„Die Digitalisierung ändert alles.“

Interview mit Isabelle Schlesser, Direktorin der Agence pour le développement de l’emploi

Auf dem Arbeitsmarkt finden ständig Veränderungen statt, inwiefern ist die ADEM diesen Veränderungen gewachsen?

Isabelle Schlesser: Die Nachfrage seitens der Arbeitnehmer hat sich definitiv verändert. Immer mehr Menschen tendieren im Rahmen der Arbeitssuche zu Teilzeit- oder Telearbeit (Heimarbeit). Die Gesetzgebung stellt hierbei manchmal eine Hürde für uns dar, da sie sich nicht so schnell entwickelt wie die Tendenzen innerhalb der Gesellschaft. Gerade auf der Ebene der Berechnung des Arbeitslosengeldes schafft dies eine komplizierte Situation. Wenn jemand schön brav 40 Stunden während zehn Jahren gearbeitet hat, bei ein und demselben Arbeitgeber, dann ist das Dossier in Nullkommanix berechnet. Wenn nun aber jemand vorstellig wird, – und das kommt immer öfter vor –der 20 Stunden bei einem Arbeitgeber gearbeitet hat, noch zehn Stunden anderswo jobbte und dann auch noch eine kleine Selbstständigkeit hatte, und auch noch vorher im Ausland tätig war, dann wird es schwierig für unsere Berater. Je komplizierter das Dossier, desto länger kann auch die Bearbeitungszeit sein. Das ist leider noch nicht aufeinander abgestimmt, weil es dies so vor Jahren noch nicht gab. Aber wir agieren in folgendem Sinne vorausschauend: Wir sensibilisieren vor allem junge Menschen dafür, dass sie tendenziell eher nicht in dem Bereich ihre berufliche Tätigkeit beginnen, in dem sie ihre Studien absolviert haben. Ein gewisses Maß an Flexibilität ist hierbei wichtig. Man sollte nicht auf den Traumjob warten, sondern Erfahrungen sammeln.

Sie meinten in einem Radio 100,7-Interview, Zeitarbeit stelle nicht das Zukunftsbild dar. Wie sieht dieses denn ihrer Auffassung nach aus?

I. S.: Bei der Zeitarbeit muss man immer differenzieren zwischen hoch- und niedrigqualifizierten Arbeitnehmern. Erstere bekommen in der Regel häufig ein Angebot für etwas Festes, nach der ersten Phase der Zeitarbeit. In der Baubranche sehen wir uns mit einer anderen Situation konfrontiert: Insgesamt bleiben derzeit – trotz Arbeit – 1173 Personen eingeschrieben. Dies wird immer so gehandhabt, wenn man weniger als vier Monate Zeitarbeit leistet. Ein Traum ist das sicherlich nicht. Wenn man jedoch die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit oder Zeitarbeit hat, dann ist es vielen Menschen lieber zu arbeiten. Wenn die Wahl zwischen Zeitarbeit und einem unbefristeten Arbeitsvertrag besteht, dann gestaltet sich das sicherlich anders, aber leider bestimmen wir nicht, ob die Posten unbefristet oder befristet sind. Es gibt auch Posten, die werden den Zeitarbeitsstatus behalten. Wir untersuchen jedoch derzeit gemeinsam mit Unternehmen, die das Label „Entreprise, partenaire pour l’emploi“ haben und somit unsere Kooperationspartner sind, welche Posten man mit unbefristeten Stellen besetzen könnte.

Vor welche Probleme stellt die voranschreitende Digitalisierung die ADEM?

I. S.: Zum einen gibt es Defizite bezüglich des Stellenmarktes, die noch lange nicht behoben sind. Es gibt eine Unmenge an Stellen im IT-Bereich, die besetzt werden müssen, aber die Zahl der Anfragen übersteigt die Zahl geeigneter, bei uns eingeschriebener Kandidaten. Dies ist aber kein Problem, das sich ausschließlich auf Luxemburg bezieht. Wir bieten Menschen eine kurze Ausbildung, damit sie Basiskompetenzen in diesem Bereich erlangen. Dies findet in Zusammenarbeit mit dem Technoport in Belval statt und trägt den Titel „fit for coding“. Hier lernen während drei Monaten Menschen, die Abitur oder eine 13e haben und auf Arbeitssuche sind, verschiedene Programmiersprachen, um dann später im „Webdevelopment“ zu arbeiten. Zum anderen machen wir in Schulen verstärkt – gerade auch Mädchen – darauf aufmerksam, dass man in diesem Arbeitssegment Stellen findet. Dies muss jedoch auch in den Köpfen der Eltern und der arbeitslosen Luxemburger (die zahlreich bei uns vertreten sind) ankommen, denn viele von ihnen wünschen sich einen Bürojob, doch gerade derartige Backoffice-Tätigkeiten werden durch die zunehmende Digitalisierung immer stärker wegfallen.

Und wie sieht es in der EDV-Abteilung der ADEM aus?

I. S.: Auch hier gab es starke Defizite, die wir langsam aber sicher beheben. Ich will nicht leugnen, dass es sich bei unserer neueren Matching-Software um ein kompliziertes Werkzeug handelt, das an die luxemburgische Situation angepasst werden muss und an das sich auch unsere Berater gewöhnen müssen. Bei unserem neuen Angebot „Job Board“ handelt es sich um Software, die sich direkt an die Arbeitgeber und die Arbeitsuchenden selbst richtet. Sie ist benutzerfreundlich und ermöglicht eigenständiges Matchen1. Somit erlaubt „Job Board“ den Suchenden eine gewisse Autonomie.

Vor knapp einem Jahr hieß es seitens der ADEM, sie sei nun endlich im 21. Jahrhundert angekommen. Haben Sie das Gefühl, immer ein wenig hinterher zu hängen?

I. S.: Bei der Software, die wir einkaufen, halte ich das nicht für zutreffend. Aber die Tools, die wir selbst programmieren, beanspruchen nun mal Zeit. Wir haben eine spezielle Gesetzgebung und spezielle Beihilfen, Entgelte werden anders berechnet… Was sicherlich stimmt ist, dass unsere Berater noch sehr viel mit administrativen Tätigkeiten beschäftigt sind, die man eigentlich digitalisieren könnte. Dann könnten sie intensiver beraten. Die Ersteinschreibung funktioniert beispielsweise derzeit nur physisch. Wir denken jedoch über eine Online-Voreinschreibung nach. Die Digitalisierung ändert alles, das ist eine Challenge für eine Verwaltung. „Job Board“ entlastet einige Berater beispielsweise, aber dadurch verändert sich auch der Job des Beraters selbst. Dieser muss sich dann auf die wirklich komplizierten und „menschlichen“ Tätigkeiten konzentrieren. Unsere Berater müssen akzeptieren, dass dieser Weg eingeschlagen wird. Bei uns wird niemand durch die Digitalisierung wegfallen, aber die Berater werden andere Tätigkeiten ausüben als zuvor.

Gibt es bei der ADEM ein bestimmtes Grundverständnis von Arbeit? Der Arbeitsmarkt hält ja eine Vielzahl von Schemata bereit, wie verträgt sich das?

I. S.: Man muss beachten, dass Arbeitsschemata sich trotzdem stärker für qualifiziertere Personen verändern. Natürlich ändern sich die Kompetenzen, die man mitbringen muss auch in anderen Bereichen, Arbeitnehmer beim Bau müssen nun auch an Passivhäusern arbeiten können, aber dies ist nicht mit den Veränderungen in der IT oder Fonds-Industrie oder dem Bankensektor vergleichbar. Dort läuft alles ganz anders als vor 10 Jahren. Bei der ADEM haben jedoch mehr als 50% der Eingeschriebenen eine sehr niedrige Qualifikation, für sie stellen diese Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt weniger die Aktualität dar. Die Arbeitslosigkeit bei Personen mit niedrigen Qualifikationen ging nun sogar zurück, die Nachfrage an Arbeitnehmern in der Gastronomie beispielsweise wird nun mal immer bestehen bleiben. Da wo es große Veränderungen gibt und noch weiter geben wird, ist in den klassischen administrativen Berufen (Backoffice, Sekretariat…), die sehr stark von der Digitalisierung betroffen sind.

Haben sie eigentlich eine Art Cellule d’observation, die die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt beobachtet?

I. S.: Ja, dies wird von der Abteilung études des statistiques gewährleistet. Wir arbeiten jedoch auch eng mit RETEL zusammen, dabei handelt es sich um einen observatoire de l’emploi, der einmal im Trimester den tableau de bord de l’ emploi public veröffentlicht. Diese Daten sind für uns von erheblicher Wichtigkeit.

Inwiefern ist die ADEM als Arbeitgeber dem potentiellen Bedürfnis nach anderen Arbeitsmodellen bei den eigenen Arbeitnehmern angepasst?

I. S.: Bei uns arbeiten viele Frauen halbtags, es nehmen jedoch auch immer mehr Väter das Recht auf congé parental wahr. Vereinzelt gibt es auch Anfragen für Téléarbeit. Hier müssen wir etwas strenger bei der Entscheidungsfindung vorgehen, da wir erst analysieren müssen, ob dies für das gesamte Team tragbar ist und ob man dieses Recht, gerade in einer Verwaltung, gegebenenfalls auch anderen zugestehen kann. In der Regel halten wir das eher traditionell.

Welche Arbeitsverträge haben eigentlich jene Personen, die sie nun im Rahmen der Reform eingestellt haben?

I. S.: Wir beschäftigen nun insgesamt 410 Personen, davon sind 150 Beamte und wir stellen auch immer wieder welche ein. Außerdem gehören 107 Angestellte zu unserem Team. Ebenfalls haben mehrere Mitarbeiter den Status des Détaché. Dies ist gerade bei jenen Personen von Arcelor der Fall, welche zur cellule de reclassement gehören. Beim service employeur beschäftigen wir auch 12 Freelancer, mit denen die Arbeit als prestation de service im Rahmen von bestimmten Missionen abgerechnet wird. Dies war schon vor der Reform der Fall und wurde mit der Entwicklung dieser Abteilung verstärkt.

Fördern Sie durch Letzteres nicht auch eine Art Prekarität bei diesen Arbeitnehmern?

I. S.: Wenn Sie mich fragen: Nein. Wir arbeiten mit diesen Personen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen und Kompetenz in einem bestimmten Bereich zusammen. Das sind nicht etwa junge Menschen, die hier als Freelancer anfangen und dann in diesem Status verbleiben. Unsere Freelance-Mitarbeiter würden oftmals nicht in die anderen Formate passen. Zum einen muss hier betont werden, dass die Zahl der Freelancer minimal ist. Zum anderen
zwingen wir niemandem diese Form der Zusammenarbeit auf. Wir planen keineswegs die ADEM nur noch mit Freelancern funktionieren zu lassen.

Ihr Ziel ist es, dass in Zukunft auf einen Berater 100 Personen, die auf Arbeitsuche sind, kommen. Was passiert jedoch mit den neu Eingestellten, wenn die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Haben Sie für einen derartigen Fall einen Sozialplan?

I. S.: Wir sind davon noch sehr, sehr weit entfernt. Hinzu kommt, dass wir zwei Kategorien von Beratern haben: Es gibt die „normalen“ conseillers professionnels, die mit Menschen arbeiten, die nah am Arbeitsmarkt sind und relativ schnell platziert werden können. Diese Berater können mehr als 100 Personen betreuen, aber sicherlich keine 500, wie dies zeitweilig der Fall war. Zum anderen haben wir aber auch die sogenannten conseillers spécialisés, also Sozialarbeiter, Erzieher und Psychologen. Diese kümmern sich um die anderen Personen, die eine Arbeit suchen und intensiver betreut werden müssen. Hier fällt beispielsweise das Erstellen eines plan d’action individuel an. Wenn diese Berater mehr als 200 Personen pro Kopf betreuen müssen, dann geht die Rechnung nicht mehr auf. Derzeit betreuen sie im Schnitt 80 Personen, während es bei den anderen Beratern 295 pro Kopf sind. Man muss auch bedenken, dass wir sieben Agenturen haben und die Arbeitslosigkeit nicht überall gleich steigt. Sollte die Arbeitslosigkeit irgendwann drastisch zurückgehen, dann kann man sicherlich viele unserer Berater beispielsweise stärker in die Ausbildung einbinden. Aber davon sind wir, wie gesagt, weit weg, unsere Angestellten langweilen sich definitiv nicht.

Der aktuelle Jugendbericht weist darauf hin, dass Jugendliche mit Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung nicht zufrieden sind. Wie stehen Sie hierzu?

I. S.: Hier kommt die sogenannte Jugendgarantie, die den Übergang von Jugendlichen in die Arbeit nach spätestens 4 Monaten garantieren soll, ins Spiel. Wir haben seit 2015 gute Resultate erzielt, jedoch nur bei jenen, die auch mitmachen. Von diesen finden 80% eine Arbeit oder kommen in eine passende Maßnahme. Problematisch sieht es eher für die Jugendlichen aus, die abbrechen. Auf die Frage, warum es zum Abbruch kam, gab es viele verschiedenen Antworten. Einige entgegneten z.B, dass sie die Dokumente nicht verstehen, mit denen wir arbeiten. Wenn es um eben dieses Verständnis im Rahmen von Maßnahmen geht, so versuchen wir durchaus uns anzupassen und wir müssen uns da noch verbessern. Ich bin jedoch auch nicht überzeugt davon, dass ein Jugendlicher etwas nur versteht, wenn man es als Comic zeichnet. Ich höre immer wieder Verwaltungen und Unternehmen, die denken, sie müssten jeden duzen und den Jugendlichen alles vormalen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob dies nicht auch ein bisschen zur Verdummung der Jugendlichen beiträgt. Unser genereller Ansatz ist der, zur Autonomie aufzurufen und den jungen Arbeitssuchenden dabei zu helfen. Diese verlangen nämlich auch die Betriebe. Das ist auch eine Sache, die in die Köpfe der Eltern rein muss, denn wenn diese für ihre 25-Jährigen hier anrufen, dann ist das nicht der Fehler der Jugendlichen.

Andere Jugendliche mochten bestimmte Workshops nicht, wie z.B. denjenigen, in dem der Lebenslauf erstellt wird. Ich beharre jedoch auf der Wichtigkeit eben solcher Maßnahmen. Es gab dann auch noch Jugendliche, die äußerten, dass sie sich noch nicht bereit für den Arbeitsmarkt fühlten. Sie wollten zurück in die Schule. Wenn sie so empfinden, ist es das Beste, was sie tun können. Um unser Maßnahmenangebot zu verbessern haben wir jetzt einen neuen Dienst in Diekirch, Esch und der Stadt eingerichtet, mit pluridisziplinären Teams, die speziell für die Arbeit mit jungen Menschen ausgebildet sind.

Wie stehen Sie zu Plattformen wie Kliber2 oder minijobs.lu3, stellen diese Ergänzungen zur ADEM dar oder eine Gefahr? Können Sie etwas leisten, was sie nicht leisten können?

Wir glauben an innovative Lösungen wie z.B. Kliber und arbeiten auch mit ihnen zusammen. Kliber führt hier auch Workshops durch. Unsere einzige Bedingung ist, dass sie kostenlos sein müssen. Wir arbeiten auch mit anderen Stellen zusammen und sehen dies als komplementär zu unserer Arbeit. Formate wie die Lebenslauf-Videos bei Kliber haben ihre Vorteile. Das hängt aber sehr von den jeweiligen Berufen und auch von den Arbeitssuchenden ab. Manche haben Probleme mit dem Schreiben. Für sie ist dieses Angebot geeignet. Zudem geben wir allen bei der ADEM eingeschriebenen Personen Listen der diversen Jobbörsen und Portale. Ich bin nicht der Meinung, dass es immer die ADEM sein muss, die das Matching macht, wir sind kein Konkurrent von Monster oder anderen Plattformen, das wäre ja lächerlich. Wenn Arbeitsuchende anders eine Stelle finden, umso besser. Unser indicateur de résultat darf ja nicht sein, wie viele Personen unsere Berater vermittelt haben. Relevant ist, wie viele Leute eine Arbeit gefunden haben. Da sollte man keinen Exklusivitätsanspruch erheben.

Was hielten Sie von einer Liberalisierung der Arbeitsagenturen hierzulande?

I. S.: Wir sind eine Verwaltung mit ihren positiven und negativen Seiten, das Gute an uns ist: Wir suchen uns unsere Kandidaten nicht aus, wir sind für alle Menschen da. Das bringt eben mit sich, dass wir auch mit jenen arbeiten, die schwerer zu platzieren sind.

Wie stehen Sie zum bedingungslosen Grundeinkommen?

I. S.: Die ADEM selbst vertritt hierzu keinen Standpunkt, aber persönlich finde ich, dass das Modell durchaus eine Überlegung wert ist. Es würde in den Verwaltungen natürlich sehr vieles erleichtern, aber würde es eingeführt, hätten auch alle unsere Berater keinen Job mehr.

Danke für das Gespräch!

Das Interview fand am 15.03.2016 statt und wurde von Anne Schaaf geführt.

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