Der Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung
Eine Frage des guten Willens?
Erinnern Sie sich kurz an das Lebensmittel, welches Sie zuletzt weggeschmissen haben. Was hat Sie dazu bewegt? Ist es auf dem Heimweg beschädigt worden? Haben Sie es schlicht im Kühlschrank vergessen? War das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten? Oder hat es Sie geschmacklich nicht überzeugt? Was auch immer der Grund gewesen sein mag, überlegen Sie sich nun, ob und wie Sie dies hätten verhindern können.
Das große Wegwerfen
In Luxemburg fallen 72 % der Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten an.1 Hauptgründe sind übermäßiges Einkaufen, falsche Lagerung, Bequemlichkeit sowie eine falsche Interpretation des Mindesthaltbarkeitsdatums. Zusammen mit den Bereichen Gastronomie, Handel und Großküchen sind es 124 Kilogramm verschwendete Lebensmittel pro Person pro Jahr in Luxemburg.2 Anzumerken ist hier, dass der Wohlstand der Verbraucher*innen mit der Menge an weggeworfenem Essen korreliert und viele Studien nur die Hälfte dieser Menge annehmen.3
Global betrachtet, landet rund ein Drittel aller Lebensmittel, die weltweit produziert werden, im Müll.4 Entlang der Wertschöpfungskette gibt es diverse Ursachen. Gemüse und Obst entsprechen oft nicht den etablierten Vermarktungsnormen und bleiben in vielen Fällen aus Mangel an finanziell tragbaren alternativen Verwendungszwecken ungenutzt auf den Äckern liegen. Neben der systematischen Überproduktion in der Lebensmittelindustrie wird auch auf den meist langen Transportwegen ein Teil der Lebensmittel beschädigt.
Aus ökologischer Sicht stellt die Lebensmittelverschwendung einen der überraschenderen Mitauslöser der aktuellen Klimakrise dar. So stellten Lebensmittelverlust und -verschwendung 8 bis 10 % aller Treibhausgasemissionen zwischen 2010 und 2016 dar.5 Diese entstehen bei der Umwandlung natürlicher Flächen in landwirtschaftliche Nutzflächen, der Düngung, dem Transport, der Lagerung, der Weiterverarbeitung bis hin zur Entsorgung.6 Zudem geht so ein Drittel der zur Lebensmittelproduktion benötigten Wassermengen verloren.
Der Handel sieht sich oftmals gezwungen, große Mengen an Lebensmitteln zu entsorgen, die nicht mehr verkäuflich sind. Dies einerseits wegen gesetzlicher Bestimmungen, z. B. wegen überschrittener Mindesthaltbarkeitsdaten, andererseits wegen unschöner Stellen an Obst und Gemüse, beschädigten Verpackungen und Ähnlichem, weshalb es den äußert verwöhnten Kund*innen unserer Gesellschaft wortwörtlich nicht in die (Einkaufs-)Tüte kommt. Aber einiges, was unserem bequemen Konsumverhalten entgegenkommt, wie z. B. das Vorverpacken von Obst und Gemüse, trägt stark zur Verschwendung bei. Eine schimmelige Orange unter zehn in einem Netz verlangt die Entsorgung des ganzen Gebindes. Nur teilweise ist es den Mitarbeiter*innen der Lebensmittelbetriebe erlaubt, beschädigte und abgelaufene Ware kostenlos oder zu stark reduzierten Preisen mit nach Hause zu nehmen. Unmengen an noch genießbarem Essen landen so täglich bei kleinen und großen Verkaufsstellen im Müll.
Gegen diese Probleme gibt es verschiedene Lösungsansätze, welche nur einige Teile der systemimmanenten Problematiken ausgleichen. Supermärkte können bestimmte Aktionen durchführen, etwa Preissenkungen auf Produkte anbieten, die sich dem Mindesthaltbarkeitsdatums nähern. So eine Aktion kann durch technische Lösungen, wie die App Food4All7, welche auf preisreduzierte Ware hinweist, ergänzt werden.
Aktivistische Gegenstrategien
Angesichts der Mengen an genießbaren Lebensmitteln, die seit Jahrzehnten bei uns in den Tonnen des Großhandels landen auf der einen Seite, und global fast einer Milliarde hungerleidender Menschen auf der anderen Seite8, kommt bei einigen der Wille auf, etwas dagegen zu tun. Eine der frühesten Aktionsformen ist das sogenannte Containern (im Englischen dumpster diving). Das Prinzip ist simpel: Die Abfallbehälter, oft große Container der Betriebe, werden nach Genießbarem durchsucht. Eine sehr rentable Angelegenheit. Laut Aussagen einzelner Mülltaucher*innen ist meist das Vielfache von dem vorhanden, was man als Einzelperson mitzunehmen vermag. Da die Inhalte der Müllcontainer den Betrieben gehören, das Entwenden somit Diebstahl gleichkommt und einige Supermärkte stark überwacht oder abgeriegelt sind, gehen hier im Land nur wenige dieser Aktivität nach. Einer Mülltaucherin zufolge, die anonym bleiben will, riegeln manche Betriebe ihre Container nicht nur mit Schlössern ab, sondern verbarrikadieren sie mit Paletten voll Ziegelsteinen, die allabendlich mit Gabelstaplern gezielt platziert werden. Eine derartige Sicherung der Abfallentsorgungsstellen, die die Verschwendung einer noch so geringen kostenlosen Verwendung vorzieht, gibt stark über die Werte unserer Gesellschaft zu denken.
Anders sieht die Aktivität der jungen Organisation Foodsharing Luxembourg9 aus. Der im August 2019 registrierte Verein ohne Gewinnzweck (a.s.b.l.) orientiert sich an den Aktivitäten des deutschen Vereins Foodsharing, der seit 2012 bundesweit agiert und im Juni 2020 über 75.000 Freiwillige zählt.10 Das im englischen Namen bezeichnete Teilen von Essen wird auf verschiedene Arten systematisch umgesetzt.
Hauptaktivität von Foodsharing ist die Kooperation mit Lebensmittelbetrieben – von großen Supermärkten, über Restaurants hin zu Einzelhandels-Bäckereien und Cafés. Lokale Teams mit Freiwilligen, sogenannte Foodsaver*innen, holen an vereinbarten Zeitpunkten unverkäufliche aber noch genießbare Lebensmittel ab, um sie anschließend bedingungslos zu fair-teilen. Bedingungslos bedeutet hierbei, dass niemand bevorzugt wird, da Foodsharing keine karitative Organisation ist. Es steht dabei selbstverständlich allen Foodsaver*innen frei, ihre Abholung zu Hilfsorganisationen zu bringen. Einzige Vorgabe für die Weitergabe ist allein die Unentgeltlichkeit. Hauptziel ist, die Verschwendung der Lebensmittel zu vermeiden. Diese regelmäßigen Kooperationen sind ausgehandelt und dienen nicht einzig und allein einem guten Gewissen oder grünen Marketing, sondern ersparen vielen Betrieben einiges an Entsorgungskosten.
Neben den betrieblichen Kooperationen dienen ebenfalls sogenannte Fair-teiler oder Foodsharing Points dem Austausch von Essen. Diese öffentlich zugänglichen Orte, die meist aus einem Kühlschrank und/oder Regal bestehen, dienen dem privaten Austausch von Lebensmitteln. Foodsharing als Organisation übernimmt hier lediglich eine hygienische Kontrollfunktion nach der anfänglichen Einrichtung. Foodsharing Luxembourg ist zurzeit mit mehreren Partnerorganisationen im Gespräch über die Einrichtung solcher Foodsharing Points.
Des Weiteren ist Foodsharing für die Aufklärung über das Thema mit Infoständen bei Veranstaltungen wie alternativen Lebensmittelmärkten oder Festivals präsent. Auch neue aktive Mitglieder anzuwerben, ist für die junge Organisation wichtig, denn je mehr Freiwillige über das Land verteilt helfen, desto lokaler und ökologischer können die Rettungsteams agieren. Foodsharing Luxembourg zählt aktuell11 30 Foodsaver*innen, fünf regelmäßige Kooperationen, eine Tonne gerettete Nahrungsmittel und freut sich über großes Interesse.
Die Arbeit der ehrenamtlichen Foodsaver*innen bleibt jedoch abhängig von der bereitwilligen Zusammenarbeit einzelner Filialleitungen. In Luxemburg existiert keine Spende-Pflicht für große Supermärkte, wie es in Frankreich seit 2016 der Fall ist.12 „Der Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung beruht auf gutem Willen“13 – in einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft sind jedoch viele gute Absichten wegen Unwirtschaftlichkeit zum Scheitern verurteilt.
Der Gesetzgeber ist gefragt
Hier ist ganz klar die Politik gefordert. Sie muss die nötigen Anreize, Gesetze und Rahmenbedingungen schaffen, die eine weitreichende Vermeidung von Lebensmittelverschwendung ermöglichen. Auf nationaler Ebene wäre eine Verpflichtung zu präventiven Maßnahmen sinnvoll, z. B. durch Preissenkung auf Waren kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Darüber hinaus muss es Betrieben nach französischem Vorbild verboten werden, noch genießbare Lebensmittel zu entsorgen. Die Praxis im Nachbarland führte darüber hinaus zu neuen Geschäftsmodellen und Jobs in der Verwaltung dieser Nahrungsspenden. Mit ihnen können steuerliche Vorteile für die Lebensmittelbetriebe einhergehen, wie ebenfalls bereits in Frankreich und in Italien umgesetzt. Die Ausmaße dieser steuerlichen Anreize müssen jedoch feinfühlig ausbalanciert werden, sodass es Betriebe nicht dazu verleitet, übermäßig Waren zu bestellen, wenn Verluste durch Steuererleichterungen nicht mehr unrentabel sind.14 Auch in Einrichtungen wie Mensen und Kindertagesstätten, die aktuell gezwungen sind, (unangetastete) Mahlzeiten wegzuschmeißen, muss nicht nur die bloße Möglichkeit des Spendens, sondern die Verpflichtung hierzu eingeführt werden.
Darüber hinaus ist es wichtig, eine Rechtssicherheit für das Retten noch genießbarer Lebensmittel einzuführen, da die ehrenamtlichen Lebensmittelretter*innen aktuell für die Weitergabe haften. Die Spendenden sowie die weitergebenden Organisationen sollten bei der Weitergabe nach bestem Gewissen, sorglicher Handhabung und offener Kommunikation von einer Haftung befreit werden wie beispielsweise in Italien.15
Die Kampagne Antigaspi16 des Landwirtschaftsministeriums sollte stärker gefördert werden, vor allem durch die erhöhte Einbindung in Schulklassen aller Altersstufen. Da die Verschwendung in den Privathaushalten mit 72 %17 am stärksten ist, ist eine ausführliche Aufklärung und Thematisierung des Problems und seiner Lösungen ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz.
Auf europäischer Ebene sollte die obligatorische Angabe eines Mindesthaltbarkeitsdatum abgeschafft werden. Sie ergibt wenig Sinn bei Produkten wie Salz, Zucker, Essig usw., die sich bei korrekter Lagerung sehr lange halten. Darüber hinaus wäre die Aufhebung aller noch geltenden Vermarktungsnormen, auch auf Ebene der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) ein wichtiger Schritt.
Nach der Mindesthaltbarkeit
Große Unkenntnis herrscht bei vielen Menschen hinsichtlich des Unterschieds zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum, auch wenn beide eine empfohlene Lagertemperatur beinhalten. Mit dem vorgeschriebenen Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) beschreibt der Hersteller das Datum, bis zu dem das Nahrungsmittel bei korrekter Lagerung seine anfängliche Qualität und sein Aussehen behält. Es bedeutet nicht, dass die Produkte nach diesem Datum nicht mehr zum Verzehr geeignet sind, sodass den Verbraucher*innen die Verantwortung überlassen wird zu entscheiden, ob sie das Produkt noch konsumieren wollen oder nicht. Dass das MHD wenig mit dem tatsächlichen Zeitpunkt des Verfalls der Produkte zu tun hat, bestätigt sich in einer aktuell vom Greenpeace Magazin in Auftrag gegebenen Studie18.
Das Verbrauchsdatum (VD) dagegen ist ein Datum, das sich auf leicht verderblichen Nahrungsmitteln wie Fleisch findet. Es ist eine Frist, nach deren Ablauf sich der mikrobiologische Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit so schnell entwickelt, dass er gesundheitsgefährdend wird. Lebensmittel, die das mit „verbrauchen bis“ gekennzeichnete Datum überschritten haben, sollten weder weitergegeben noch verzehrt werden.
Wer sich darüber hinaus über Unklarheiten informieren und selbst gegen Lebensmittelverschwendung aktiv werden möchte, fängt am besten damit an, sein eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen. Kaufe ich planvoll ein? Lagere ich meine Lebensmittel richtig? Verwerte ich meine Reste? Hierzu finden sich unzählige Tipps und Rezepte im Internet. Weitere Informationen zu unserem Verein Foodsharing Luxembourg, wie auch die Daten der regelmäßigen Informationstreffen, finden Sie auf www.foodsharing.lu.
- https://environnement.public.lu/dam-assets/documents/offall_a_ressourcen/gaspillage-alimentaire/studie-lebensmittelabfaelle.pdf (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden am 16. Juni 2020 zuletzt aufgerufen).
- Ebd.
- https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0228369
- https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/sites/4/2019/11/08_Chapter-5.pdf
- Ebd.
- https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/WWF_Studie_Das_grosse_Wegschmeissen.pdf
- https://www.f4a.icu/
- https://www.welthungerhilfe.de/hunger/
- https://www.foodsharing.lu/
- https://foodsharing.de/statistik
- Stand: 15. Juni 2020.
- Gemäß LOI n° 2016-138 ist ein Lebensmitteleinzelhändler verpflichtet, sichere Lebensmittel an einen karitativen Verein zu spenden, wenn seine Verkaufsfläche größer als 400 m2 ist. Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/568808/21ec9f0fbd1bce3c48c063f24498428e/wd-5-095-18-pdf-data.pdf
- https://www.arte.tv/de/videos/094925-000-A/schaden-lebensmittelretter-der-tafel/
- https://www.fluter.de/frankreich-lebensmittelverschwendung
- https://www.bundestag.de/resource/blob/648932/7c64ad8483b3e289ce6896fc36198be0/WD-5-046-19-pdf-data.pdf
- https://antigaspi.lu/
- Siehe Anm. 1.
- Greenpeace Magazin Nr. 2.20 und 3.20.
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