Im Sommer 1998 ging ich zum ersten Mal die breite Treppe des Stater Kolléisch hinauf und erblickte den bronzenen Jüngling, der fackeltragend das Schulgebäude hinter sich lässt. Die plakative Symbolik vom gesunden Geist im gesunden Körper und der Flamme der Erkenntnis, die in die Welt getragen wird, erschließt sich auch ohne dass man hier die Schulbank gedrückt hat. 

Diese Bronzeskulptur der Künstlerin Nina ­Jascinsky trat dieses Jahr aus einem traurigen Anlass ins öffentliche Bewusstsein. Der im Februar verstorbene luxemburgische Künstler Henri Kraus hatte als Kolléisch-Schüler Anfang der 1960er Jahre monatelang Modell für die Skulptur gestanden. Man schmunzelt, wenn man liest, dass Kraus die Flamme der Fackel später mit Softeis verglich1. Selbst empfand er das Werk als „idealisiert, fast marxistisch, sehr osteuropäisch“2. Die geographische Verortung kommt nicht von ungefähr. Die 1903 geborene Jascinsky stammte aus Bessarabien, der heutigen Republik Moldau. Mit 25 Jahren zog sie nach Belgien und studierte an der Königlichen Akademie der Schönen Künste in Brüssel Malerei und Bildhauerei. Als Studentin gewann sie mehrere Preise und es gelang ihr auch nach dem Studium, sich einen Namen zu machen, was die zahlreichen Auftragsarbeiten und nicht zuletzt die Einzelausstellung 1938 im Brüsseler Palast der Schönen Künste bezeugen. In Brüssel lernte sie auch ihren künftigen Ehemann kennen. Durch Pierre Grach kam sie nicht nur nach Luxemburg, sondern man kann mutmaßen, dass er als mitverantwortlicher Architekt des neuen Kolléisch-Gebäudes einen entscheidenden Einfluss hatte, als es um die Auftragsvergabe für die Skulptur auf dem Vorplatz ging. Es blieb nicht das einzige Werk der Künstlerin in Luxemburg. Ein weiteres Beispiel ist das Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Wiltz von 1962.

Von all dem wusste ich nichts, als ich die Stufen zu dem modernistischen Bau hochging. Auch ahnte ich nicht, dass dieses Werk vor dem ehemals reinen Jungen-Gymnasium von einer Frau geschaffen wurde und hätte es auch nicht herausfinden können, da dem Sockel der Skulptur jegliche Inschrift fehlt. Ich fragte mich nur, wie anders der Eindruck doch wäre, liefe der Prometheus in umgekehrte Richtung. Trägt er dann Eulen nach Athen oder wird er zum Brandstifter?

© Philippe Reuter / forum | Illustration: Chantal Maquet

Dass dieses Bild von einem Streber von den Schüler*innen nicht ganz ernst genommen wird, ahnt man, sobald man seinen Namen hört: Datzemisch. Und genau dieser Umgang mit dem Werk interessiert mich heute. Nichts ist trauriger als ein Kunstwerk, das niemand beachtet. Und auch wenn der Datzemisch jahrein, jahraus regungslos den vorbeiziehenden Schülerscharen zusehen muss, erwecken die Primaner*innen ihn regelmäßig kurz vor den Abschlussexamen zu neuem Leben. Dabei kehren sie auf nonchalante Art und Weise die Geschichte des Prometheus um. Laut griechischer Mythologie schuf der Titan die Menschen aus Lehm und brachte ihnen später das Feuer.

Um den künstlerischen Wert der einzelnen Interventionen soll es hier nicht gehen, sondern darum, dass sie stattfinden. Ob im knappen Tutu, mit Ghettoblaster, Sonnenbrille und Badehose oder schwanger im goldenen Kleid: jede Verkleidung wirkt wie ein Comic Relief und eine Übersprungshandlung kurz vor den anstrengenden Examenswochen.

Sicherlich lastet ein gewisser Druck auf jedem Jahrgang, nicht mit dieser Tradition zu brechen. Zumindest dachte ich das. Denn es ist nicht nur schade, dass zu diesem Artikel das passende Foto fehlt. Vor allem ist es bedauernswert, dass es den Primaner*innen in den letzten Jahren nicht immer gelang, sich zu organisieren. Ob die Zeit im Lockdown verhindert hat, dass sich das dazu notwendige Gruppengefühl entwickeln konnte, bleibt eine Mutmaßung. Trotzdem empfinde ich Mitleid mit dem unbeachteten Datzemisch und nutze die Gelegenheit, ihn zumindest für diesen Text zu verkleiden und gleichzeitig dem Modell stehenden, späteren Künstler Henri Kraus die Ehre zu erweisen.  


Chantal Maquet ist eine multidisziplinäre Künstlerin und für ihre farbinstensive Malerei bekannt. Dabei rückt die Wahl-Hamburgerin immer wieder gesellschaftskritische Themen in den Fokus ihrer Kunst. 2022 erschien ihre Graphic Novel Rassismus, Kolonialismus, Diskriminéierung. Dat huet jo näischt mat mir ze dinn. 


1 Edouard Kayser, La statue du ‚Datzemisch‘ et son modèle, une histoire méconnue; in: (kollektiv), De Kolléisch 2017, Festschrëft (…); Lëtzebuerg (Éditions de l’Athénée & Print Solutions), 2018; 2 Bänn; hier, Band I, Ss. 134-141 (ill.).

2 zitiert nach Inna Gannschow, Drei Leben der Bildhauerin Nina Grach-Jascinsky; in: Luxemburger Wort, die Warte, 01.04.2021 Menschen zur Zerstörung der Welt, München, Beck, 2023, S. 318 f.

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