Die digitale Transformation und das Ende der Gemeinsamkeiten

Viele von Ihnen haben während dieses Sommers einige Tage oder Wochen mit den eigenen Kindern verbracht oder alternativ mit den eigenen Eltern – schwer zu sagen, was herausfordernder ist. Denn nicht nur die Welt wird unübersichtlicher, auch die Menschen, die uns wichtig sind, werden in ihrem Verhalten und der Art, wie sie die Welt erleben, immer unverständlicher. Das liegt nicht etwa am Verlust der Werte, dem Niedergang der Schule oder dem Ende des Abendlandes, sondern oftmals am mittlerweile sehr unterschiedlichen technologisch-medialen Umfeld, in dem sich die einzelnen Generationen bewegen.

Die Apps, die ihre Tochter benutzt, werden Sie nie kennenlernen, geschweige denn verstehen. Sie strukturieren aber ganz konkret den Tagesablauf dieses merkwürdigen Organismus auf dem Sofa in Ihrem Wohnzimmer (und möglicherweise auch dessen mentale Strukturen und Träume). Während Sie einen Teil Ihrer Zeit mit Twitter verbringen (selber Schuld!), spielt Ihr 15-Jähriger Videospiele mit virtuellen Freunden in Australien, die 19-Jährige sucht ganz pragmatisch gerade auf Tinder nach einem passenden Lover, und Ihr eigener Lebensabschnittspartner fragt sich, wie er die nächsten 30 Jahre mit jemandem zusammenleben soll, der Bücher, aber nicht die Statusmeldungen seiner Freunde liest. Auf der Arbeitsstelle versuchen Sie derweilen, nicht in Panik zu verfallen, wenn gerade zum dritten Mal in zehn Jahren ein neues Informatiksystem installiert wird, was dem Vernehmen nach einem Neustart der menschlichen Evolu- tion entspricht, nur dass Sie persönlich nicht mehr zu den Fittesten gehören und Ihre Überlebenschancen in diesem Umfeld dementsprechend gering sind.

Vielleicht tröstet es Sie, dass ein 25–Jähriger mittlerweile auch nicht mehr mit einem 20-Jährigen kommunizieren kann. Der 20-Jährige steht seinerseits fassungslos vor dem 15-Jährigen und außer Amazon, die komplett auf Roboter umsteigen, weiß kein Unternehmen mehr, mit welchem Personal es morgen funktionieren soll. Die Ausdifferenzierung der Gattung Mensch findet solcherart in immer kürzeren Zyklen statt, wobei der technologische Wandel zu unterschiedlich sozialisierten Altersgruppen (Kohorten) führt, die über ihre eigenen Medien kommunizieren. Das hat es alles früher schon gegeben, denken Sie? Mag sein, aber das Tempo, mit dem sich der technologische und mediale Wandel heute ereignet, lässt keinen Raum mehr für das Sammeln und Weitergeben von lebenspraktischer Erfahrung. Es lohnt sich möglicherweise gar nicht mehr, Wis- sen, Verständnis und Erfahrung über diese Welt anzusammeln, wenn die Halbwert- zeit ihres praktischen Nutzens weit unter fünf Jahren liegt. Andererseits ist es eine Illusion zu glauben, dass die Jungen, wenn sie erst einmal über 30 sind, ihrerseits noch Lust auf technologische Veränderung hätten. Im Gegenteil – sie werden es sich in „ihrem“ technologischen Zeitalter genauso einrichten und ebenso resistent dem Wandel gegenüberstehen, wie die heute 50-Jährigen. Technologischer Wandel in diesem Tempo wird ab einem kritischen Moment wahrscheinlich nur noch ohne Interaktion mit Menschen stattfin- den können…

Nun geht es aber nicht nur um solch praktische Dinge wie sich ändernde Benutzeroberflächen und neue Programme, die uns in unserem Alltag unterscheiden. Es geht auch um Weltbilder, deren Wandel die Kommunikation und das Verständnis zwischen den Generationen in Zukunft immer schwieriger machen wird. Die Möglichkeit der Unsterblichkeit etwa, Inbegriff der Hybris seit Jahrtausenden, wird eines kommenden Tages und für eine erste Generation Teil ihrer Welt werden und danach einen Bruch zwischen den Generationen markieren – zwischen jenen, die hier beginnende Normalität sehen und jenen, die noch eine Weile voller Entsetzen vor den Folgen warnen. Einigen von uns wird es auch völlig unvorstellbar bleiben, dass zumindest ein Teil der Menschheit in wenigen Jahrzehnten auf einem anderen Planeten leben wird, aber die Kinder, die heute sechs Jahre alt sind, integrieren diesen Gedanken gerade als normal und absolut vernünftig. Und so ist es auch durchaus möglich, dass eine der nächsten Generationen unter dem Eindruck des Klimawandels und beseelt von technologischen Versprechungen diesen Planeten mental aufgeben wird, während wir Älteren uns noch eine Weile um die Rettung des Braunkehlchens bemühen…

Jürgen Stoldt

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