrativ über Figuren entfaltet hätten, die in diesen Prozess verwickelten waren, gab es nicht zu der Zeit, als aus landflüchtigen Luxemburgern und einwandernden ausländischen Fachkräften in kurzer Zeit eine Arbeiterklasse entstand. Arbeiter, so Glesener, seien nicht Teil des luxemburgischen Imaginaire gewesen.

Insofern man dieses selektive luxemburgische Imaginaire auf die Vorstellungswelt der Literaten und der tonangebenden konservativen und liberalen Milieus, aus denen sie stammten, begrenzt, kann man doch einige historische Kraftlinien feststellen, die sich bis ins letzte Jahrzehnt hinübergerettet haben. So war es schon bemerkenswert, dass die Hälfte der Werktätigen auf dem luxemburgischen Arbeitsmarkt, die sogenannten Grenzgänger, während der Kampagnen zu den letzten nationalen und europäischen Parlamentswahlen von Oktober 2018 und Mai 2019 im politischen Diskurs der Parteien schlicht und einfach nicht vorkamen. Sie waren sozusagen nicht Teil des Imaginaire der um Wählergunst kämpfenden Parteien.

Das Ausblenden der Grenzgänger

Dabei hatte vor den Parlamentswahlen der luxemburgische Staatsbesuch in Frankreich im März 2018 eine kurze Debatte zur Beteiligung Luxemburgs an der Entwicklung der benachbarten Grenzregionen und über eventuelle projektbezogene Steuerrückführungen ausgelöst. Einige Zusagen zu Bahnprojekten konnten der Luxemburger Delegation abgerungen werden. Dies geschah aber weniger aus dem Gedanken heraus, dass das, was der Grenzregion „Grand-Est“ nutzt, auch Luxemburg nutzt, sondern eher aus der Notwendigkeit, die Anbindung des eigenen Bahnnetzes an das französische dauerhaft zu festigen. Jegliche andere Form der Unterstützung wurde strikt abgelehnt. „Je ne veux pas payer la décoration de Noël du maire de la ville frontalière“, zischte der erzürnte Xavier Bettel damals auf dem französischen RTL in einem geübt herablassenden und entrüsteten Ton, als ob ihm Ungebührliches angetragen worden wäre.

Anfang November 2019 äußerte sich Bettel beim Besuch des rheinland-pfälzischen Kabinetts in Senningen ähnlich, nachdem er Briefe einiger deutscher Bürgermeister aus der Grenzregion erhalten hatte. Diese beklagten sich über fehlende Steuereinnahmen wegen der vielen in ihren Kommunen wohnenden Grenzgänger, die in Luxemburg die Lohnsteuer entrichteten, und forderten entweder eine doppelte Besteuerung oder Steuerrückerstattungen. Wieder war das dem Premier zu viel, sodass er während der Pressekonferenz die Opfermiene auflegte, tief Atem nahm, vom Deutschen ins Luxemburgische wechselte und eine beleidigte Suada anstimmte: „Ech akzeptéieren net, dass verschidde Leit probéieren engem d’Gefill ze ginn, ewéi wann déi ganz Grenzregioun misst ënnert dem Lëtzebuerger Wuesstem leiden. Mir schafen Aarbechtsplazen, mir schafe sozial Transferten, mir schafe Renten, mir schafen eng Dynamik hei an der Regioun, déi ganz wichteg ass. Dofir: engem d’Gefill ze ginn, dass ee leit, wann ee Lëtzebuerg als Noper huet, ass fir mech inakzeptabel.“

Die systematische Ablehnung steuerlicher Rückflüsse in die Grenzregionen aus der Wachstumslokomotive Luxemburg, das seinerseits mit steigenden inneren gesellschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, entspricht einer noch relativ jungen und nicht unbedingt dauerhaften wirtschaftlichen Konstellation im SaarLorLux-Raum. Die Verdrängung bestimmter Arbeitskräfte aus dem Imaginaire der tonangebenden Luxemburger gesellschaftlichen und politischen Milieus hingegen ist eine historisch mit Unterbrechungen wiederkehrende Angelegenheit.

Die Realität hat diese Milieus allerdings regelmäßig eingeholt. So mussten die dominierenden Schwarzen und Blauen sich mit den Werktätigen seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder neu arrangieren, bis es mit Hilfe der Sozialisten und des christlich-sozialen Arbeiterflügels allmählich zu dem Sozialstaat kam, wie wir ihn (noch) kennen. Der garantiert die gleichen sozialen Rechte auf dem nationalen Territorium für die dort wohnenden und arbeitenden EU-Bürger, und mit einigen Ausnahmen auch für die aus Drittstaaten. Aber sobald es in unseren Tagen um die Grenzgänger geht, immerhin die Hälfte der Arbeitnehmer in allen Lohnsegmenten und Berufsgruppen, sieht die Sache anders aus, wie es die Affäre um die Studienbeihilfen für Kinder von Grenzgängern seit einem Jahrzehnt zeigt. Warum kommt es immer wieder zur diskursiven und realen Verdrängung dieses unabdingbaren Teils der arbeitenden Bevölkerung? Was sagt diese Verdrängung über das luxemburgische Modell aus, über das Politikverständnis der tonangebenden Milieus, über das, was für sie eigentlich die Polis sein sollte, über ihr Demokratieverständnis, das den politischen Betrieb bestimmt?

Ruhe im Stall

In einem Interview im Lëtzeburger Land Ende November 2019 drückte Premierminister Bettel seinen Wunsch nach mehr Ruhe im Großherzogtum aus: „Ich glaube, dass Luxemburg sich durch sein stabiles Konsensklima von vielen anderen Ländern unterscheidet. (…) Und ich bin der Überzeugung, dass wir die Luxemburger Success Story nur weiterführen können, wenn wir uns in Ruhe mit Themen auseinandersetzen und nicht hyperventilieren.“ Man will, weil man muss, weiterwachsen, und wenn möglich reibungslos, als wäre das Land eine AG, wie schon zu Zeiten von Luc Frieden, der die Bürger des Landes mit Aktionären verglich, die ohne langes Hinterfragen an störungsfreien wirtschaftlichen Abläufen grundsätzlich interessiert sein müssten. Nur der Ton ist weniger rigide, aber die Doxa bleibt dieselbe. Und Frieden mischt als Vorsitzender der Handelskammer auch wieder mit und spricht in seinen Interviews, so zum Beispiel am 2. Oktober bei RTL, wie ein Schattenstaatsminister im Pluralis Majestatis, das ein konsenswilliges Wir aller Luxemburger suggeriert.

Reibungslos läuft aber immer weniger im wirtschaftlich hyperventilierenden Luxemburg ab, dessen Bürgern der Premier das Hyperventilieren abrät. Kern aller Sorgen und Haupthebel des Drucks nach oben auf die Löhne ist das teure und immer teurer werdende Wohnen. Dies trifft in allererster Linie die Einelternfamilien, und dann in der Reihenfolge die jüngeren Familien, in der Regel mit doppeltem Verdienst, aus den niedrigen, mittleren und leicht gehobenen Lohnsegmenten. Der Druck wird besonders stark, wenn keine familiäre Erbmasse vorhanden ist und die Familien die Miete oder den Kredit ohne intergenerationelle Unterstützung bestreiten müssen.

Weil die Regierungen der letzten 35 Jahre bis heute nichts Wirksames gegen die Wohnungsnot getan haben und Premier Bettel als „Kapitän“ seiner Regierungsmannschaft in erwähntem Land-Interview der Meinung ist, dass „der Einfluss des Premierministers zur Lösung des Immobilienproblems (…) doch eher gering“ sei, ist trotz der Ernennung eines neuen Wohnungsbauministers kein Lösungsansatz in Sicht, der den Kern aller Sorgen ursächlich angehen würde. Im Gegenteil: Die letzten Verlautbarungen von Henri Kox sind bestenfalls Bekenntnisse der Rat- und Machtlosigkeit.

Palliative Reformen

Um Reibungsverlusten durch überbordende soziale Spannungen in Luxemburg aus dem Wege zu gehen, geht Gambia II, wie schon Gambia I zuvor, weiter palliativ vor. Wenn den betroffenen Familien der Verdienst oder Doppelverdienst nicht reicht, muss Unterstützung her, für die einen, damit sie wirtschaftlich überleben können, für die anderen, die jüngere mittelständische Zielgruppe der Koalitionsparteien, insbesondere die der Liberalen, damit der Schein der standesgemäßen Lebensweise gewahrt werden kann.

Es gab nacheinander die Reform des Kindergelds – Desindexierung und Angleichung ab dem zweiten Kind auf das Niveau des ersten –, die die Familien mit weniger Verdienst und vielen Kindern besonders schwer traf, dann die der Steuer­vergünstigungen für Kinder, die wiederum den Familien mit mittleren Einkommen eher half als denen mit geringem Verdienst, dann die Verallgemeinerung der Tagesstätten für eingeschulte Kinder, denen dieses Abgeparktwerden nicht sonderlich gut tut, wie neuerliche Berichte von betroffenen Eltern, Erziehern und Lehrern zeigen, und nach der Einführung des Elternurlaubs, der eher gut ankommt, die der Gratisschulbücher. Als Zugabe kann die im ersten Anlauf auf 400 Millionen Euro veranschlagte Einführung des Gratis-ÖPNV bewertet werden. Nicht unwesentlich ist die Tatsache, dass viele dieser neuen Leistungen den steuerzahlenden Grenzgängern nur teilweise oder gar nicht zugutekommen.

Die von den Grenzgängern mitfinanzierten eingeleiteten Reformen sind ganz klar nach innen gerichtet. Und sie sind sehr kostspielig. Die Grenzgänger blendet man deshalb präventiv aus dem politischen Diskurs aus. Über die Kosten der Reformen und ihre palliative Wirkung fehlt noch immer ein synthetischer Bericht. Das alles wird nach außen auf eine sehr leichte Schulter genommen. Im Januar 2019 witzelte die Familienministerin in einem Paperjam-Interview über die Frage, wie diese Reformen liefen: „Ça marche presque trop bien, du point de vue de mon collègue ministre des Finances, qui trouve que cela coûte très cher! [rires] Mais nous allons continuer à investir dans la work-life balance, car, de nos jours, il me paraît irresponsable, quand on a des enfants, d’arrêter complètement de travailler.“ In anderen Worten: Damit die Luxemburg AG funktioniert, wie man es sich in den „Lëtz make it happen“-Streifen vormacht, nimmt man die Steuergelder der Grenzgänger, um die Probleme der ansässigen Arbeitnehmer zu lindern, und weil das nicht reicht, versucht man das Modell des Doppelverdienstes in allen Familien durchzusetzen. Die Gesellschaftsmodernisierungs- und Gleichberechtigungsrhetorik sind hier nur ideologischer Firnis.

Der Wohnungsnot ist damit aber nicht abgeholfen. Im November 2019 wurde der Zugang zum Immobilienkredit aus makro-prudenziellen Gründen durch eine Gesetzesnovelle weiter eingeschränkt, um einer Überschuldung der einer eventuellen Zinserhöhung ausgesetzten stark verschuldeten Haushalte mit geringem oder mittlerem Einkommen vorzubeugen.

In anderen Worten: Die Zahl der Haushalte, denen der Ausweg aus den hohen und zuletzt zweistellig steigenden Mietzahlungen verbarrikadiert ist, wird stark zunehmen. Gleichzeitig genehmigt die Stadt Luxemburg die Einrichtung von Smartflats, Apparthotels und ähnlichen Airbnb-trächtigen Projekten in Wohnvierteln, weil der Stadtbebauungsplan es hergibt. Der Spielraum für Immobilien-Holdings auf dem Immobilienmarkt wird damit größer, und die einfachen Bewohner werden mittelfristig unweigerlich aus den Stadtvierteln verdrängt werden. Aus der seit den 1980er Jahren zu beobachtenden beruflichen Verdrängung der alteingesessenen Bewohner Luxemburgs an die Peripherie der Finanzindustrie wird eine Verdrängung der Normalverdiener aus der Stadt. Umverteilung hier, Umverteilung da, den Einwohnern Luxemburgs – bis hin zum höheren mittleren Lohnsegment – geht’s immer spürbarer an den Kragen.

Individualisierung als gesellschaftliche Reform

Die teuren palliativen Reformen müssen nach dem berüchtigten technokratischen und demokratiefeindlichen TINA-Prinzip (there is no alternative) finanziert werden. Das soll die angekündigte Steuerreform bewerkstelligen, die explizit und wiederholt von Finanzminister Gramegna und Familienministerin Cahen in verschiedenen Medien auch als „große gesellschaftliche Reform“ dargestellt bis gepriesen wurde. Hier ist das Stichwort „Individualisierung“ Trumpf. Die Regierung will alle Steuerzahler, auch die Partner, die im Rahmen der zivilen Ehe oder des Zivilpaktes leben, künftig individuell besteuern. Vergütungen gibt es nur, wenn Kinder im Haushalt leben. Es ist die Rede von steuerlicher Diskriminierung gegenüber den Junggesellen und den Familien nichtverheirateter Partner.

2016 wurden 42,6% der Kinder außerhalb der Ehe geboren. Dass dieser Entwicklung steuerpolitisch Rechnung getragen werden muss, liegt auf der Hand. Was aber von Regierungsseite geschieht, ist eine systematische Diskreditierung der Zivilehe bzw. des Zivilpaktes, die jeweils ganz andere gegenseitige juristische Verpflichtungen der Partner untereinander und gegenüber Nachkommen und Aszendenten nach sich ziehen und denen mit dem Totschlag­argument der Diskriminierung nicht die mindeste Rechnung getragen wird. Und das ungeachtet der Tatsache, dass nach der letzten Volkszählung von 2011 88,1% der Menschen, die in Luxemburg zusammenleben, verheiratet sind.

Nachdem in der ersten Amtszeit der Gambia-Regierung die religiösen Gemeinschaften als Sündenbock herhalten mussten, sind nun die zivile Ehe und kollateral der Zivilpakt die Bauernopfer, auch weil vertraglich abgesicherte und gesetzlich geschützte familiäre Partnerschaften einen Ort stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalts bilden, von dem aus ziviles Engagement, auch gegenüber Regierungsmaßnahmen, besser durchzuhalten ist. Also baut sich die Regierung eine „große gesellschaftliche Reform“ von oben, die im Parlament nicht einmal eine qualifizierte Mehrheit braucht, und erklärt in ihrem ungebändigten Drang nach Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft verheiratete und verpartnerte Menschen zu juristisch distinkten Parteien in Sachen Steuern. Und niemand muckt auf, nicht einmal in der konservativen Ecke.

Die Referendumsschlappe von 2015

Es scheint offensichtlich, dass die Gambia-Regierung sich eine andere Gesellschaft wünscht als die, aus der ihr Wahlvolk besteht, auch wenn es zu dem Wesen einer solch anderen Gesellschaft weder reflektierte Klarheit noch Einigkeit in der Koalition gibt. 2014/2015 wollte die Koalition in dem Sinne dennoch Großes leisten. Ausgehend von der durchaus berechtigten Sorge, dass es in Luxemburg wirklich ein Demokratieproblem gibt und dass eine stärkere politische Beteiligung der Nicht-Luxemburger über die Kommunal- und Europawahlen hinaus eine auf Dauer unumgängliche Sache ist, wollte sie, schlecht vorbereitet, die Sache mit dem „Ausländerwahlrecht“ im Hauruckverfahren qua Referendum durchsetzen.

Es wurden zwar vernünftig anmutende Bedingungen für die Erlangung dieses Wahlrechts aufgestellt. Aber der Regierungsvorschlag beschränkte sich nicht auf EU-Bürger, sondern wollte das nationale Wahlrecht auch auf Leute aus Drittländern – z.B. Chinesen, Russen, Amerikaner, Nigerianer – ausdehnen, Bürger aus Ländern, die entweder Diktaturen sind oder zumindest weder die Interessenslage Luxemburgs noch das hiesige Demokratieverständnis wirklich teilen. Außerdem hatte die Regierung es versäumt zu thematisieren, dass dieses nationale Wahlrecht auch für die vielen Diaspora-Luxemburger in den jeweiligen anderen Ländern gelten müsste. Dabei hätte sich eine solche Frage der gegenseitigen Gewährung des nationalen Wahlrechts im Rahmen der EU durchaus aufgedrängt. Kurzum: Die von der Regierung gewollte unilaterale Devolution eines wesentlichen Rechtsattributs der Staatsbürgerschaft konnte nur als eine verstörende Preisgabe von Souveränitätsrechten wahrgenommen werden. Die Regierung ist beim Referendum daher nicht an der angeblichen Xenophobie der Luxemburger gescheitert, wie danach mit Herablassung von vielen Seiten behauptet wurde, sondern am eigenen Amateurismus und dem intuitiven Unbehagen der Wähler, dass etwas mit dem Vorschlag nicht stimmte. Für die Demokratie des Landes war das langfristig ein Rückschlag und eine verpasste Gelegenheit, Demokratie und Demographie ansatzweise ins Lot zu bringen.

Der Verfassungsdeal von 2019

Eigentlich müsste in einer Demokratie die Opposition, besonders die größte Oppositionspartei CSV, einen Gegendiskurs entwickeln. Vom Starrkrampf der doppelten Niederlage 2013 und 2018 befallen, aber auch von der Befangenheit gelähmt, die von ihrer notorischen Mitschuld an vielen gesellschaftlichen Engpässen herrührt, die sich schon während ihrer Regierungsbeteiligungen seit 1979 anbahnten, hat sie das nicht nur nicht gekonnt, sondern hat dann Ende November 2019 als eine der vier großen Parteien munter mitgemischt, um eine umfassende Verfassungsreform zu verhindern, die nach über 15 Jahren Arbeit den Bürgern vorgelegt werden sollte. Diese soll nun stückchenweise mit qualifizierter Mehrheit im Parlament durchgezogen werden. Das passt der Regierung, weil sie als gebranntes Kind einem lästigen Referendum, der obligaten Informationskampagne und der direkten Tuchfühlung mit dem Wahlvolk entgehen kann, und der CSV passt es auch, weil sie der Regierung nicht als unfreiwilliger Statist zu einem eventuellen Referendumserfolg verhelfen will oder muss.

Indes, es ist überhaupt nicht sicher, dass aus der stückchenweise geplanten Verabschiedung der neuen Verfassungsartikel ein in sich schlüssiger Text entsteht. Paul-Henri Meyers, der „Vater“ der Verfassungsrevision, von seiner Partei, der CSV, vor der Entscheidung zum Verfassungsdeal nicht konsultiert, hat diesen Aspekt am 5. Dezember 2019 in einem Gespräch mit dem Tageblatt auf den Punkt gebracht: „Die Verfassung darf kein Flickwerk sein.“ Und er hat das Kohärenzprinzip unterstrichen: „Das Wichtigste ist, dass die einzelnen Artikel der Verfassung nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, sondern zusammenhängen.“

Luxemburgs Demokratie erlebt mit dem Verfassungsdeal der vier großen Parteien in dem aktuellen politisch-kulturellen Kontext ein gefährliches Moment. In einer klassischen und gut funktionierenden Demokratie, in der die Öffentlichkeit sich die Eckpunkte der Verfassungsdebatte angeeignet hätte, hätten jetzt viele Bürger aufmucken und der Hybris des Parlaments ihren Protest entgegensetzen können. Bis jetzt aber blieb es ruhig. Besonders das junge gebildete Wahlvolk, die Zielgruppe der DP, will und kann große Veränderungen nicht wagen, die z.B. ein politischer Wechsel mit sich bringen könnte. Es herrscht Lähmung im Kern der luxemburgischen Gesellschaft, wenn es darum geht, geteilte Sorgen um ureigene Grundbedürfnisse in Diskurs und Handeln umzuwandeln.

Die Auflösung der traditionellen Milieus

Diese Lähmung hat eine Geschichte. Die alten traditionellen Milieus – das Arbeitermilieu, das katholische Milieu und Teile des Bürgertums, die dem einen oder anderen dieser Milieus zur Seite standen –, aus denen heraus sich über eine lange Zeit kollektive Interessen vertreten ließen, haben sich seit der Mitte der 80er Jahre aufgelöst. Das geschah ironischerweise während der 15 Jahre währenden CSV-LSAP-Koalition zwischen 1984 und 1999. Neben der Säkularisierung ist dieser Prozess die Folge des Abbaus der Stahlindustrie und der Verwandlung Luxemburgs durch eine Finanzindustrie, die die Mehrzahl der damaligen Einwohner mit einem relativ zufriedenstellenden Einkommen an die Peripherie dieses neuen zentralen Wirtschaftszweigs verdrängte.

In diesem Kontext der gesellschaftlichen Fragmentierung und des zunehmenden Drucks der Wohnkosten auf den wirtschaftlichen Spielraum der Haushalte wissen viele Menschen nicht mehr, von welchem Standort aus sie ihre Interessen formulieren sollen und wem sie sich anschließen sollen. Die tonangebende Doxa ist jetzt die liberale Illusion, dass das Individuum es alleine schaffen kann, ganz im Einklang mit der besonders von der DP geförderten Zwangsindividualisierungspolitik der Regierung. Es ist diese Entwicklung, die die relative Stärke der DP, das Erstarken der Grünen und die steigende Zahl der im Parlament vertretenen Parteien erklärt.

Die Auflösung der traditionellen Milieus, des christlichen und des Arbeitermilieus, haben vor allem die Volksparteien CSV und LSAP getroffen. Dazu kommt, dass die beiden Volksparteien es über Jahre versäumt haben, die seit über 30 Jahren sich ankündigende Wohnungsnot ernst zu nehmen, weil ein großer Teil ihrer Klientel zu dem Zeitpunkt sich und die eigenen Nachkommen als versorgt wähnte. Für die zu kurz gekommenen Nachkommen sind diese Parteien daher kein tauglicher Standort mehr, von dem aus eine nachhaltige Politik sich entwickeln könnte – und für die Ehrgeizigen kein Sprungbrett mehr für eine Karriere.

Liberales und Grünes Milieu

Das liberale Milieu hingegen konnte sich diesem Trend entziehen. Es ist ein chamäleonhaftes, selektiv offenes und pragmatisches Milieu. Es besteht aus Klein- und Mittelunternehmern, unabhängigen Berufen, Beratern und Juristen im Dienst der Finanzindustrie, Leuten aus dem Show-Business. Auch viele Jüngere im Mittelbau des öffentlichen Dienstes haben eine Schwäche für dieses Milieu entwickelt, weil es die Hoffnung vermittelt, schnell über sich hinauswachsen zu können. Das schlägt sich u.a. im außergewöhnlich hohen Anteil solcher Leute im leitenden politischen Personal der DP nieder. Kraft seiner ideologischen Gleichgültigkeit bis Beliebigkeit, seiner Wandelbarkeit und der jugendlich-libertinen Aura seiner neuen Leader, die suggerieren, dass es dort noch was zu holen gibt, konnte das liberale Milieu nach Jahren des elektoralen Dahinsiechens seit 2013 die Schwächen der angeschlagenen, im Kern nicht so wandelbaren traditionellen Milieus für sich ausschlachten.

Die Grünen stellen in dieser Konstellation ein neues, in gewisser Weise synkretistisches Milieu dar. Neben dem ureigenen ökologischen Fundus bieten sie sich auch als Projektionsfläche an für durchaus widersprüchliche Hoffnungen, die ebenfalls in dem jeweiligen bürgerlichen Teil der angeschlagenen Milieus gehegt wurden und kontinuierliche und ausschlaggebende Wählerwanderungen gezeitigt haben. Sie bedienen die Sorge um die Schöpfung, den Wunsch, Soziales und Umwelt in Einklang zu bringen, den Pazifismus, einen Überrest Protestkultur oder auch die Kritik am wilden Wachstum. Ihre größte Schwäche aber ist die Konfrontation mit den Zwängen eines überhungrigen Haushalts und den Kräfte­verhältnissen in der Koalition in Sachen Klimaplan. Bei der CO2-Steuer sind sie schlichtweg eingeknickt, und das könnte mittelfristig Folgen haben.

Von oben herab

Durch die Auflösung der traditionellen und die Heterogenität der liberalen und grünen Milieus hat die repräsentative Demokratie in Luxemburg zu Beginn des neuen Jahres einen schwachen Stand. Die partizipative Demokratie, die sich embryonal in den Anhörungen von Petitionären im Parlament entfaltet, bezieht sich nur selten auf Fragen, die für die Allgemeinheit relevant sind, und allzu oft auf korporative Angelegenheiten und NIMBY-Probleme (not in my backyard), die den liberalen Individualisierungsbestrebungen zupass­kommen. Die Tripartite ist quasi tot.
Was aber gut funktioniert, ist das oft rücksichtslose Von-Oben-Herab der tonangebenden Liberalen und Grünen, das zwischen sich ausbreitender Wohnungsnot, nicht enden wollenden Baustellen und strukturellem Verkehrsinfarkt den aufreibenden Alltag taktet. Um ihre Politik durchzusetzen, haben sie über sechzig politische Ernennungen von hohen Beamten auf der Ebene Regierungsrat und aufwärts vorgenommen, Fallschirmspringer, die man bei einem politischen Wechsel nicht mehr so leicht loswerden wird, um die Regierungspolitik auch gegen die zuständigen Verwaltungen durchzusetzen. Es handelt sich um Leute, die selten Ahnung davon haben, wie ein Staat funktioniert – und die auch nicht darauf vorbereitet wurden. Einige sitzen für den Staat in mehreren sehr einträglichen Verwaltungsräten und verdienen mehr als ihre Minister, wie es ihnen Vize-Premier Schneider seinerzeit als Premier conseiller vorgemacht hat. Das sorgt für dickes Blut in der hohen Verwaltung, relativiert aber auch die Verfügbarkeit dieser hektischen Neophyten für ihren Kernauftrag. Traditionelle hohe Beamte, die ihre sachlichen oder rechtlichen Bedenken in relevanten Fragen mit Nachdruck aufwerfen, werden gerne auf ein Abstellgleis verfrachtet. Die Abgänge, notorische und weniger notorische, häufen sich. Die Stimmung ist nicht gut. Und das hat Folgen für die Demokratie.

Demokratische Müdigkeit

Es ist kein Zufall, dass sich gerade in einem solchen Kontext die Pannen und Affären häufen. Allein 2019 ging es um Datenbanken, den Film-Fund, die Personalpolitik am Hof, Radio 100,7, um Traversini und um Cahen. Das Versagen, die Nervosität sowie die Hybris der Regierung in wichtigen Dossiers werden täglich offenbarer. Dennoch kann nicht von einer breiten öffentlichen Reaktion gesprochen werden. Eine Diskussion über die Governance von Gambia II findet im besten Fall in kleinen Zirkeln statt.

Weil die demokratische Müdigkeit aber die Probleme des Landes nicht schrumpfen lässt, werden in der Presse, dem einzigen Ort, wo Politik noch wirklich dokumentiert und diskutiert wird, die Beiträge heftiger. Mit Titeln wie Mehr Schiss als Motivation oder Xavier Bettel hat fertig, die am 29. November und 7. Dezember 2019 im heutzutage eher zurückhaltenden Luxemburger Wort unter der Feder von Michèle Gantenbein zur Wohnungsnot und ihren Folgen zu lesen waren, oder dem „Bananenrepublik“-Kommentar von Luc Laboulle zum Verfassungsdeal im Tageblatt vom 5. Dezember werden in Analysen neue Töne angeschlagen, die ein breiteres Unbehagen zur Sprache bringen.

Dabei bleibt’s aber, weil keine politische Bewegung in der Lage ist, dieses Unbehagen in politisches Handeln oder einen Diskurs zu überführen, der die immer komplexer werdende Gesellschaft der in Luxemburg wohnenden Menschen als Verfassungsnation zusammenschweißen und den Staat als Garant der Rechte und des gesellschaftlichen Ausgleichs zwischen all seinen Einwohnern und den hier arbeitenden Menschen rüsten könnte. Wenn kreatives Aufbegehren ausbleibt und der informierte Bürger vor der Wahlurne nicht mehr weiß, wen er wählen soll, wenn der subventionierte Bürger den Wechsel fürchtet, weil die Zuwendungen ausbleiben könnten, die sein Konto vorläufig noch vor roten Zahlen bewahren, dann steckt die luxemburgische Demokratie in einer Sackgasse, auf die die sich jetzt schon ausbreitende gähnende politische Leere, man darf auch Chaos sagen, nur einen faden Vorgeschmack liefert.

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