Die Demokratie fällt nicht vom Himmel

Einführung ins Dossier

Ach ja, der gute Francis Fukuyama! Ist er nicht der lebende Beweis dafür, dass selbst hochdotierte Harvard-Absolventen und Stanford-Professoren irren können? Dass Politikwissenschaft zu den am wenigsten exakten, weil kaum mathematisch fassbaren Wissensgebieten überhaupt gehört und ihre größten Feinde Spekulation und Wunschdenken sind?

In seinem Erstlingswerk und globalen Superseller Das Ende der Geschichte1 beschwor Fukuyama 1992 den finalen Sieg des westlichen Zivilisationsmodells. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch der Sowjet­union gehe der Liberalismus im Konkurrenzkampf der Systeme – Faschismus und Nationalsozialismus waren schon ein halbes Jahrhundert zuvor niedergerungen worden – endgültig als Sieger vom Platz. Fortan, so der mit stringenter Logik und Hegelscher Dialektik argumentierende Fukuyama, würden Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit langsam, aber sicher bis in die hintersten Winkel des Globus vordringen können, alle Menschen und Nationen gleich welcher Couleur und Kultur würden sie freudig als befreiende, emanzipatorische, Glück und Wohlstand versprechende Ordnung für ihr Gemeinwesen begrüßen, auf dass ein finales goldenes Zeitalter anbreche: das Ende der Geschichte, wie wir sie bislang erdulden mussten.

Heute, fast drei illusionslose Jahrzehnte später, muss Fukuyama zugeben, dass er mit seinen Visionen, nun ja, nicht ganz so richtig lag. Der Liberalismus hat die Welt nicht in ein irdisches Paradies verwandelt, Demokratie und Kapitalismus haben sich nicht als zwei untrennbare Seiten derselben funkelnden Medaille entpuppt, die Würde des Menschen bleibt hochgradig antastbar und wird weiter massiv angetastet.

Und so bleibt denn auch künftig die Frage offen, was die Demokratie in ihrem anthropologischen Wesenskern überhaupt ist: naturrechtliches Gesetz oder kultureller Ausnahmezustand? Kommt der Mensch als edler Demokrat zur Welt und mutiert durch die Macht der Verhältnisse zum hässlichen Antidemokraten? Oder ist er in Wahrheit ein natürliches Ekel, das erst durch Erziehung und Sozialisation zum wahrhaften Citoyen wird?

Ein kostbares, fragiles Gut

Stützen wir uns auf das, was wir, von unserer subjektiven Warte aus, als Gewissheit empfinden: die Demokratie, d.h. die Idee, dass der regierte Demos (das Staatsvolk) sich eigenverantwortlich selber regiert, ist ein kostbares Gut. Sie ist fragil und vielerlei Gefahren ausgesetzt. Sie muss Tag für Tag, im Kleinen wie im Großen, von Generation zu Generation, erlernt, gelebt und verteidigt werden. Keinesfalls darf sie sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, sondern muss – panta rhei – im Fluss bleiben, sich ständig überdenken, gegebenenfalls neu erfinden. Wird sie träge und selbstgefällig, lässt sie Eigennutz und Missbrauch zu, behandelt die Klasse der Berufspolitiker, Lobbyisten und Spindoktoren sie als Hort von Privilegien, als chasse gardée für Eingeweihte, ist Gefahr im Verzug. Macht sie sich in ihrer Darstellung die algorithmisch getunten Kodizes der Massenpsychologie aus Kommerz, Kriegsführung und Showbusiness zu eigen, opfert sie den Imperativ der Wahrhaftigkeit den Untugenden von Infantilisierung und Manipulation. Gerät sie zum Schauplatz für kollektive Entrüstungsorgien, zur Shitstorm-Arena, wo der nüchterne, sachbezogene, kompromissfähige Diskurs dem verbal verrohten Überbietungswettbewerb weicht, ist sie auf dem besten Wege, sich selbst abzuschaffen. Und urplötzlich ertönt er dann wieder: der Ruf nach der starken Führungsfigur, simplen Gewiss­heiten und nationalem Stolz, der Totengesang auf die offene Gesellschaft.

Selbstverständlich kann dieses forum-Dossier nicht die ganze Bandbreite des exis­tenziellen Themenkomplexes „Zukunft der Demokratie“ abdecken – selbst dann nicht, wenn wir uns ausschließlich auf Zustand und Eigenarten der demokratischen Praxis in Luxemburg konzentrierten. Dennoch ist es ein sehr vielfältiges und fundiertes Dossier geworden, zu dem unsere Autorinnen und Autoren allem vorweihnachtlichen Stress zum Trotz mit Engagement und Expertise ihren Beitrag geleistet haben.

Dazu gehört z.B. die manchen Zeitgenossen sonderbar anmutende Spezies jener Jugendlichen, die unverzagt an die eminent wichtige Rolle politischer Parteien in der Demokratie glauben. Denn machen wir uns nichts vor: In einer Partei – bzw. ihrer Jugendorganisation – aktiv zu sein, macht nicht immer nur Spaß, bringt nicht dauernde Erfolgserlebnisse, zumal wenn das simulierte Hoheitswissen der Altvorderen im Verbund mit rigiden statutarischen Regeln und Ritualen einer leidenschaftlichen Ausdrucks- und Aktionsfreiheit mitunter enge Grenzen setzt. Eines wird bei der Lektüre der Beiträge (S. 38) von Alex Donnersbach (CSJ), Lou Linster (JDL), Jessie Thill und Meris Sehovic (Déi Jonk Gréng), Georges Sold (JSL) sowie der Vertreter von ADRenalin und Elo! (Ekologesch Lénk Jugendorganisatioun) trotzdem deutlich: Bei der Beantwortung unserer „3 Fragen an die Jugendparteien“ wird kein Trübsal geblasen, werden keine leeren Phrasen gedrechselt, keine allseits gefälligen Plattitüden zum Besten gegeben. Obschon einzelne Stichworte wie „Fake News“ und „Ausländerwahlrecht“ mehrfach genannt werden, kann von Einheitsbrei keine Rede sein. Im Gegenteil, die weitgefächerten Themenschwerpunkte zeigen, dass die Parteien und ihre Jugendverbände in jüngerer Zeit vielleicht wieder ein Stück unterscheidbarer geworden sind. Und das ist gut so. Denn Parteien sind und bleiben als zentrale Akteure der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung in der repräsentativen parlamentarischen Demokratie unverzichtbar – auch wenn diese nicht der Weisheit ultimativer Schluss sein kann und die Demokratie als Ganzes dringend eine „holistischere“ Perspektive benötigt.

Partizipation macht glücklich

Wie dieses hehre Postulat zur praktizierten Realität werden kann, zeigt das Beispiel von Bürgerversammlung und Bürgerrat in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, jenem mit 77.000 Einwohnern kleinsten, im Osten des Königreichs gelegenen Gliedstaat innerhalb des belgischen Föderalstaats. Jürgen Stoldt berichtet (S. 25) von einer Podiumsdiskussion mit Alexander Miesen, Präsident des Parlaments der DG, der vor kurzem in Luxemburg weilte und über erste, rundum positive Erfahrungen mit den neuen Bürgergremien referierte, deren Mitglieder per Auslosung bestimmt werden. Dass zwei versierte Luxemburger Politiker – Claude Wiseler und Alex Bodry – das ostbelgische Modell als „einigermaßen exotisch“ empfinden, lässt aufhorchen, gelten die deutschsprachigen Belgier doch generell als bodenständiges, traditionsbewusstes Völkchen, dessen Kirchen noch mitten im Dorf stehen.

Für eine ähnlich innovative Marschroute unter dem Motto „Vos idées pour demain“ hat sich Bodrys Heimatgemeinde Düdelingen entschieden (S. 27). Nachdem sich das 2015 lancierte Modell der Bürgerbeteiligung in Sachen Stadtentwicklung (Aufstellung des allgemeinen Bebauungsplans, Linienführung des City-Bus, Projektierung eines neuen Wohnviertels) bewährt hat, trat vor drei Monaten der nach dem Losverfahren besetzte Biergerrot mit 15 Mitgliedern erstmalig zusammen. In Vorbereitung sind zudem ein „Bürger-Panel“ mit 100 Freiwilligen für Online-Konsultationen sowie ein partizipatives Budget. Nachahmenswert!

Wozu auf die Politik warten, wenn man die Dinge auch selbst in die Hand nehmen kann? Norry Schneider beschreibt (S. 28) am Beispiel des Klima-Bürgerforums, wie man erfolgreiche Bottom-up-Prozesse in Bewegung setzen kann, bei denen Menschen ganz unterschiedlicher Provenienz und Sensibilität die Köpfe zusammenstecken, um gemeinsam nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie ein „gerechter und einheitlicher ökologischer Wandel“ gelingen kann. Ferner erläutert der Autor das von der Transitionsbewegung getragene Konzept des Ernährungsrats – eine Idee, die Luxemburgs Regierung in ihr Programm 2018-2023 aufgenommen hat.

„Ist der Sozialdialog am Ende?“, fragt Michel Cames, der sich (S. 34) Gedanken macht über Pro und Contra des seit vier Jahrzehnten exerzierten Luxemburger Sozialmodells mit der altehrwürdigen Tripartite als Herzstück. Ist eine solche Institution, deren Akzeptanz rückblickend eng an Habitus und Persönlichkeit der beteiligten Gewerkschaftsführer, Arbeitgeberfunktionäre und Regierungsmitglieder gekoppelt war, unter den heutigen, stark veränderten Rahmenbedingungen überhaupt noch in der Lage, tragfähige Entscheidungen zu treffen? Skeptisch hinterfragt der Autor, ob die einst so starken Luxemburger Gewerkschaften hinreichend auf den postmaterialistischen Wertewandel sowie die Umstrukturierung der Industrie- in eine hochkomplexe Dienstleistungsgesellschaft reagiert haben.

Dass die Zeiten für sozialpartnerschaftlichen Dialog im Land rauer geworden sind, davon ist auch der OGBL-Gewerkschafter Frédéric Krier überzeugt (S. 56). Vor allem sieht er die demokratische Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene in Gefahr, kritisiert einen fundamentalen Sinneswandel auf Arbeitgeberseite, warnt vor einem Rückfall in vordemokratische Zeiten des betriebsinternen Feudalismus und plädiert für die gesetzliche Einführung verbindlicher Sozialbilanzen in größeren Unternehmen.

Fabienne E. Hollwege glaubt, dass ein demokratisches, partizipatives und respektvolles Miteinander bereits in der Schule beginnen muss. Sie schildert den Verlauf des Workshops „Beweg (dich) etwas!“, den das Zentrum fir politesch Bildung im Vorfeld des Public Forum „Quo vadis, democratia?“ Anfang Oktober mit jungen Leuten im Mierscher Kulturhaus organisiert hatte (S. 59).

In die gleiche Richtung zielt der von Chris­tophe Colling, Schüler am Lycée technique in Ettelbrück, ins Leben gerufene Zirkel „Initiativ“ zur Demokratisierung seiner Schule (S. 61). An vier ergänzenden Stellungnahmen von Altersgenossen (Anne Cassao, Joe Mersch, Schülercomité LTEtt sowie eine Schülerin des Lycée Saint-Anne) wird sichtbar, dass die Jugendlichen diesbezüglich ernst genommen werden wollen. Auch bei den exis­tierenden Schülerkomitees scheint vieles noch verbesserungs- und ausbaufähig.

Solidarität gegen Bauchnabelschau

Es gibt wohl nur wenige Mitbürger in Luxemburg, die sich so profunde Gedanken über Zustand und Funktionsweise von Staat und Gemeinwesen machen wie Victor Weitzel. In seinem Essay „Demokratie in der Sackgasse“ legt er (S. 43) dar, warum es aus seiner Sicht um unsere demokratische Kultur nicht zum Besten steht. Das beginne schon bei den Grenzgängern, jener einen Hälfte der Werktätigen, ohne deren gewichtigen Anteil an der Wertschöpfung das einheimische Wirtschafts- und Sozialsystem kollabieren würde, die jedoch im kollektiven Imaginaire der Politik schlichtweg keine Rolle spielten. Auch die Leistungsbilanz der blau-rot-grünen Regierungskoalition, die mit dem Anspruch angetreten war, alles anders und alles besser zu machen, in Wirklichkeit aber nicht viel mehr als „palliative Reformen“ zuwege gebracht habe und zudem die explosive Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht entschärfen konnte (oder wollte), stimmt den Autor pessimistisch. Nachdem sich die traditionellen soziologischen Milieus aufgelöst hätten, beherrsche heute eine liberal-libertäre Individualisierungsrhetorik den öffentlichen Diskurs. Damit werde über kurz oder lang der Solidaritätsgedanke ausgehebelt, befürchtet Victor Weitzel.

Auch Michell W. Dittgen vertritt den Standpunkt, dass sozio-ökonomische Ungleichheit dem demokratischen Ideal zuwiderläuft (S. 31). Detaillierte Studien hätten nachgewiesen, dass die Wahlbeteiligung in jenen Kommunen oder Stadtvierteln geringer ausfalle, wo die Arbeitslosigkeit höher liege. Menschen ohne sinnstiftende Beschäftigung kapselten sich vom politischen Leben ab, weil sie sich ausgeschlossen und abgehängt fühlten. Im Großherzogtum sei diese Tendenz aufgrund der gesetzlichen Wahlpflicht aber weniger ausgeprägt. Der Autor bescheinigt dem Luxemburger Wahlsystem deshalb – man höre und staune! – „ein republikanisches Demokratieverständnis“.

Mit „demokratischer Meinungsbildung im digitalen Zeitalter“ befasst sich Antje von Ungern-Sternberg (S. 49). So betont die Trierer Rechtsprofessorin, Intermediäre wie Google oder Facebook fühlten sich keinen journalistischen Standards verpflichtet, sondern seien vordringlich an den durch Klicks generierten Werbeeinnahmen interessiert. Durch eine Novellierung des Medienrechts in Deutschland sollten diese künftig verpflichtet werden, in „verständlicher Sprache“ offenzulegen, wie ihre Algorithmen funktionieren. Auch geht die Autorin der Frage nach, ob man potenziell demokratiegefährdenden Phänomenen wie Fake News und Social Bots mit juristischen Instrumenten zu Leibe rücken sollte, ohne sich der Kritik auszusetzen, die Meinungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken. Wichtig seien außerdem Überlegungen, ob journalis­tische Sorgfaltspflichten nicht auch für Online-Formate jenseits der klassischen Anbieter aus Presse, Funk und Fernsehen gelten sollten: Social Media, Blogger, Influencer oder YouTuber.

Eine Lanze für die umstrittene Call-out-Culture im Internet bricht Tessie Jakobs. Die Praxis besteht darin, dass sogenannte Woke-Menschen andere auf diskriminierendes Verhalten oder Sprachgebrauch im Netz hinweisen und sie zur Rede stellen. Entschieden widerspricht die woxx-Journalistin Barack Obama, dem das aktivistische Call-out nicht ganz so geheuer ist (S. 53).

Wie hältst du’s mit Europa?

Bleibt die demokratische Dauerbaustelle Europa. In einem stimulierenden Tête-à-tête unterhalten sich die Politologen Emanuel Richter und Michel Dormal (S. 20) über die „Zukunft der Demokratie in Europa“. Darin geht es u.a. um Jürgen Habermas und seine These, dass die EU dringend eine genuin demokratische Legitimierung brauche, weil wir mittlerweile nicht mehr bloß Bürger von Nationalstaaten seien, sondern zusätzlich ein europäisches Staatsbürgerbewusstsein entwickeln müssten. Dormal und Richter sehen die Sache akademisch-nüchtern, indem sie eine Trennlinie ziehen zwischen dem, was ideell wünschenswert sein könnte und dem, was real machbar erscheint. Mit prüfendem Blick reflektieren sie Position und institutionelles Rollenverständnis des Europäischen Gerichtshofs und tauschen demokratietheoretische Überlegungen zum Brexit aus.

Wer nach der Lektüre unseres Demokratie-Dossiers noch Appetit auf einen gehaltvollen geistigen Nachtisch hat, sollte sich die sechs Buchempfehlungen von Léonie De Jonge über lebendige, bedrohte oder sterbende Demokratien anschauen (S. 24).

Als Alternative für Kinofreaks empfehlen sich vier von Viviane Thill mit komparativer Ausführlichkeit besprochene Meilensteine des gesellschaftskritischen Films (S. 63). Ihrer Ansicht nach gehören Do the Right Thing (Spike Lee, USA, 1989), La Haine (Mathieu Kassovitz, Frankreich, 1995), Wir sind jung. Wir sind stark. (Burhan Qurbani, Deutschland, 2014) sowie Les Misérables (Ladj Ly, Frankreich, 2019) in puncto Inhalt und Technik zu den besten, eindrücklichsten und schonungslosesten Vertretern des Genres. Deren gemeinsamer Tenor: Die Demokratie stirbt buchstäblich in den urbanen Ghettos, dort, wo kulturell und sozial entwurzelte junge Menschen in ihrer Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit keinen anderen Ausweg sehen, „que de péter les plombs“, weil ihnen die bürgerliche Gesellschaft mit Verachtung und Polizeirepression begegnet und ihnen damit den Platz in ihrer Mitte verweigert.

Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York, Free Press, 1992.

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