Die Arbeitswelt der Hüttner

Buchbesprechung von Fabian Trinkaus, Arbeiterexistenzen und Arbeiterbewegung in den Hüttenstädten Neunkirchen/Saar und Düdelingen/Luxemburg (1880-1935/40)

Das Werk Arbeiterexistenzen und Arbeiterbewegung in den Hüttenstädten Neunkirchen/Saar und Düdelingen/Luxemburg (1880-1935/40) untersucht Möglichkeiten, Formen und Grenzen gesellschaftlicher Partizipation der Arbeiterschaft.1 Durch die parallele Erforschung von zwei Standorten — Neunkirchen und Düdelingen — will Fabian Trinkaus einerseits gemeinsame Strukturmerkmale erkennen, andererseits „Sonderwege“ feststellen. Die getroffene Auswahl ist opportun, sind doch beide Städte entscheidend von der Stahlindustrie und der ihr immanenten Arbeitsmobilität geprägt.2 In dem jeweiligen Revier kommt zudem den Hüttenwerken als zeitig „integrierten“ Produktionsstätten eine Pionierstellung zu. Des Weiteren räumt ihnen die Literatur ob des Wirkens von charismatischen Unternehmerfiguren —
hier Karl Ferdinand von Stumm (1836-1901), da Emile Mayrisch (1862-1928) — gerne eine Sonderstellung ein.

Die Hüttenarbeiterschaft im Fokus

Wie im Titel angelegt steht die Erforschung der Arbeits- und Lebensbedindungen der Arbeiter (Arbeiterexistenzen) im Zentrum der Untersuchung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Hüttnern. Diese Wahl wird damit begründet, dass sich die Wissenschaft bislang unter dem Begriff „Arbeiter“ in beiden Industrierevieren privilegiert mit dem Dasein der Bergleute auseinandergesetzt habe. Zudem habe sie die so gewonnenen Ergebnisse etwas leichtfertig auf die Existenzgrundlage der Hütten-
arbeiter übertragen. Indem der Autor resolut Letztere ins Visier nimmt beschreitet er demnach innovative Forschungspfade — wenn auch kein komplettes Neuland. Wie die Belege unschwer erkennen lassen, haben bereits in dem proto-universitären Wissenschaftsbetrieb Luxemburgs Forscherinnen und Forscher zu Teilbereichen der Abhandlung solide Arbeit geleistet.3 Diesem Erbe zollt der Autor durchaus Anerkennung, erschließt aber darüber hinaus eigene Wege. Indem er z.B. auf die „agency“-Ansätze4 aus der postkolonialen Forschung zurückgreift oder in Anlehnung an Thomas Wellskopp die Zusammenhänge zwischen Produktionssphäre, Lebenswelten und kollektiver Aktion untersucht.5 So kommt er zu völlig neuen Fragegestellungen, auf die im weiteren Verlauf der Besprechung hingewiesen wird.

Zunächst beschreibt der Autor die Zusammensetzung der Arbeiterschaft in Neunkirchen und Düde-lingen. An beiden Stahlstandorten wandert das Gros der Belegschaft ein. Die Rekrutierungsmodi sind allerdings recht unterschiedlich. In Neunkirchen dominiert die Binnenmobilität. Das ländlich geprägte Einzugsgebiet ist räumlich überschaubar. Demnach pendeln viele Arbeiter täglich oder wöchentlich,6 nach Neunkirchen. In Düdelingen ist neben der Binnen- und Regionalmobilität vor allem die Fernwanderung prägend. Die Präsenz der deutschen Hüttner, die vornehmlich aus dem Rheinland und Westfalen stammen, fällt in den Bereich der Regionalmobiltät.7 Die Fernmigration wird dagegen
bevorzugt aus Italien bedient.

Die Erträge dieses Kapitels lassen den Autor nach eventuellen Auswirkungen der unterschiedlichen Rekrutierung der Belegschaft — hier relativ homogene
regionale Herkunft, da heterogene Zusammensetzung mit gewichtiger Fernmigration — auf das solidarische Handeln der jeweils Betroffenen fragen. Die Analyse ergibt, dass in Düdelingen Solidarität tatsächlich bevorzugt entlang „ethnischer“ Grenzen verläuft.8 Die im Italienviertel segregierte Lebenswelt der italienischstämmigen Bevölkerung Düdelingens bietet einen ersten Erklärungsansatz. Fabian Trinkaus zeigt an Hand des von Niklas Luhman geprägten Exklusion/Inklusion-Begriffs die Wirkungsmächtigkeit dieses Rahmens: Wird eine Gruppe ausgeschlossen, reagiert sie mit internen Festigungsprozessen.9 Jedoch ist „Ethnie“ nicht der einzige Schlüssel. So ergeben sich in Neunkirchen aus konfessionnellen Unterschieden ähnliche Folgen.

Die Arbeit bestimmt die allgemeine
Existenz der Hüttner

Die Arbeit auf der Hütte ist extrem parzelliert und stark hierarchisiert. Dem Arbeiter wird wenig Gelegenheit geboten, sich während der Arbeitszeit mit Kollegen auszutauschen. Zudem befeuert die Segmentierung des Arbeitsprozesses bei gleichzeitiger Einführung von feinsten Gehalts- und Standesabstufungen die Konkurrenz zwischen den Arbeitern.10 Diese Ordnung dient den Hüttendirektionen gezielt als Gängelungsmechanismus. Zudem wird ein innerbetriebliches Arbeitsreglement durch ein vielfältiges Aufsichtspersonal gnadenlos durchgesetzt. Bereits geringste Verstöße werden mit Geldstrafen, Maßregelung, ja Entlassung geahndet.

Neu sind die Betrachtungen des Autors zu der „nationalen“ Segmentierung des Düdelinger Hüttenwerkes, in dem einige Abteilungen als „ethnisch“ homogen aufscheinen. So bleibt z.B. die physisch anstrengende Arbeit in der „Roulage“ — der manuellen Beschickung der Hochöfen — generell den italienischen Arbeitern vorbehalten. Die Werkstätten werden dagegen meist mit Luxemburgern oder Deutschen besetzt.11 Fabian Trinkaus lädt darüber hinaus zu einer weitaus nuancierteren Betrachtung ein, als bisher in der Forschung üblich. Kann er in Düdelingen kein italienisches Führungspersonal ausmachen, so findet er doch in neuen und wenig hierarchisierten Abteilungen der Hütte, wie z.B. unter den Mechanikern, durchaus gutbezahlte
Aufsteiger aus dem Italienviertel. Umgekehrt verrichten viele deutsche Arbeiter Handlangerdienste.

Die gewonnenen Erkenntnisse lassen demnach eine breite Vielfalt an Arbeitsbedingungen erkennen, ein Zustand der unabhängig von „ethnischen“ Mechanismen dem solidarischen Handeln nicht unbedingt förderlich ist.

Der Einfluss des Arbeitgebers beschränkt sich nicht auf den Arbeitsplatz. Der Unternehmer greift durchaus in die Privatsphäre des Arbeiters ein. Öber vielfache unternehmensbedingte Zuwendungen wie Sozialleistungen, Werkswohnungen, Zuweisung von Bauplätzen und Baukrediten, Einrichtung von Oekonomats (werkseigener Laden) installiert er die Kontrolle über das Privatleben seiner Arbeiterschaft. So verliert wer in der Arbeit nicht sputet nicht nur die Beschäftigung, sondern auch die Wohnung. Wer umgekehrt in der Wohnsiedlung etwa durch Trunkenheit auffällt, dem kommt nicht nur die Wohnung abhanden, sondern auch der Arbeitsplatz. Dieser Konnex hat durchaus disziplinierenden Charakter. Der Autor möchte deshalb die vielgepriesene Mayrisch’sche Sozialpolitik weniger als paternalis-tische Hinwendung an die Arbeiterschaft, denn als effizienten kapitalistischen Führungsstil verstanden wissen. So zeigt der Vergleich Düdelingen/Neunkirchen einerseits, dass das „Modell Mayrisch“ durchaus Ähnlichkeiten mit den Stumm’schen Methoden aufweist und andererseits, dass ein derartiges Vorgehen demnach wohl weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel eines modernen unternehmerischen Tuns repräsentiert.12

Arbeiterbewegung und Eigen-Sinn
des Arbeiters

Der abschließende Teil der Arbeit ist dem Aufkommen der Arbeiterbewegung gewidmet.13 Diese gilt gemeinhin als Antwort der Arbeiterschaft auf die von den Unternehmern diktierten Arbeits- und Lebensbedingungen.

Im Bezug auf Düdelingen hinterfragt der Autor zunächst die in der Literatur geäußerten Ansichten über das verzögerte gewerkschaftliche Engagement der Stahlarbeiterschaft Luxemburgs. Diese Entwicklung wird gerne als Folge des zunächst hohen Ausländeranteils an der lokalen Arbeiterschaft kommentiert. Die geleistete Feinanalyse bringt jedoch Öberraschendens zu Tage. So zeigt sich, dass im Bereich des metallverarbeitenden Gewerbes in Deutschland das gewerkschaftliche Engagement zunächst mehrheitlich Sache der (Fach-)Arbeiter der Klein- und Mittelbetriebe war. In den Großbetrieben der Stahlindustrie war die Beteiligung dagegen ähnlich dürftig wie in Luxemburg.14 Hier gilt es also neben der „ethnischen“ Vielfalt weitere organisa-tionshemmende Elemente festzustellen. Erwähnt wurde bereits die Segmentierung der Arbeitswelt in den Hüttenwerken.15 Auch die Wirkungsmächtigkeit der unternehmerischen Strategien sollte nicht unterschätzt werden.16

Neben einer gewissenhaften Beschreibung der Etablierung der Gewerkschaftsbewegung in Düdelin-gen besticht die Arbeit von Fabian Trinkaus weiter vor allem durch Ausführungen zu den Aktionsmöglichkeiten der Arbeiter jenseits der klassischen Arbeiterbewegung. So zeigt der Autor in Anlehung an den von Alf Lüdtke geprägten Begriff des „Eigen-Sinnes“17, wie individuelle Arbeiter oder kleinere Gruppen von Arbeitern sich geschickt durch Renitenz oder Insubordination gegen die betriebliche Allmacht wehren. Als Beispiel wird das „Bremsen“ angeführt, das abgesprochene und kontrollierte Arbeiten.

Des Weiteren weist Fabian Trinkaus überzeugend auf, dass die gängige Literatur völlig zu Unrecht die italienischen Arbeiter als passiv, uninteressiert und devot gegenüber dem Arbeitgeber darstellt. Auch wenn diese nicht im klassischen Sinne organisiert sind, so sind sie durchaus nicht bereit, alle Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Immer wieder setzen sie entlang „ethnischer“ Solidaritätslinien spontane Streiks ein, um die Verbesserung ihrer immediaten Arbeitsbedingungen zu erreichen.18 Hier wird die in einem Handlungsfeld — Wohnen im Italienviertel — eingeübte Solidarität auf ein anderes Handlungsfeld — Arbeit auf der Hütte — übertragen. Diesen Konnex der Handlungsfelder schätzt der Autor als derart determinierend ein, dass von „außen“ geleistete Gewerkschaftsarbeit sogar beim Einsatz von muttersprachlichen Rednern kaum Chance hat, gehört zu werden.19

Zum Abschluss moniert der Autor einige Forschungsdefizite. So weist er darauf hin, dass die wichtige Sammlung an Stammrollen (Personal-
listen) des Düdelinger Werkes bisher brach liegt. Dem kann man nur beipflichten und bedauern, dass die vor einem Vierteljahrhundert in der Fondation Bassin minier initiierte Datenbank „BAMI“, trotz des beständigen Einsatzes von vielen Forscherinnen und Forschern, sowie Institutionen aus dem In- und Ausland, aufgrund fehlender Bezuschussung Flickwerk geblieben ist.

Die Lektüre fordert dem Publikum einiges ab, da die Veröffentlichung nur knapp von der Blaupause der Dissertation abweicht, die ihr zu Grunde liegt.20 So unterfüttert der Autor durchgehend seine Öberlegungen mit Hinweisen zu Erträgen aus so unterschiedlichen Forschungsfeldern wie Industrie-, Sozial-,
Arbeiter-, Gewerkschafts-, Politik-, Ideologie-, und Alltagsgeschichte. u

Für Düdelingen wird die Studie bis zum Kriegsaubruch 1940, für Neunkirchen bis zur Saarabstimmung 1935 geführt.
In Neunkirchen kommt allerdings dem Montanbetrieb zusätzlich eine wichtige Bedeutung zu.
In der Literaturliste aufgeführt werden die Arbeiten von Charles Barthel, Maria Luisa Caldognetto, Ben Fayot, Janine Frisch, Serge Hoffmann, Monique Kieffer, Jean Lamesch, Antoinette Lorang, Marcel Lorenzini, Jacques Maas, Jean-Marie Majerus, Denis Scuto, Raymond Steil, Henri Wehenkel. Zusätzlich sei auf François Scholer
(Arbeitsbedingungen) und Jean-Marie Majerus (Gewerkschaften) hingewiesen.
Diese gestehen im Gegensatz zu den marxistischen oder strukturalistischen Ansätzen individuellen Akteuren einen Handlungsspielraum (agency) zu.
Fabian Trinkaus, Arbeiterexistenzen…., S. 424 ff. So widmet er sich der Interaktion von Handlungsfeldern wie Arbeiten, (Privat)-Leben oder gewerkschaftlichem Engagement.
Infolge sind die in Düdelingen irrelevanten Schlafhäuser in Neunkirchen stark verbreitet. Auch dem Typus des Arbeiterbauern kommt hier eine gewichtige Bedeutung zu.
Viele stammen aus den Stahlrevieren des Ruhrgebiets.
Italienische Arbeiter protestieren oder streiken getrennt von der übrigen Belegschaft.
Niklas Luhman, Die Soziologie und der Mensch, Opladen, 1995.
So gibt es 1932 am Hochofen eine Lohnhierarchie von 1 zu 3. Im Walzwerk sind die Besoldungsunterschiede noch ausgeprägter.
Die Arbeit beruhte hier oft auf klassischen Ausbildungsberufen, wie z.B. dem des Schlossers.
Diesen Ansatzpunkt hat auch bereits Charles Barthel moniert, siehe Charles Barthel, Emil Mayrisch, in: Sonja Kmec, Benoît Majerus, Erinnerungsorte in Luxemburg, Luxemburg, 2008, pp. 97-102.
Der Autor setzt sich eingehend mit dem Begriff und dessen vielfältigen Interpretationen in der Literatur auseinander.
So ist auch nur ein verschwindend kleiner Teil der zahlreichen deutschen Arbeiter der luxemburgischen Stahlwerke im Deutschen Metallarbeiterverband (DMV). der in Luxemburg tätig ist. organisiert.
Hier ist der Hinweis auf den bedeutenderen Organisationsgrad und die höhere Streikbereitschaft der Bergleute, die in einem weniger
hierarchisierten Arbeitsumfeld agieren, durchaus einleuchtend. Eine Tatsache die von Serge Bonnet auch für Lothringen bestätigt wird.
So versucht Emile Mayrisch mit der Gründung einer hauseigenen, also eigentlich „gelben“ Arbeiterdelegation den Gewerkschaften den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag. Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg, 1993. Diese individuellen Handlungen können natürlich die gesellschaftliche Wirkung der Arbeiterbewegung nicht ersetzen.
Besonders für die Vorkriegsjahre sind in Düdelingen viele Streiks der italienischen Roulage-Arbeiter aktenkundig.
So scheitern Versuche des DMV, die italienische Arbeiterschaft über den Einsatz von muttersprachlichen Aktivisten wie Anselmo Ungari zu gewinnen, kläglich.
Als solche ist die ihr zugrunde liegende Arbeit an der Universität des Saarlandes entstanden. Gleichzeitig war sie Teil des von dem luxemburgischen Wissenschaftsfonds FNR gestützten Projektes PARTIZIP 1 an der Universität Luxemburg. Ergebnisse, siehe Norbert Franz, Jean-Paul Lehners (Hrsg.), Nationenbildung und Demokratie. Europäische Entwicklungen gesellschaftlicher Partizipation, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2013.

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