- Gesellschaft, Kultur, Politik
„Design for All“
Ein sinnvolles Konzept für Luxemburg?
Das gesellschaftliche Zusammenleben wird immer komplexer. Der demographische Wandel, das Altern der Bevölkerung und die Migration sind einige der dafür verantwortlichen Phänomene. Laut dem luxemburgischen Amt für Statistik1 wächst die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund bedeutend schneller (35% seit 2001) als jene der „Stack-Lëtzebuerger“ (5,26% seit 2001). Die Diversität innerhalb der Gesellschaft gehört in Luxemburg schon seit vielen Jahren zur Normalität. Die Zahlen der luxemburgischen Pflegeversicherung weisen einen deutlichen Trend hin zur Deinstitutionalisierung auf (mehr als die Hälfte der Nutzniesser leben in ihren eigenen vier Wänden2) und die Individualisierung der Lebensführung3 verlangt nach neuen Angeboten.
Es gibt keine 08/15-Lösungen für die damit einhergehenden Herausforderungen, daher müssen bei der Ausarbeitung von Herangehensweisen die jeweiligen Situationen und Zusammenhänge berücksichtigt werden. Eine mögliche Strategie, die hier ansetzen kann und sich weltweit eines wachsenden Interesses erfreut, ist das Konzept „Design for All“. Luxemburg ist bislang der einzige Staat, der sich offiziell zur Umsetzung von „Design for All“ bekannt hat. Wobei sich allerdings das Verständnis des Konzeptes „Design for All“ widersprüchlicherweise im Regierungsprogramm von 20134 „nur“ auf die Initiativen zugunsten behinderter Menschen bezieht, also eigentlich nicht „for all“ zu verstehen wäre. Demnach ist es sicher interessant, sich den Begriff „Design for All“ und das Konzept, welches sich dahinter verbirgt, etwas genauer anzuschauen.
„Design for All“: die Geschichte
Der Begriff „Design for All“ wird hauptsächlich in der Europäischen Union benutzt, während man in den USA von „Universal Design“ (Französisch:„conception universelle“) spricht. Es besteht jedoch mittlerweile ein allgemeiner Konsens darüber, dass trotz variabler Bezeichnungen die gleiche Vorgehensweise gemeint ist. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 20065, die bis Ende Juli 2016 bereits von 166 Partnerstaaten (Luxemburg im Jahr 2011) ratifiziert wurde, benutzt im englischen Originaltext den Terminus „Universal Design“. Dieser Begriff wurde vom amerikanischen Architekten Ron Mace geprägt und in die nationalen Übersetzungen aufgenommen. Mace ist der Gründer des Center for Universal Design6, welches im Jahr 1989 an der Raleigh/North Carolina States University ins Leben gerufen wurde. Ziel war es, eine Gestaltungsart zu konzipieren, die man auf Produkte und die gebaute Umwelt anwenden kann. Letztere sollten somit sowohl ästhetisch, als auch von jedem benutzbar sein. Unabhängig von Alter, Fähigkeiten oder Lebensstil.
Viele Begrifflichkeiten
Der Irrglaube, dass es sich bei „Design for All“ hauptsächlich um ein Konzept zur Inklusion behinderter Menschen handelt, kommt daher, dass Behindertenverbände darin schon sehr früh die Chance erkannten, die Inklusion behinderter Menschen zu beschleunigen. Sie wurden demnach zu den aktivsten Befürwortern des Konzepts. Die ursprünglichen „Zugänglichkeitsnormen für Behinderte“ entwickelten sich eher nach und nach zu Komfort- und Qualitätsmerkmalen im Sinne des „Design for All“.
Die künstlerische oder ästhetische Konnotation des Begriffs „Design“ unterstützte den Vormarsch des Konzepts. Allerdings darf „Design for All“, bei dem der Mensch im Vordergrund steht, nicht mit dem von Tim Brown und David Kelley geprägten „Design Thinking“8 (französisch: „Esprit Design“) verwechselt werden, bei dem der Gestaltungsprozess an sich im Vordergrund steht. Genauso falsch wie die Annahme, dass „Design for All“ nur Menschen mit Behinderungen betrifft, ist die Gleichsetzung des Konzepts mit dem Begriff „Barrierefreiheit“, die in der Regel aufgrund von Normen oder technischen, respektive organisatorischen Vorgaben hergestellt wird.
„Design for All“ als Marktchance
„Design for All“ unterscheidet sich von den zuvor genannten Ansätzen durch die zusätzliche Berücksichtigung des Entstehungsprozesses (Entwicklungsprozess, die Nutzerorientierung und -einbindung) sowie die Marktorientierung (Gestaltung und Vertrieb) der Produkte, Dienstleistungen und Infrastrukturen. In diesem Sinne ist „Design for All“ längst nicht mehr nur der Ausdruck einer Politik für soziale Integration und menschenfreundliche Gesetzgebung, sondern entwickelt sich konsequent zu einem unumgänglichen Wirtschaftsfaktor. Schließlich sind die Menschen ja auch Konsumenten, Kunden und Gäste.
„Design for All“ in der Standardisierung
Die Standardisierung9 spielt für den europäischen Binnenmarkt eine wichtige Rolle und die europäischen Standardisierungsinstanzen CEN und CENELEC haben, im Rahmen des EU-Mandats M/47310, den Auftrag Barrierefreiheit im Sinne von „Design for All“ in alle relevanten Standardisierungsdokumente einfließen zu lassen. Ziel ist es‚ spezifische Standards für bestimmte Personengruppen zu vermeiden. Aber auch der mit EU-Mitteln unterstützte Verein ANEC11 (Europäischer Verein für die Koordinierung von Nutzerrepräsentierung im Bereich der Standardisierung) setzt sich seit vielen Jahren zugunsten „Europäischer Standards ein, die auf den ‚Design for All‘ Prinzipien basieren“.
„Design for All“ im Internet
Erste Erfolge der Standardisierung zugunsten barrierefreier Internetdienste zeigten sich seit Ende der 1990er Jahre in der so genannten Web Accessibility Initiative12 (WAI) des W3C Konsortiums, auf die sich auch die EU immer wieder beruft. Laut der EU ist das Web „eine immer wichtiger werdende Ressource in vielen Lebensbereichen: Bildung, Arbeit, Regierung, Handel, Gesundheit, Freizeit, Zugang zu Information usw.“13
European Accessibility Act
Im Dezember 2015 wurde der European Accessibility Act vorgestellt. Offiziell angestrebt wird die Stärkung des europäischen Binnenmarktes, indem den Produzenten wesentliche Regeln vermittelt werden, die einen leichteren Zugang zum grenzüberschreitenden Handel und zu neuen Marktchancen eröffnen sollen. „Mit der Richtlinie wird eine Harmonisierung der Barrierefreiheitsanforderungen in der EU mittels funktionaler Anforderungen angestrebt, d.h. mittels allgemeiner Grundsätze, die auf dem Design-für-Alle-Konzept beruhen, und nicht mittels detaillierter technischer Bestimmungen. Dies wird ausreichen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für die betreffenden Produkte und Dienstleistungen sicherzustelle…“
Tourismus und „Design for All“
Die EU hat bereits das Marktpotential von „Design for All“ für den Tourismus in Europa erkannt. „Daher ist die Kommission bemüht, gleichen Zugang und Chancengleichheit in Bezug auf Beschäftigung und Freizeit sicherzustellen, beispielsweise durch verbesserten Zugang zu Informationen über barrierefreien Tourismus. In diesem Zusammenhang ist es außerordentlich wichtig, die Probleme der Zugänglichkeit zu lösen und Ausbildungsmöglichkeiten zu eröffnen.“15 Der Begriff der Servicekette16 spielt besonders im Tourismus eine wichtige Rolle, wenn es um die Planung der Reise, der Unterkunft, des Ferienerlebnisses, usw. geht. Längst hat man im Tourismus erkannt, dass es nicht reicht, die Barrierefreiheit für einzelne, isolierte Angebote zu fördern, sondern die Destinationen als Ganzes ansehen muss, mit Hotellerie, Gastronomie, Information, Transport, Freizeit und Kultur, und nicht zuletzt, Service.
Erste Schritte zu einer erfolgreichen Umsetzung von „Design for All“ in Luxemburg
In Luxemburg fördert das Wirtschaftsministerium, vor allem die Generaldirektion Tourismus, das Konzept „Design for All“ konsequent im Rahmen der Vergabe des Labels „EureWelcome“17 und der Unterstützung des landesweiten Arbeitskreises „Tourismus für Alle“, dessen Aktivitäten seit 2014 von einer deutschen Beraterfirma begleitet werden. Im gleichen Ministerium hat aber auch die Generaldirektion für Mittelstand das Potential von „Design for All“ erkannt und die Entscheidungsträger der luxemburgischen Handwerkskammer dafür sensibilisiert, die bereits eine erste Schulung für Handwerksbetriebe18 organisiert hat.
Das Lycée Josy Barthel Mamer hat Design for All19 sogar auf dem Lehrplan der Technikerklassen stehen und wurde dafür von der in Barcelona ansässigen „Design for All Foundation“ mit einem best practice award ausgezeichnet.20 Die gleiche Auszeichnung hat die Gemeinde Junglinster für ihr wegweisendes Wohnprojekt „Jong Mëtt Lënster“21 erhalten. Im Ministerium für Familie und Integration ist es die Abteilung für Menschen mit Behinderungen, welche die Umsetzung von „Design for All“ in Zusammenarbeit mit den konventionierten Diensten ADAPTH und Info-Handicap unterstützt.
Alle diese guten Ansätze sind jedoch nur Einzelinitiativen, die es noch besser zu vernetzen und zu einer kohärenten Gesamtstrategie zu verbinden gilt. Dass ein Umdenken im gesellschaftlichen Zusammenleben notwendig, ja sogar unumgänglich ist, zeigen die Zukunftsvisionen eines Peter Drucker bezüglich der sogenannten „next society“22. Seiner Vision zufolge werden der demographische Wandel, die wirtschaftlichen Herausforderungen und der technische Fortschritt die Arbeits- und Lebensgewohnheiten der Menschen drastisch verändern. Die deutsche Stiftung Nächste Gesellschaft23 bringt es mit dem Satz „More of the same ist… keine Option mehr“ auf den Punkt. Erfolgsfaktoren für die sinnvolle Umsetzung von „Design for All“ in Luxemburg
Im Jahr 2008 veröffentlichte „EuCAN – European Concept for Accessibility Network“ (Netzwerk für ein Europäisches Zugänglichkeitskonzept) eine Liste von Indikatoren zur erfolgreichen Umsetzung von „Design for All“ mit dem Titel „ECA for Administrations“ (ECA für Verwaltungen). 24 Die in ECA beschriebene Methode beruht auf den folgenden sieben voneinander abhängigen Erfolgsfaktoren:
1. Bekenntnis der Entscheidungsträger
Der Wunsch zur Umsetzung von „Design for All“ muss zur „Chefsache“ werden und nachhaltig verfolgt werden. Die Verankerung in der luxemburgischen Regierungserklärung war ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
2. Sicherung der Koordination und Kontinuität der Entscheidungen
Eine klar definierte Instanz muss sich um die konsequente, ressortübergreifende Umsetzung des Konzepts kümmern. Zurzeit ist diese Aufgabe in Luxemburg nicht geklärt.
3. Förderung von vernetzter (ministeriums-übergreifender) Zusammenarbeit
Es gibt in Luxemburg viele gute Beispiele von vernetzter Zusammenarbeit zwischen Entscheidungsträgern und Nutzern, die jedoch noch stark von hierarchischem Denken und Ressortgrenzen gehemmt wird. Der Mut zu mehr Vertrauen und geteilter Verantwortung sind hier unumgänglich.
4. Erstellung eines (evolutiven) Aktionsplans
Aktionspläne basieren auf Teamwork und absoluter Transparenz. Nur so kann der Bedarf für notwendige Anpassungen oder Kursänderungen frühzeitig erkannt und umgesetzt werden. Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention war ein erster zaghafter Schritt in die richtige Richtung. Nun muss das erste Modell analysiert, optimiert und generalisiert werden.
5. Förderung von Schulung und Fortbildung (Wissensmanagment)
„Life Long Learning“ ist auch bei der Umsetzung von „Design for All“ notwendig, denn jede Verbesserung schafft gleichzeitig neue Erwartungen. Die zuvor erwähnten Initiativen eines Lycée Josy Barthel oder aus Junglinster sind nachahmenswerte Wegweiser.
6. Optimierung von bestehenden und neuen Ressourcen
Ressourcen sind wertvoll und müssen optimal eingesetzt werden, egal ob es sich dabei um Geld, Know-how oder Zeit handelt.
7. Pflege von Kommunikation und Marketing
Wenn Neuerungen oder Verbesserungen nicht bekannt sind, können sie auch nicht genutzt, getestet oder bewertet werden; wertvolles Feedback für die nächsten Schritte bleibt aus. Systematische Information und Kommunikation in den landesüblichen Sprachen sind zwingend notwendig.
Luxemburg kann aufgrund seiner besonderen geographischen und gesellschaftspolitischen Situation ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Umsetzung des Konzepts „Design for All“ werden, wenn die zuvor genannten Erfolgsfaktoren beherzigt und nachhaltig umgesetzt werden. Design for All könnte und sollte integraler Bestandteil unseres „Nation Brandings“‘26 werden.
1 http://www.statistiques.public.lu/fr/actualites/ population/population/2012/08/20120821/index. html
2 http://www.csl.lu/component/rubberdoc/ doc/3238/raw, 8)
3 http://www.bpb.de/politik/grundfragen/ deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/137995/ individualisierung-der-lebensfuehrung
4 https://www.gouvernement.lu/3322796/Pro- gramme-gouvernemental.pdf, 122
5 https://www.un.org/
6 Center for Universal Design, College of Design, NCSU
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Universal_Design
8 Internet : http://www.nngroup.com/articles/ design-thinking
9 Die europäischen Standardisierungsinstanzen CEN (European Committee for Standardization) und CENELEC (European Committee for Electrotechnical Standardization) entwickeln europäische Standards für alle möglichen Bereiche. ETSI (European Telecommu- nications Standards Institute) konzentriert sich eher auf ICT Standards.
10 http://www.cencenelec.eu/standards/Sectors/ Accessibility/DesignForAll/Pages/default.aspx
11 http://www.anec.eu/attachments/ANEC-ACCESS- 2016-G-002final.pdf
12 https://www.w3.org/WAI/
13 http://www.etsi.org/news-events/news/754-new- european-standard-on-accessibility-requirements-for- public-procurement-of-ict-products-and-services
14 http://ec.europa.eu/social/main. jsp?catId=1202&langId=en
15 http://ec.europa.eu/growth/tools- databases/newsroom/cf/itemdetail. cfm?item_type=254&lang=de&item_id=1715)
16 http://ethics.unwto.org/en/content/ accessible-tourism
17 http://www.gouvernement. lu/3591329/25-closener-eure-welcome
18 http://www.cdm.lu/formation-continue/ formations/formation?project_id=3665
19 http://www.ljbm.lu/projets/designforall.html
20 http://designforall.org/candidate.php
21 http://www.jongmett.lu/de
22 Vgl. THE ECONOMIST, www.economist.com, The next society.
23 http://x-society.net/wp-content/ uploads/2014/07/SNG_Skizze_V5.pdf
24 http://eca.lu/index.php/documents/ eucan-documents/9-2008-eca-fuer-verwaltungenhot
25 http://www.mfi.public.lu/publications/Handicap/ AktionsplanDE.pdf
26 http://www.nationbranding.lu/de/
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