Die besseren Migranten

Eine Begriffsbestimmung

Die Zahl der Menschen, die nicht in ihrem Geburtsland leben, ist auf einem vorläufigen Höhepunkt angekommen. Laut UN-Bericht von 2017 sind mehr als eine Viertelmilliarde Menschen derzeit in Bewegung, ca. 60 Millionen davon auf der Flucht. Sie verlassen ihre Heimat auf bestimmte oder unbestimmte Zeit, um sich an einem oder mehreren Orten kurzzeitig aufzuhalten oder langfristig niederzulassen. Auf dem Höhepunkt globaler Mobilität droht die sog. Flüchtlingskrise einen bedeutenden Wandel in der Migrationspolitik westlicher Demokratien zu provozieren. Doch während die europäische Staatengemeinschaft an der Migrationsfrage zu zerbrechen droht und selbst hinter dem großen Teich der Freiheit in Form einer herbeigesehnten Stahlmauer der Riegel vorgeschoben werden soll, tun sich jene Regierungen, die lautstark die Begrenzung der Einwanderung fordern, bei der etwas anderen Form der Wirtschafts- und Arbeitsmigration weitaus weniger schwer. Denn, wenn es um sogenannte „Fachkräftesicherung“ geht, ist ihre Aufnahmebereitschaft wesentlich größer – eine Diskrepanz, die sich auf terminologischer Ebene reproduziert. Kaum bis selten als „Immigranten“ bezeichnet, sondern geläufiger unter der Bezeichnung „Expats“ geführt, genießen hochqualifizierte, internationale Einwanderer*innen Vorzug und erhebliche Privilegien in Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsrecht.

Rassen- oder Klassenbegriff?

Ausgangspunkt der Kontroverse um die Bezeichnung „Expat“ ist in erster Linie die historisch tradierte terminologische Abgrenzung einer sozioökonomisch privilegierten Gruppe. In einem kurzen, nicht unumstrittenen Artikel Why are white people expats when the rest of us are immigrants? im britischen Guardian fordert Mawuna Remarque Koutonin, Friedensaktivist und Herausgeber von SiliconAfrica.com, die politische Dekonstruktion der Bezeichnung „Expat“ – ein Label, hinter dem er einen ideologisch aufgeladenen Begriff vermutet, der Zugehörigen einer globalen Elite, genauer noch, älteren, reichen, weißen, überwiegend englischsprachigen Bewohnern der westlichen Hemisphäre, die im Ausland arbeiten, vorbehalten bleibt. Obwohl Englisch heutzutage eher als lingua franca zur Verständigung auf den globalisierten Arbeitsmärkten dient, werden laut Oxford Dictionaries tatsächlich Menschen aus den fünf Ländern Großbritannien, Amerika, Indien, Kanada und Australien am häufigsten mit der Bezeichnung „Expat“ assoziiert. Das Privileg dieser Benennung – Relikt einer längst überholten eurozentrischen Weltsicht, deren Machtstrukturen jedoch immer noch nachwirken, gelte es den Begünstigten zu entziehen. Und dies beginne schon bei der Wortwahl.

Obwohl sich das Profil des von Koutonin gezeichneten „Expats“ besonders im Laufe der vergangenen beiden Jahrzehnte stark entwickelt, vor allem aber weit über die Fragen des Geschlechts, Familien- und Zivilstandes, der Herkunft oder „Rasse“ hinausgehend diversifiziert hat und sehr wohl auch – und sogar in großem Umfang – third country nationals, also Drittstaatenangehörige, die nicht von der gleichen Freizügigkeit innerhalb der EU profitieren, umfasst, scheint der Bezeichnung „Expat“ in der öffentlichen Wahrnehmung weniger ein Rassen-, als Klassenbegriff anzuhaften. So dient Nic Subtirelu die von ihm als zu kurz gegriffen empfundene Definition Koutonins zum Anlass, aus dem Korpus von GloWbE (Global Web-Based English) einige Daten zusammenzutragen, um die Assoziationstendenzen zu den beiden Begriffen „Expat“ und „Immigrant“ genauer zu untersuchen.1 An den Begriffen, die am häufigsten in Zusammenhang mit den beiden Stichworten vorkommen, lassen sich einige aussagekräftige Angaben darüber machen, welche Eigenschaften, Vorstellungen und Erwartungen die Menschen am häufigsten mit den genannten Begriffen verbinden. Obwohl Subtirelus Ergebnisse hinsichtlich der Kategorie „Rasse“ tatsächlich die Tendenz, Immigranten als „people of color“, also Nicht-Weiße zu identifizieren, eindeutig belegen, ließe sich die Unterscheidung der beiden Begriffe keineswegs auf allein diesen Aspekt reduzieren. Gerade in der Gegenüberstellung beider Begriffe schält sich ein Definitionsansatz heraus, der den Begriff des „Expats“ hauptsächlich über höhere Bildungsabschlüsse und Qualifikationen, die Tätigkeit in Berufsfeldern, die ein hohes Ansehen genießen und die daraus resultierende Zugehörigkeit zu einer höheren sozioökonomischen Klasse herleitet. Merkmale, die dazu beitragen, dass sich das Bild einer Elitenmigration von Bildungsbürgern und Besserverdienern, kurz gesagt, Immigranten erster Klasse, in der allgemeinen Wahrnehmung verfestigt hat.

Bildungsgrad, Beruf und Einkommen sind die drei Schlüsselkriterien, nach denen die Soziologie die Schichtzugehörigkeit eines Menschen in der Gesellschaft bemisst und ihn grob in drei Kategorien, nämlich als der Unterschicht, der gesellschaftlichen Mitte oder der Oberschicht zugehörig, einstuft. Das Durchschnittseinkommen gilt weiterhin als Richtwert dafür, wo sich der Einzelne auf der Skala von Oben – Mitte – Unten positioniert. Ein relativ unzuverlässiger Indikator, vermag er doch nicht die theoretisch nach oben hin offene Steigung abzustecken.2 Auch exakt bestimmbare Grenzen zwischen den Schichten sind im Zuge der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich kaum noch zu ermitteln. Zwar wird eine abnehmende Aufstiegsmobilität angenommen, jedoch stellt der spektakuläre Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft die relativ nahtlose Umwandlung eines in jenen Bereichen erworbenen institutionalisierten Kulturkapitals, das auf dem Markt derzeit besonders gefragt ist, in ökonomisches Kapital in Aussicht.3 Höhere Bildungsabschlüsse und Qualifikationen, also Bildungskapital im Bordieu’schen Sinne, erhöhe die Zugangschancen zu einkommensstarken Erwerbstätigkeiten, die wiederum Vermögenssicherung versprechen.

Wo sich ein Migrant auf dem soziokulturellen Spektrum positioniert, hängt allerdings nicht nur davon ab, welches Kulturkapital er mitbringt, sondern wie viel davon er im Ankunftsland geltend machen kann. So können z.B. Afrikaner selbst dann, wenn sie offiziell über ein höheres institutionelles Kulturkapital verfügen, keinerlei Vorteile für in den Peripherieländern erworbene Diplome beanspruchen. Doch auch das Herkunftsland wird, je nachdem wo es sich in der globalen Hierarchie der Nationen positioniert, zu einem weiteren Kriterium, das die Migration in ein entwickeltes Land stark beeinflusst. Nord- und mitteleuropäische Freizügler sowie Drittstaatenangehörige der nördlichen Hemisphäre genießen nicht nur Vorrang gegenüber Drittstaatenangehörigen der südlichen Hemisphäre, sondern sogar gegenüber südlichen EU-Mitgliedsstaaten. Hochqualifizierte Migration unterscheidet sich von niedrigqualifizierter Migration jedoch nicht nur durch die Anerkennung des institutionalisierten Kulturkapitals, sondern in erster Linie durch das Arbeitsverhältnis. Im Gegensatz zu niedrigqualifizierten Migranten reisen hochqualifizierte Migranten i.d.R. bereits mit bestehenden Arbeitsverträgen in die Industrieländer ein. (Hartmann-Hirsch, 2008)

Ein Definitionsversuch

Wo also positionieren sich die sog. „Expats“ im Spektrum der Hochqualifizierten und wie ist der Begriff zu definieren? Darf sich auch ein ausländischer, in Luxemburg beschäftigter Niedriglohnarbeiter als Expat bezeichnen? Und ist ein Expat, der sich dauerhaft in Luxemburg niederlässt, ein ansässiger Ausländer? Wenn ja, ist er es dann im gleichen Maße wie die seit mehreren Generationen in Luxemburg ansässigen Italiener, Portugiesen, Capverdianer, Ex-Jugoslawen…? Können aus den unmittelbaren Grenzregionen der Nachbarländer stammende Belgier, Franzosen oder Deutsche, die berufsbedingt nach Luxemburg ziehen, auch Expats sein? Oder sind sie es nur, wenn sie hohe Positionen in bestimmten Berufssparten bekleiden? Ist nur jemand, der sein Leben berufsbedingt dem globalen Nomadentum aus zeitlich begrenzten Aufenthalten an immer wechselnden Orten fernab der Heimat verschreibt, ein Expat? Und wie nennt man eigentlich Expats, die nach jahrelangem Auslandsaufenthalt wieder heimkehren? Definiert sich der Begriff nun über spezifische Berufssparten- und branchen, die Aufenthaltsdauer im Ankunftsland, geografische und kulturelle Ferne bzw. Proximität zum Zielland oder die Transferrichtung?

Als eigenständiger Eintrag in Lexiken taucht der Begriff „Expat“ hauptsächlich im Rahmen der (Betriebs-)Wirtschaftslehre oder den Vorgang der „Expatriation“ betreffend auf. Überraschend ist dann zumindest, dass in dem 1981 erstmals erschienen The Dictionary of Human Geography keiner der beiden Begriffe aufgeführt wird. Dieses Versäumnis ist dann zumindest im fast gleichnamigen und 2013 erschienenen A Dictionary of Human Geography ausgeräumt, der den Expat als „[a] person settled outside their country of origin, often abbreviated as ‚expat‘. In practice the term is generally applied to professionals, skilled workers, or artists from affluent countries, often transferred by companies, rather than all immigrants in general“4 definiert wird. Der Expat wird hier somit in erster Linie als berufsbedingter Auswanderer und in Abgrenzung zum Begriff des „Immigranten“ definiert. Dabei wird auch der Aspekt der höheren Qualifizierung und des von einem Unternehmen initiierten Personaltransfers hervorgehoben, über die Dauer des Auslandsaufenthaltes werden hingegen keine Angaben gemacht. Dass der Begriff „Expat“ gerade in der Abgrenzung zum Begriff „Immigrant“ an Trennschärfe gewinnt, legt die Unterscheidung zweier Formen von Migration nahe, an deren Ursprung jeweils eine intentionale bzw. non-optionale Entscheidung steht. Während der Begriff „Immigrant“ i.d.R. eine durch äußere Umstände (Krieg, Verfolgung, Umweltkrisen,…) erzwungene Migration suggeriert, erfolgt die Migration des „Expats“ berufsbedingt und aus freien Stücken. Ob eine Migration gewollt und freiwillig oder gezwungenermaßen angetreten wird, entscheidet darüber, unter welchen Vorzeichen sie verläuft und wie sie behördlich eingestuft und gehandhabt wird.

Über diesen Aspekt nimmt der Begriff „Expatriate“ oder „Expatriierte“, also kurz „Expat“ (lat. ex = aus/außerhalb und patria = Vaterland), Bezug auf seinen eigentlichen Wortsinn. Ursprünglich bezeichnet der Vorgang der „Expatriation“ nämlich den Verlust der Staatsbürgerschaft, der zwei Formen kennt: die freiwillige und unfreiwillige Ausbürgerung, entweder durch Verzicht auf die Staatsbürgerschaft (z.B. um Staatsbürger eines anderen Landes zu werden) oder Aberkennung der Staatsbürgerschaft (eine nach heutigem europäischen Recht allerdings unzulässige Praxis, da sie Staatenlosigkeit zur Folge hätte).

Doch damit nicht genug. Wer sich nun eine technische, fachspezifische Definition erhofft, wird erst einmal feststellen müssen, dass es nicht nur einen Typus „Expat“ gibt. Die Wirtschaftswissenschaft kennt inzwischen unzählige Fachtermini, die die unterschiedlichen Arten des Personaltransfers (zu Einzelheiten siehe auch das Glossar in dieser Ausgabe) nach den Kriterien von u.a. der Transferrichtung (z.B. vom Mutter- zum Tochterunternehmen und vice versa oder auch von einem Tochterunternehmen an ein anderes), Transferdauer, Transferzweck u.v.m. kennzeichnen.

Obwohl die Bezeichnung „Expat“ begriffsgeschichtlich eine Verbindung zur Kolonialzeit beinhaltet, der die Implizierung von „white supremacy“, „white collar“, „first world“ usw. innewohnt, ist Arbeitsmobilität zu Zeiten von globalisierten Arbeitsmärkten längst nicht mehr das Privileg einer vermögenden Minderheit aus Politik und Wirtschaft, sondern nunmehr die Regel. Neuere Expatriate-Studien zeigen, dass sich im Querschnitt ein Profil abzeichnet, das immer mehr typische Einwanderer-Szenarien beinhaltet.

1) https://linguisticpulse.com/2015/03/15/expats-and-immigrants-how-we-talk-about-human-migration/ [abgerufen am 11.01.19]
2) Stefan Hadril: Soziale Schichten http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138439/soziale-schichtung?p=all [abgerufen am 13.01.19]
3) Jedoch ist auch eine Entwicklung in die gegengesetzte Richtung möglich. Mittelschichtler mit Bildungsabschlüssen und Ausbildungen, die nicht mehr marktgängig sind, drohen im Schichtungsgefüge zunehmend „nach unten“ abzurutschen, gilt die Grenze zwischen Unter- und Mittelschicht doch als besonders durchlässig.
4) Castree, Noel/ Kitchen, Rob/ Rogers, Alisdair: A Dictionary of Human Geography, Bd.1, Oxford University Press, 2013, S. 143.

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