Wenn das Thema „Datenschutz“ in den Medien behandelt wird, dann zumeist aus einer konspirologischen Perspektive. Konspirologisch heißt, dass zentrale Instanzen unter einer dauerhaften kritischen Beobachtung stehen, ja vielleicht sogar explizit unter Verdacht stehen, den eigenen Bürgern eine mehr oder weniger heile Welt lediglich vorzuspielen. Das Eigentliche spielt sich dann hinter der Fassade ab: Geheime Abkommen und Machenschaften, die lediglich der Bereicherung einer kleinen, auserwählten Elite dienen — und gerade nicht dem Gemeinwohl aller. In Bezug auf das Thema Datenschutz ist diese Perspektive sicherlich keine rein subkulturelle mehr, sondern gehört — spätestens seit den Veröffentlichungen Edward Snowdens im Sommer 2013 — dem kulturellen Mainstream an. Der Datenschutz gilt seitdem grundsätzlich als zu gering, und den politischen Bemühungen, diese Situation zu verbessern, wird nachgesagt, sie seien entweder aussichtslos oder gar reine strategische Inszenierungsmaßnahmen.
In den ganzen Debatten um sogenannte „Verschwörungstheorien“ wird diese rezente kulturelle Entwicklung zumeist übersehen — so zum Beispiel auch im Ar- tikel von Robert Reuter aus dem letzten forum-Dossier.1 Wertneutral betrachtet trifft das Label „Verschwörungstheorie“ auf viele Narrative zu. Genauer: Auf alle, die hinter der Oberfläche der Erscheinungen Betrug und Hinterlist wittern.2 Auch wenn man mit Wertneutralität oftmals an die eigenen subjektiven Verständnisgrenzen stößt, gilt dies zum Beispiel sowohl für Anprangerungen vom rechten Rand
(Stichwort „Lügenpresse“) als auch für Artikel anerkannter Zeitschriften über die Machenschaften der NSA.
„Großer Bruder“
Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an das Thema „Datenschutz“ muss bei einer einfachen Frage anfangen: Was steht eigentlich zur Debatte, wenn wir von „Datenschutz“ sprechen? Formalso- ziologisch relevant ist an dieser Stelle der Dritte. Denn wer den Schutz der eigenen Daten als bedroht ansieht, der wähnt ei- nen interessierten Dritten, der heimlich mitlauscht, beobachtet und ausspioniert. Dieser parasitäre Dritte — im Sinne Michel Serres3 — macht sich Daten zu eigen, die weder ganz der Öffentlichkeit zugedacht waren (sonst stünde das Thema „Datenschutz“ nicht zur Debatte) noch ganz privat waren (sonst hätte man sie ja nicht geteilt).
Vor noch nicht allzu langer Zeit konnte dieser interessierte aber ausgeschlossene und doch lauschende Dritte mittels einer besonderen Figur repräsentiert werden: dem Spion. Unbemerkt schleicht er sich ein und tut, als gehöre er dazu. Und doch besteht er ausschließlich aus Fassade. Le- diglich die Geheimnisse der Anderen sind für ihn von Belang. Nach wie vor verfügt diese Figur über eine starke populärkul- turelle Anziehungskraft, denn die im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkrie- ges entstandene literarische Gattung des Spionage- und Agentenromans zeichnet sich noch immer durch einen hohen Beliebtheitsgrad aus.4
Mit der noch immer schwelenden NSA- Affäre hat sich jedoch etwas geändert. Wofür IT-Experten Jahre zuvor noch als „Verschwörungstheoretiker“ oder „Nerds“ belächelt wurden, war schlagartig öffent- licher Konsens: Die Öberwachung ist omnipräsent. Selbst der Mensch hat im Zuge der Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik als Spion ausgedient. Auswertende Computerprogramme, beob- achtende Satelliten und Drohnen haben seinen Platz eingenommen. Ausspionieren gehört heute in die Welt des Monitorings und Trackings. Im Kontext dieser Digitalisierung stellt sich auf einer repräsentativen Ebene die Frage, wie man ein Handeln bildlich fassen kann, für welches in der Realität nicht einmal mehr Menschen vonnöten sind?
Ein Blick in die Medien offenbart sehr schnell: Zumindest in der westlichen Welt ist George Orwells „Großer Bruder“ aus dem Roman 1984 die bekannteste Allegorie für eine totalitäre, systematische Öberwachung. So vielleicht auch in diesem Heft? Orwells fiktiver „Big Brother“ ist jedenfalls zu einem beliebten Signifikanten geworden, um ein schwer einsehbares nachrichtendienstliches System zu fassen und vor allem zu werten. Denn böse, das sind die vielen „Großen Brüder“: der „Staat“, die „Polizei“ und die Europäische Union; NSA, BND und SRE; Google, Amazon und Co.
„Gefällt mir“ und „teilen“
Diese medial geförderte Angst vor einer allumfassenden Öberwachung soll an die- ser Stelle weder befürwortet noch kritisiert, weder bekräftigt noch belächelt wer- den. Eine derartige Wertung würde mein Fachwissen als Soziologe bei weitem übersteigen. Was ich hier vorschlagen möchte, ist eine andere, eine kultursoziologische und damit dekonstruktive Perspektive auf das Thema „Datenschutz“. Lesen wir diese öffentliche Debatte um die Angst vor einem Öberwachungsstaat mal anders, befassen wir uns einmal nicht mit der expliziten Ebene, sondern ihrer latenten Funktion:5 Dann dient die ganze Projek- tion und Konzentration auf den „Großen Bruder“ auch dazu, sich gerade nicht damit auseinandersetzen zu müssen, dass wir „die Beobachtung“ nicht allein fürchten und verteufeln, sondern vielmehr suchen und wünschen. Denn der Sündenbock lenkt sowohl von der eigenen Verantwor- tung als auch den verborgenen Sehnsüchten ab. Wir leben in einer Beobachtungskultur. Damit ist weniger eine dystopische Welt gemeint, wie sie von Samjatin, Huxley oder Orwell beschrieben wurde, als vielmehr eine Kultur, in welcher Beob- achtung zum wichtigsten sozialen Kapital avanciert ist.
Der Beobachtungsfetischismus „Digi- taler Kulturen“6 ist leicht nachzuweisen. Die Selbstentblößung digitaler Nutzer im Internet ist allgegenwärtig. Dabei ist spätestens mit der Weiterentwicklung zum sogenannten Web 2.0 das Internet weit mehr als eine bloße technologische Spielerei. Es hat erheblichen Einfluss auf die Strukturierung und Wahrnehmung sowohl unseres sozialen Umfelds als auch unserer Identität. Tatsächlich folgen die vielen sozialen Netzwerke im World Wide Web einer rituellen Logik: Wer dazu gehören will, muss mitmachen.7 Das heißt: Er muss sowohl die Anderen beobachten als auch sich selbst öffentlich entblößen. Wer sich verweigert, nimmt auch nicht Teil an dieser neu entstandenen digitalen Öffentlichkeit. Der kollektive Druck ist enorm, denn Ausgrenzung — und nicht Inhaftierung oder Arrest — gilt heutzutage, wie der Soziologe Zygmunt Bauman bemerkt, als schlimmste Bedrohung unserer existentiellen Sicherheit.8 Innerhalb „Digitaler Kulturen“ funktioniert Integration mittels Selbstentblößung. Wer nichts von sich preisgibt und verrät, dem gebührt keine Anerkennung. Dies gilt ausnahmslos für alle: Jugendliche veröffentlichen Fotos der letzten Partynacht, Eltern Bilder ihrer Kleinkinder, Politiker und Stars die immergleiche Selfie-Pose.
Wer das Thema Datenschutz und Überwachung deswegen allein mit dem Miss- brauch zentraler Instanzen in Verbindung bringt, betrachtet das Thema zu einseitig. Wer nur Schlüsse zu Orwells „Großem Bruder“ zieht, verkennt, dass wir in einer Kultur des „Gefällt mir“, des „Teilens“, des „Hashtags“, „Tweets“ und „Retweets“ leben. Beobachtung versteckt sich nicht ausschließlich hinter Drohnen und Kameras. Beobachtung und Beobachtetwerden sind integraler Bestandteil unserer Event-, Konsum- und Wissenskultur. Folgt man dieser Logik, dann bedeutet Missachtung zugleich kultureller Ausschluss. Wir wollen somit gesehen werden. Wir wollen „gestalkt“ werden. Das Selfie ist die am häufigsten veröffentlichte Fotografieform der letzten Jahre.
Was fehlt: Eine neue Ethik der Beobachtung
Es gilt somit, die Verantwortung nicht nur auf Staaten, Großkonzerne oder Medien- vertreter zu verschieben. Das Thema Da- tenschutz ausschließlich konspirologisch zu denken, wäre zu einseitig. Doch genau dies ist zumeist der Fall. Was fehlt: eine neue Ethik der Beobachtung im Zeital- ter „Digitaler Kulturen“. So ist „die Verantwortung für die öffentliche Sphäre“, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in einem kürzlich erschienenen Essay für Die Zeit schreibt, „heute auch ins Lager derjenigen diffundiert, die man einst zum „Publikum“ zählte“.9 Ein Bei- spiel: Die Empörung über die Öberwa- chung öffentlicher Räume ist — konsequent zu Ende gedacht — eigentlich eine Farce. Ein öffentlicher Raum gänzlich frei von Videoüberwachung wäre zugleich ein menschenleerer Raum. Sobald halbwegs Ereignishaftes oder Elendiges in einem öffentlichen Raum geschieht, ist eine Handlung immer wieder zu beobachten: Die Augenzeugen zücken ihre Handys. Sie filmen und fotografieren. Sie laden hoch und teilen, tweeten und kommentieren. Sie entblößen sich selbst und bisweilen gar die Würde ihrer gefilmten Mitmenschen. Man denke etwa an die per Handykamera dokumentierte Ermordung des Polizisten Ahmed Merabet durch die Charlie-Hebdo-Attentäter.
Eine neue Ethik der Beobachtung innerhalb „Digitaler Kulturen“ ist ein Plädoyer für einen reflexiven Umgang in Bezug auf unsere Beziehung mit den Medien. Wir können nicht weiter einfach so tun, als wäre das weltweite Netz ganz auf eine unproblematische Art und Weise ein öffentlicher Raum der Privatheit. Im Gegenteil: Wir müssen uns dieser dem Internet inhärenten Paradoxie bewusst werden. Hierzu müssen die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen neu gezogen werden. Wir können nicht gleichzeitig Privatheit beanspruchen und öffentlich in Erscheinung treten. Zudem sind wir nicht weiter bloß Konsumenten von Daten, sondern Produzenten. Diese Neuverteilung in- nerhalb der publizistischen Machtverhältnisse hat enormen Einfluss auf das, was wir als demokratische Öffentlichkeit begreifen. Konnte man früher einen konkreten Journalisten zur Verantwortung ziehen, muss man sich heute gewahr werden, dass hochgeladene Daten — dem Gerücht ähnlich — einfach ohne Quellenangabe weiter geteilt und retweetet werden.
Ein Plädoyer für eine neue Ethik der Beobachtung darf deswegen weder ein mah- nender Fingerzeig noch eine allzu einfache Lobrede auf das Geheimnis sein. Vielmehr geht es um Folgendes: Wir leben in einer Kultur, in der sich die Angst, nicht beachtet und die Angst, überwacht zu werden, in einem digitalen und medialen Widerspruch treffen. Bevor wir weiterhin große Sündenböcke suchen (NSA) oder den Untergang des Privaten monieren, sollten wir uns zuerst einmal dieses Widerspruchs bewusst werden. Wir können an dieser Stelle keine ausgefeilte Beschreibung dieser neuen Beobachtungsethik liefern, jedoch drei kleine Schritte zum Weg dorthin erläutern. Zunächst gilt es, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass alles, was im digitalen Universum Einzug er- hält, Konsequenzen für das analoge, reale Leben besitzt. Erst dann kann eine neue Sensibilität dafür geschaffen werden, inwieweit ins Netz gestellte Daten ethisch noch vertretbar sind. Letzten Endes sind immer reale Leben und keine digitalen Accounts betroffen.
Der zweite Aspekt betrifft die Beobachtung eigenen dissonanten Verhaltens: Es ist ein Widerspruch, sich einerseits dem konspirologischen Datenschutz-Diskurs anzuschließen, um andererseits bei jeder Gelegenheit Smartphone, Tablet oder Laptop zu zücken und Konzerne wie Facebook und Google freiwillig mit „privaten“ Daten zu füttern. Ein letzter, sensibler Punkt betrifft das „Recht auf Vergessen“. Gerade in Bezug auf das Internet liegt dieses Recht nicht mehr in der Hand derjenigen, die vergessen wollen, sondern kann faktisch von rechtmäßigen Besitzern (Google, Facebook usw.) als auch unrecht- mäßigen Beobachtern bestimmt werden. Anders als beim altmodischen Fotoalbum in Buchform scheitert die Eingrenzung des Publikums beim digitalen Pendant bereits an der räumlichen Öffnung: Im Internet gibt es keine zuziehbaren Vorhänge, keine abschließbare Wohnzimmertür. Dies war wohl auch die Einsicht von Jordi Mir, als er die hochgeladene Videosequenz der Ermordung Ahmed Merabets fünfzehn Minuten später von seinem Facebook-Profil wieder löschte. Es war zu spät. Seine Beobachtung wurde bereits geteilt.
1 Reuter, Robert A. P. (2015): „We are all natural-born (conspiracy) theorists“. In: forum, Nr. 353, S. 27-29.
2 Vgl. Giesen, Bernhard (2010): Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Ordnung. Wei- lerswist: Velbrück, S. 144.
3 Vgl. Serres, Michel (1987): Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
4 Vgl. Boltanski, Luc (2013): Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
5 Vgl. Merton, Robert King (1995): Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin: de Gruyter.
6 Beyes, Timon; Pias, Claus (2014): „Transparenz und Geheimnis“. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Band 8, Heft 2, S. 111-117.
7 Vgl. Turner, Victor (2005): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main: Campus.
8 Bauman, Zygmunt; Lyon, David (2013): Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Öber- wachung. Berlin: Suhrkamp, S. 37.
9 Pörksen, Bernhard (2015): „Pöbeleien im Netz ersticken Debatten. Wir brauchen endlich Regeln!“ In: Die Zeit, Nr. 26, S. 11.
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