Der Morgen danach

Persönliche Eindrücke zweier Kulturnächte

Ein Versprechen ist ein Nährboden für Erwartungen, Vermutungen, Hoffnungen. Ein Grund, behutsam damit umzugehen. Das Schüren von Erwartung ist ein gefährliches Spiel, auch wenn man im Falle von Esch2022 nicht behaupten kann, die Latte hätte allzu hoch gelegen – zumindest nicht bei bodenständigen Escher*innen. Die Ankündigung, „gemeinsam eine Rakete ins Weltall schießen“ zu wollen, beeindruckte wenn überhaupt nur wenige. Der Startschuss am 24. Februar? Eher ein Schuss in den Ofen. Wie aber sieht es mit dem gesamten, kulturgefüllten Jahr 2022 aus?

Eine – immer noch unübersichtliche – Unmenge an Ausstellungen, Konzerten und Veranstaltungen findet dieses Jahr unter dem Esch2022-Deckmantel statt. So auch die seit rund zehn Jahren etablierte Nuit de la Culture, im großen Kulturjahr jedoch in abgewandelter Form: Aus einem „Moment“ macht die Escher Kulturnuecht ASBL fünf. An fünf Wochenenden sollen demnach verschiedene Viertel der Minett-Metropole zur kulturellen Bühne werden. Eingeläutet wurde das Sonderformat am 11. März mit dem Motto „sauvage“. Versprochen wurde u. a., den Parc du Clair-Chêne in „einen märchenhaften Garten“ zu verwandeln, womit wir wieder bei den Versprechen wären.

Wird schon schiefgehen!

An der Grundidee, (für das breitere Publikum) unbekanntere Stadteile in den Mittelpunkt zu stellen und sie somit aufzuwerten, ist ganz und gar nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Viele Viertel, die als Veranstaltungsorte dienen sollen, haben diese Aufmerksamkeit bitter nötig, nein, haben sie sogar verdient. So ist und war der bereits erwähnte „Park“ bislang eines, nämlich das Zuhause des Boule Clubs. Mit Kultur hatte der Claire Chênes „Bësch“, wie ihn die Einheimischen nennen, in den vergangenen 30 Jahren wenig bis gar nichts am Hut. Nun jedoch wurden Bouleplatz und Umgebung hergerichtet, schicke Imbissbuden aus Holz und ein atemberaubendes Spiegelzelt errichtet, in dem u. a. Konzerte stattfanden.

Am Vormittag des 12. März sollte der brunch des sauvages das erste der fünf Kulturwochenenden entspannt ausklingen lassen. Was also war an diesem Brunch so „wild“? Er fand im Freien statt, die Tische wurden dem Motto getreu mit Ästen, Zweigen und Moos eingedeckt. Auf einem Tisch thronte ein ausgestopfter Fuchs, der mit seinen Glasaugen wütend in die Runde starrte. Davon abgesehen lief das Ganze vegetarisch ab. Das Konzept? Eigentlich ganz nett. Sogar die Sonne spielte mit. Kommen wir zum Hauptact. 

Domotastisch

Es hätte ein schöner Tag werden können, wären da nicht zwei Stichwörter gewesen: Kultur und Partizipation. Für die – wie kann man dies nun korrekt benennen? – „musikalische Untermalung“ sorgte das Künstlerkollektiv Métalu A Chahuter aus Lille. Wie die Mitglieder Jean-Marc Delannoy und Antoine Rousseau bereits im Vorfeld ankündigten, experimentiert das Kollektiv größtenteils mit sogenannter „domozique“.1 Um diese Art der Musik herzustellen, benötigt man laut Delannoy sogenannte „domophones“. Die „Domofone“ sind dabei nichts anderes als elektronische Musikinstrumente, die aus gebrauchten Alltagsgegenständen wie Möbeln, Haushaltsgeräten, Sanitäranlagen oder Spielzeug hergestellt werden. Wer die Band CocoRosie kennt, weiß, dass das funktionieren kann. Kann, nicht muss. Denn nach Aussage des Künstlerkollektivs sind keine musikalischen Vorkenntnisse nötig, Hauptsache, es macht Spaß.2 Nun ist schwer zu sagen, was das Künstlerkollektiv genau bewog, für die Performance in Esch ausgerechnet die schlauchartigen „Domofone“ mitzubringen, aber die Geräusche – ja, Geräusche, nicht Töne –, die sie produzierten, waren ohrenbetäubend. Zu den Schläuchen gesellten sich weitere „Instrumente“, die nicht nur weitere verstörende Laute von sich gaben, sondern zusätzlich mit Pyrotechnik ausgestattet waren. 

On est mal

Auf der Waldbühne (der Großteil des etwa zehnköpfigen Künstlerkollektivs saß, in pelzartige Mäntel gehüllt und Ushankas-tragend, an einer langen Tafel) gaben Métalu A Chahuter alles: Mal spielte jemand ein instrumentales – oder sollte man sagen, ein domofones? – Solo, mal sauste ein anderer mit eingespieltem Löwengebrüll im Hintergrund über die Lichtung, mal brummte eine Frau mit Raucherinnenstimme gefühlte 55 Mal hintereinander den Satz „animal, on est mal“ ins Mikrofon. Mehr als einem Gast blieb bei dieser „musikalischen“ Begleitung fast das Pilzragout im Halse stecken. Nicht zuletzt, weil die Künstler*innen unentwegt durch das mampfende Publikum strichen und ihnen dabei handliche, störgeräuschproduzierende „Domofone“ an die Ohren hielten. Auf diese Art und Weise wurde zumindest auch dem letzten Kulturbanausen bewusst, was Musik von Lärm unterscheidet. 

Bis auf ein paar Kinder, die diese mehr als obskure Perfomance neugierig machte, konnte man den Gäst*innen in den Gesichtern ablesen, dass sie erwogen, dem im Voraus bezahlten Buffet ein für alle Mal den Rücken zu kehren und das Weite zu suchen. Die gewollte und teilweise erzwungene Teilnahme beim brunch des sauvages entwickelte sich mit jedem weiteren Versuch zu einer Form von Belästigung. Ist das nun die Schuld des Liller Künstlerkollektivs? Nein. Schließlich kündigte es ja an, ein partizipatorisches, „domusikalisches“ Konzert veranstalten und das Publikum einbeziehen zu wollen. Man könnte also annehmen, die Organisator*innen hätten sich nicht sehr intensiv mit dem Angebot der Künstler*innen auseinandergesetzt, die man eingekauft, pardon, gebucht hat. 

Die Katze im Sack 

Das wirkliche Problem wurzelt aber tiefer, nämlich im Esch2022er Kulturverständnis. Zunächst scheint es so, als müsse Kultur immer partizipativ sein. Dabei kann das Konzept eines partizipatorischen Brunchs an und für sich nicht funktionieren. Auch wenn Kultur „zunehmend als Ereignis und als Erlebnis inszeniert und konsumiert [wird], ist der Erfolg, der von der Ware versprochen bzw. von ihrem Konsum gewünscht wird, nie garantiert“.3 Warum weigert man sich – ob im Kontext der Nuit de la Culture, von Esch2022 insgesamt oder darüber hinaus – also vehement, von dieser kapitalistischen Maxime abzuweichen? Nicht alles, was (im Ausland) eingekauft wird, taugt auch etwas. Natürlich erhebt die Nuit de la Culture auch einen internationalen Anspruch und aus solchen Kollaborationen kann Fantastisches erwachsen, nur im Rahmen des Escher Kulturjahres wäre eine verstärkte Zusammenarbeit mit lokalen Künstler*innen wünschenswert gewesen. Gerade vor diesem Hintergrund lässt es einen stutzig werden, wenn man beispielsweise in einem Interview mit Esch2022-Generaldirektorin Nancy Braun liest, Kultur sei ihr „wichtig […], weil sie das beschreibt, was wir sind und wie wir leben“, oder etwa die Minett-Region sei „ein Nährboden für viele Künstler und Kulturschaffende, die von hier stammen“4. Wenn dem so ist und man sich dessen sogar bewusst ist, warum zahlt man dann eine vermutlich sehr hohe Gage für ein zehnköpfiges Künstlerkollektiv aus Nordfrankreich (nicht mal aus Lothringen), das offen bekundet: „Nous sommes des Français, nous ne connaissons pas le territoire.“5 Und woher sollten sie das auch?

Der Minderwertigkeitskomplex

Woher also stammt dieser an Obsession grenzende Wunsch, Kultur zu eventisieren und outzusourcen? Haben wir Angst zu scheitern? Angst, dass am Stereotyp, Luxemburg sei nichts weiter als ein Finanzplatz, etwas dran ist? Ist der Kulturimport etwa zum Bestandteil unserer Kultur geworden? Wenn wir bewahren wollen, „was wir sind und wie wir leben“, ist es an der Zeit, die Versagensangst abzulegen und zu erkennen, dass es nicht schlimm wäre, beispielsweise eine einfache Minetter Garagenband zu einem Brunch einzuladen. Kultur muss nicht immer wild und abgedreht sein. Sie muss auch nicht immer partizipatorisch sein oder mit einem Raketenknall eingeläutet werden. Sie darf bodenständig sein, ohne, dass dies auch nur irgendetwas an ihrer Qualität mindert. Problematisch ist es nur, wenn man Versprechen macht, die man nicht halten kann, wie u. a. das des „märchenhaften Gartens“. Wenn eine Ausstellung im Freien – mit versifften Sesseln und Waschbecken – so wirkt, als habe man seinen Müll im Wald entsorgt, kann nicht von einem „märchenhaften Garten“ die Rede sein. Ob man nun ein Faible für postmoderne Kunst hegt oder nicht. 

Wenn wir unsere Kulturszene aufwerten oder gar retten wollen, müssen wir aufhören, etwas sein zu wollen, das wir nicht sind. Anlässlich des derzeit stattfindenden Kulturjahrs: Esch ist nicht Glamour, ist nicht Lille und auch nicht Yoko Ono. Esch ist „ruppig“ (im Sinne von schroff), ist rote Erde und Stahlstaub. Und Esch hat geniale Künstler*innen. Können wir bitte endlich anfangen, sie zu buchen? 

Der zweite Streich

Knapp einen Monat später fand der zweite Teil der Nuit de la Culture auf Esch-Belval statt. Das Leitwort „brutalité“ ließ vieles erahnen und einiges befürchten. Bis auf die beeindruckenden Hochöfen, die in rotem Licht erstrahlten, und eine fragwürdige Installation im Rahmen der Ausstellung „Hacking Identity – Dancing Diversity“6 des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe deutete jedoch nichts auf das Thema hin, weshalb man es in Anbetracht des Ukrainekriegs problemlos hätte umbenennen können. 

Wie beim Gesamtprogramm von Esch2022 war es auch hier nicht leicht, sich einen Überblick über die zahlreichen, oft simultan stattfindenden Veranstaltungen zu verschaffen. Gerade die Gleichzeitigkeit erwies sich als Problem, da man einigen Videos und Tonspuren zu bestimmten Expos durch gleich nebenan stattfindende Open-Air-Konzerte nicht folgen konnte. Aus organisatorischer Sicht glänzte die Kulturnacht umso weniger, weil man für einige Attraktionen (kostenlose) Tickets reservieren musste und es etwa im Eingangsbereich der denkmalgeschützten Möllerei dennoch – bei einer überschaubaren Schlange von schätzungsweise zehn Personen – zu langen Wartezeiten kam. Mehrere Installationen befanden sich unter freiem Himmel, wodurch sie vom wechselhaften Aprilwetter inklusive Hagel vertagt oder gar vereitelt wurden. Es könnte an der Wetterlage gelegen haben, dass das ehemalige Industriegebiet an diesem Samstagabend nur sehr spärlich besucht war. 

„Impulsion“, der dritte Akt der Nuit de la Culture, findet vom 13. bis 15. Mai 2022 in den Escher Stadtteilen Lankelz und Dellhéicht statt.

  1. Métalu A Chahuter im Esch2022-Interview: https://www.youtube.com/watch?v=yt92itFjR24 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 29. April 2022 aufgerufen).
  2. http://metalu.net/projets/la-domozique-et-les-domophones
  3. Rainer Winter, „Erlebniskultur“, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart, J. B. Metzler, 2003, S. 32.
  4. „Ramping up Esch2022 – Gemeinsam bauen wir die Zukunft!“ (o.A.): https://esch2022.lu/de/news/ramping-up-esch2022-gemeinsam-bauen-wir-die-zukunft
  5. https://www.youtube.com/watch?v=yt92itFjR24 
  6. Bei besagtem Ausstellungsgegenstand wurden die Gesichter der Besucher*innen gescannt, um sie beliebig auf Avatare zu projizieren, die auf einer Leinwand bspw. in die Täterrolle schlüpften und ihre Opfer (ebenfalls Avatare) brutal zusammenschlugen.

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