Der Quantenphysiker in der Geschichtsvorlesung

Anmerkungen eines Außenstehenden

„Ich bin vielleicht zu abstrakt, zu wenig im guten Sinne Gedächtnismensch“, räsonierte der junge Wilhelm Dilthey noch als Student in einem Brief an seinen Vater. Darum habe er Zweifel an seiner Fähigkeit zum Historiker. „Die Auffassung von Charakteren und Systemen, vom Zusammenhang und den Analogien in der Geschichte“ lägen ihm viel näher als die Form einer Ranke’schen Geschichtsschreibung.1 Gute 160 Jahre später sind Diltheys Versuche einer hermeneutischen Systematisierung von Geschichte zwar bestenfalls noch mittelbar bekannt und werden eher in der Philosophie rezipiert. Doch die Debatten um Methoden und Erkenntnisziele von Geschichtswissenschaft, die schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Verve geführt wurden, halten mit wechselnden Schwerpunkten und Intensitäten bis heute an. Die Frage nach Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte ist dabei seit längerem verworfen worden oder zumindest in den Hintergrund gerückt, obwohl das damit verbundene Lernen in der Geschichte auch jenseits von kollektiver (europäischer wie globaler) Traumaüberwindung und Friedenspädagogik in jüngerer Zeit wieder aufgeworfen wurde.2 An mangelndem Hang zur Abstraktheit aber kranken die internationalen Geschichtswissenschaften kaum, deren Hang zum (mal mehr, mal weniger) eklektischen Ausbeuten der Methoden und Theorien aus Sozial- und Kulturwissenschaften, Ethnologie, Anthropologie und Philosophie seit Jahrzehnten schon zum Wesenskern gehört.

Diltheys Reflexionen selbst hingegen sind vor allem durch die auf ihn zurückgeführte Bezeichnung der „Geisteswissenschaften“ in Parallele und Abgrenzung zu den „Naturwissenschaften“ immer noch wirkmächtig. Das betrifft die Institutionalisierung des Wissenschaftssystems an sich ebenso wie die alltägliche Wahrnehmung, nach der Forschung oft genug eingeordnet wird.

Mein Mitbewohner während des Studiums war Biochemiker. Ein Geschichtsstudium konnte er nicht allzu ernst nehmen. Jedenfalls machte er es sich regelmäßig auf meinem Sofa bequem, um mich Jahreszahlen abzufragen, während ich an meinem Schreibtisch saß. Dort versuchte ich zur gleichen Zeit Seminararbeiten über die ideologiekritische Dekonstruktion moderner Narrative mittelalterlicher Handschriftenüberlieferungen oder die Wissenschaftsgeschichte der 1930er Jahre zu schreiben. Nein, die Jahreszahlen kannte ich viel zu oft nicht, und an den Spott meines Biochemikers darüber gewöhnte ich mich mit der Zeit.

Bei der rezenten Lektüre eines Interviews mit Rolf Tarrach im Wirtschaftsteil des Luxemburger Wortes3 drängte sich diese ganz in Diltheys Sinne anekdotisierte Erinnerung wieder ins Bewusstsein. „Gehe ich zur Vorlesung eines Geschichtsprofessors, verstehe ich alles“, heißt es dort, und weiter: „Gehe ich, nun als Geschichtsprofessor, in eine Vorlesung zur Quantenphysik, verstehe ich kein Wort.“ Das mangelnde Verständnis des Geschichtsprofessors ist anscheinend darauf zurückzuführen, dass er nicht über das notwendige „abstrakte und mathematische Denken“ verfügt. Der rasch einsetzende geisteswissenschaftliche Minderwertigkeitsreflex kann die Feststellung im ersten Augenblick nicht vom Tisch wischen, dass eine Vorlesung zur Quantenphysik keine spaßverdächtige Veranstaltung darstellt. Was hierbei allerdings durchaus unter den Tisch fällt, ist nicht nur die eher didaktische Frage, weshalb Physik-Vorlesungen unbedingt unverständlich sein müssen, sondern auch die, inwieweit der Quantenphysiker tatsächlich die Vorlesung des Geschichtsprofessors versteht.

Mein biochemischer Mitbewohner war kein Ignorant, im Gegenteil. Er las Umberto Ecos Semiotiktheorien und Thukydides, im Gegenzug konnte ich mich noch bis zu einem gewissen Punkt für organische Chemie interessieren. Dabei ging es nicht darum, dass wir beide die Texte aus dem jeweils fremden Fachgebiet auch in Gänze verstanden hätten – es war eher unsere stillschweigende Abmachung, den anderen zu verstehen zu versuchen.

Tarrach hat sicherlich recht, wenn er beklagt, Studierende würden in die Geisteswissenschaften ausweichen, da sie diese für leichter zugänglich als Naturwissenschaften oder Mathematik hielten. Das ist anscheinend in Luxemburg nicht anders als etwa in Deutschland. Schade an diesem Punkt ist nur, dass die Vorstellung des Quantenphysikers in der Geschichtsvorlesung eben dieses naive Bild von Erstsemestern reproduziert und in einer breiten medialen Öffentlichkeit autorisiert, anstatt es zu hinterfragen. Erfahrungsgemäß jedenfalls benötigen Geschichtsstudierende in der Regel einige Semester, um überhaupt zu verstehen, was sie sich mit ihrer Studienwahl eingebrockt haben und was ihnen Tag für Tag, Woche für Woche in Seminaren erzählt wird. Nicht wenige scheitern daran – zumindest in Deutschland. In der Regel besteht ihre Erwartungshaltung nämlich genau darin, einen klar definierten Gegenstand präsentiert zu bekommen, der sich auswendig lernen lässt – Jahreszahlen etwa oder eine lineare Narration von scheinbaren Eindeutigkeiten. Hier setzt allerdings im besten Fall irgendwann eine Verständnislosigkeit im positiven Sinne ein. Denn man muss nun kein radikaler Konstruktivist sein, um zu konstatieren, dass es Geschichte an sich als Gegenstand nicht gibt. Die theoretischen Ausgangsvoraussetzungen und methodischen Anstrengungen der Geschichtswissenschaft hingegen sind auf den Umgang mit Komplexität vergangener Gesellschaften, deren Analyse und Beschreibung gerichtet. Und ja, auch auf Komplexitätsreduktion als deren Ergebnis. Aber gerade darin unterscheiden sich Wissenschaften nicht im Grundsatz.

Geisteswissenschaften sind in der Regel nicht mathematisiert, zumal die Geschichtswissenschaft. Das hat eben grundlegend mit der Frage nach Kontingenz und Ereignishaftigkeit menschlicher Vergesellschaftung und Handlung sowie den Maßstäben ihrer Beschreibbarkeit zu tun. Gerade die Geschichtswissenschaft besitzt dabei durchaus noch einen ihr eigenen Anspruch an Narrativität. Es wäre hingegen bedauernswert, einer gut gemachten geschichtswissenschaftlichen Narration die vorangegangene theoretisch und methodisch komplexe Vorarbeit abzusprechen.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die Ausdifferenzierung der Wissenschaften zu einem Rückgang an Universalgelehrten und einer Zunahme an Spezialisten geführt hat. Jemanden wie Athanasius Kircher wird man eben unter den Bedingungen der Moderne kaum mehr finden. Aber wäre es nicht viel fruchtbarer, statt auf die Differenzen zwischen den Wissenschaften zu blicken, auf die wissenschaftstheoretischen Punkte potenziellen gemeinsamen Nachdenkens zu verweisen und sie damit zu einer Basis einer innovativen Zusammenarbeit zu machen? Man mag an dieser Stelle auf verschiedene Ansätze in den Geisteswissenschaften verweisen, etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie, hiermit verbunden die Überlegungen zu Materialitäten oder die Human-Animal-Studies. Man mag aber auch die sehr viel grundsätzlichere epistemologische Herausforderung angemessener Formen von Beobachtung und Beschreibung anführen, die aus der Frage nach Kausalitäten und Gesetzmäßigkeiten resultiert, so wie sie auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Physik aufgeworfen worden war.4 In diesem Kontext dachte auch Erwin Schrödinger über Determination, Kausalität oder Akausalität molekularen Geschehens und den Charakter von Naturgesetzen nach. Die mathematisierte Darstellung steht dabei natürlich nicht in Frage, aber die Auffassung von Gesetzmäßigkeiten und zwingenden Kausalitäten. Was Schrödinger in Zweifel zog, waren eben letztere und daraus folgend die epistemologische Figur: „In der Welt der Erscheinung klare Verständlichkeit – hinter ihr ein dunkles, ewig unverstandenes Machtgebot, ein rätselvolles ‚Müssen‘.“5

Diese Form von Auseinandersetzung setzt allerdings voraus, dass Universität auch Elfenbeinturm ist. Anders gesagt: Wenn sich eine Gesellschaft in erster Linie unter unmittelbaren utilitaristischen Erwägungen Universität leistet, dann laufen die vorhergehenden Überlegungen eher ins Leere. Denn dann können die Naturwissenschaften selbstverständlich mehr oder weniger unmittelbar kapitalisierbares Wissen produzieren (oder dies zumindest erfolgreich so kommunizieren). Die Geisteswissenschaften werden aus solcher Logik heraus marginalisiert und in die selbstrechtfertigende Produktion glatter, nur mittelbar verwertbarer Narrative gedrängt – oder gleich als komplett überflüssig stigmatisiert. Unter solchen Bedingungen hätte ein Geschichtsprofessor nicht mehr viel zur Universität beizutragen. Das, was die reflektierende Beschäftigung mit dem Historischen, auch in transdisziplinären Diskussionen, hingegen leisten könnte, wäre etwas anderes. Oder, um es mit Achim Landwehr zu sagen: Sie „geschieht nicht nur von der Gegenwart aus, sondern wirkt auch auf die Gegenwart zurück und erzeugt neue Sichtweisen für die Zukunft.“6

  1. Wilhelm Dilthey an seinen Vater, Berlin Mai 1856, in: Clara Misch (Hg.), Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern (1852-1870), Berlin/Leipzig, Teubner, 1933, S. 30-32.
  2. Etwa Jo Guldi/David Armitage, The History Manifesto, Cambridge, Cambridge University Press, 2014.
  3. „Rohstoff Bildung. Interview mit Rolf Tarrach“, in: Luxemburger Wort vom 6. Juni 2019, S. 10.
  4. Michael Stöltzner, „Vienna Indeterminism: Mach, Boltzmann, Exner“, in: Synthese 119.1/2 (1999), S. 85-111.
  5. Erwin Schrödinger, „Was ist ein Naturgesetz?“, in: Ders., Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild, 4. Aufl., München, Oldenbourg, 1987, S. 9-17, hier S. 15.
  6. Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt/Main, S. Fischer, 2016, S. 301.

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