Die Digitalisierung – ein Schreckgespenst?
Die zahlreichen Facetten eines Wahns und dessen Folgen
Digitalisierungswahn ist gegenüber dem, wie es scheint, neutralen, rein deskriptiven Begriff Digitalisierung zweifelsohne der angemessenere Titel für dieses Dossier. Immerhin wird die digitalisierte Technik mitunter als Synonym für Fortschritt und Zukunftsorientiertheit verstanden, und es braucht dringend eine Gegenstimme, die naive Lobeshymnen kritisch hinterfragt, auf Gefahren und Gesetzeslücken bei Nutzung des Internets, technischer Geräte oder sozialer Netzwerke hinweist und zu bedenken gibt, dass die Digitalisierung nicht immer ihrem Anspruch gerecht wird, Vorgänge des Alltags- und Berufslebens schneller und effizienter zu gestalten. Kurzum: Es soll der Wahn dahinter entlarvt werden.
Definition und Verankerung des Wahns
Ein Wahn, was hat es damit eigentlich auf sich? Der Begriff, der auf den ersten Blick sehr klar erscheint, ist bei näherem Hinsehen gar nicht so eindeutig zu definieren. An dieser Stelle möchte ich drei Deutungsvorschläge bzw. mögliche Aspekte des Wahns nennen: 1. Der Wahn ist eine pathologische Haltung oder Verhaltensweise, die sich darin äußert, dass wir besessen von einem Ziel sind, in diesem Fall, die Digitalisierung voranzutreiben und sie – regelrecht manisch beflissen – schnellstmöglich in allen Lebensbereichen umzusetzen. 2. Aus diesem Übereifer heraus verschwenden wir unverhältnismäßig viel Zeit damit, unnütze Technologien zu erfinden und zu gebrauchen. 3. Von diesen sind wir derart eingenommen, dass wir zur Paranoia neigen, uns eine falsche Vorstellung von der Realität bilden oder den Bezug zu ihr im Extremfall ganz verlieren.
Viele digitale Technologien sind uns, insbesondere in Zeiten der Pandemie, zu einem unverzichtbaren Instrument geworden, es ist aber ebenso unbestreitbar, dass sowohl vom Erfindungsdrang selbst wie auch von Videospielen, Smartphone-Apps usw. ein hohes Suchtpotenzial ausgeht, was bedeutet, dass andere, mitunter dringlichere Tätigkeiten vernachlässigt werden. Schließlich ist die virtuelle Realität zu nennen, die genau dann erfolgreich ist, wenn sie Immersion erzeugt, also das Ausblenden der realen Umwelt bewirkt. Dass die Digitalisierung in den genannten Hinsichten mit einem Wahn verbunden ist, würde also wohl niemand bestreiten und soll hier nicht im Detail erörtert werden. Offen bleibt, in welchem Grad das zutrifft und auf welcher Basis wir uns unser Urteil bilden. Es muss danach gefragt werden, was wir überhaupt unter Digitalisierung verstehen, wie wir sie wahrnehmen, wie wir über sie sprechen. Eigenschaften und Folgen dieser Wahrnehmung und dieses Diskurses müssen ermittelt werden. Denn wäre es nicht denkbar, dass sich die Rede vom Digitalisierungswahn selbst als Wahn detektieren lässt?
Ein unspezifischer Sammelbegriff
Zunächst ist festzustellen, dass die Digitalisierung, mit bestimmtem Artikel, ein pauschalisierender, nicht näher differenzierter Sammelbegriff ist, unter dem von sozialen Netzwerken über selbstfahrende Autos bis hin zu Künstlicher Intelligenz völlig unterschiedliche Phänomene subsumiert werden. Den ursprünglichen und sachlichen Hintergrund hat man dabei eher selten vor Augen, nämlich die Umwandlung von analogen in digitale Daten. Und selbst wenn dem so wäre, wäre das immer noch keine adäquate Vorstellung dessen, was im Rahmen der Digitalisierung wirklich vonstattengeht. Sie als unidirektionale Transformation zu verstehen, greift nämlich zu kurz. In Wahrheit gibt es fließende Übergänge; virtuelle und reale Objekte können nebeneinander existieren, etwa im Rahmen der augmented reality, bei der computergenerierte Informationen und die eigene Sinneswahrnehmung realer Objekte miteinander kombiniert werden. Wechselseitige Einflüsse und ein bidirektionaler Wandel sind sogar zwingend notwendig, da der Mensch mit rein digitalen Daten gar nicht unmittelbar operieren kann. Das lässt sich etwa am Beispiel einer digitalen Musikaufnahme veranschaulichen. Ein analoges, akustisches Signal – ein Klang besteht aus einer Überlagerung von Sinusschwingungen – wird durch einen Computer in einen binären Code, also in ein digitales Signal, umgewandelt und abgespeichert. Beim Abspielen dann wandelt ein Decoder dieses erneut in ein analoges um, damit es für das menschliche Ohr überhaupt wahrnehmbar ist. Unsere Grundvorstellung der Digitalisierung gibt also ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Umstände wider – und erhält dadurch Züge eines „Wahns“.
Nostalgie, Paranoia und Weltuntergangsszenarien
Dass wir den digitalen Wandel als unidirektionalen Prozess betrachten, hat einen wichtigen Einfluss auf die Emotionen, die wir mit ihm verbinden. Während mit wechselseitigen Einflüssen nämlich die positive Idee einer Erweiterung unseres Erlebnis-, Erkenntnis- und Handlungsspektrums verbunden wäre, impliziert ein Prozess, der sich nur in eine Richtung vollzieht, den Gedanken, dass im Verlauf etwas verlorengeht. Die Digitalisierung wird so zu einem Ungeheuer, das liebgewonnene Traditionen und Gewohnheiten verschluckt; eine Vorstellung, die Nostalgie auslöst und Ängste beflügelt. Und nicht nur die Richtung des Wandels, auch die Tatsache, dass es sich um einen andauernden, nicht abgeschlossenen Prozess handelt, trägt dazu bei. Derzeit können wir nur darüber spekulieren, wie unsere Welt in beispielsweise 20 Jahren aussehen wird. Diese Spekulationen gipfeln nicht selten in dystopischen oder gar apokalyptischen Schreckensszenarien, wenn man beispielsweise an die zahlreichen Filme und Bücher über die Weltherrschaft von Robotern denkt. Wir leben also mit der Ungewissheit, ob wir die Welt in naher Zukunft überhaupt noch wiedererkennen, ob wir uns noch in ihr zurechtfinden werden.
Um letzteres zu gewährleisten, bleibt uns scheinbar nur eine Möglichkeit: mit auf den Zug aufzuspringen. Nur so können wir sicher sein, dass die Entwicklungen nicht an uns vorbeiziehen. Immer wieder tritt die Befürchtung auf, es könnte schon längst zu spät sein, eine regelrechte Panik, die Verschwörungstheorien aufkommen lässt wie die um die 5G-Technologie im Kontext der COVID-19-Pandemie. Die letztgenannten Punkte erklären dann auch das scheinbare Paradox, die Digitalisierung einerseits zu verteufeln und sie andererseits zu fördern. Wir versuchen derart, die Kontrolle zu behalten, dass wir gar nicht bemerken, längst in einen Teufelskreis geraten zu sein und nicht umhin zu können, die Entwicklung zu beschleunigen, vor der wir uns eigentlich retten wollen. Im emotional geführten Diskurs zeigt sich also durchaus ein „Wahn“ in Form einer ausgeprägten Angst bis hin zur Paranoia. Die Besessenheit, die Digitalisierung voranzutreiben, bremst er dadurch nicht aus, sondern verstärkt sie unter Umständen sogar.
Sprachgebrauch der Angst und Beschuldigungen
Neben den Inhalten unserer Äußerungen deutet auch der Sprachgebrauch auf das Zurückschrecken vor digitalen Technologien hin. Es entstehen immer wieder neue Wortschöpfungen, anhand derer das belegt werden kann, beispielsweise Digitaler Burnout – so lautet der Titel eines Buchs von Alexander Markowetz – oder „digitaler Minimalismus“, der Trend, auf Technologien zu verzichten. Ein Indikator ist aber auch, wie wir Begriffe deuten und verwenden. So wird Darknet volksetymologisch eher als Ort für „dunkle Taten“ denn als anonymes Netz verstanden, und bei dem eigentlich scherzhaft anmutenden Ausdruck „Smombie“ fällt die erstaunlich ernsthafte Stoßrichtung auf. Zusammengesetzt aus „Smartphone“ und „Zombie“ bezeichnet er einen Menschen, der so sehr mit seinem Smartphone beschäftigt ist, dass er seine Umwelt nicht mehr richtig wahrnimmt. Der humorvolle Gehalt weicht zusehends dem Verweis auf schwerwiegende Gefahren, insbesondere im Straßenverkehr. „Le ‚smombie‘, le phénomène qui inquiète de nombreux pays“, lautet die Überschrift eines Artikels auf der französischen RTL-Seite.1 Daneben wird der Ausdruck verwendet, um die jüngere Generation, die „Smombie-Generation“, zu kritisieren, die, so die Annahme, am stärksten von der Smartphone-Sucht betroffen sei. Die Ironie dabei: „Smombie“ wurde zum Jugendwort 2015 gekürt, soll also ausgerechnet von der Generation benutzt werden, auf die die damit einhergehende Kritik abzielt. Im Nachhinein stellte sich allerdings heraus, dass das Wort im Rahmen des Wettbewerbs erfunden wurde und gar kein Phänomen der Jugendsprache ist.2
Am Beispiel von „Smombie“ wird demnach die soziale Dimension deutlich, die die mit Digitalisierung verbundenen Ängste mit sich bringen, der Drang, den moralischen Zeigefinger gegen diejenigen zu erheben, die die Gefahren digitaler Technologien der eigenen Einschätzung nach nicht ernst nehmen. Mit der Digitalisierung ist also schnell ein Schuldiger gefunden, entweder die Maschine selbst, der wir eine Eigenständigkeit andichten, oder „die anderen“, die sie falsch oder exzessiv nutzen. Das ist natürlich bequem, entspricht aber selten der Wahrheit. Denn die Ursache vieler Probleme, die wir vorschnell in den digitalen Technologien sehen, liegt oftmals woanders. Dass die sozialen Netzwerke uns in Versuchung führen, uns von der Arbeit abzulenken, uns selbst zu inszenieren, uns in sinnlose Diskussionen hineinzusteigern, liegt nicht an deren dunkler Absicht. Unser schwacher Wille trifft zufällig mit ihnen zusammen und hätte ansonsten sicherlich andere Verlockungen gefunden. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich also ein „Wahn“, der sich als Verbissenheit und vorurteilsbeladene, falsche Einschätzung der Realität äußert.
Aus Angst vor Realitätsverlust die Realität verkennen
Dass wir uns im digitalen Raum nichtsdestotrotz anders verhalten, ist ebenfalls im Diskurs begründet. Während andere Gefahren und Nachteile digitaler Technologien wie gezeigt oft überschätzt werden, so werden die Folgen dessen, was innerhalb des digitalen Raumes passiert, unterschätzt. Und das hat mit den im Diskurs vorherrschenden dichotomen Denkmustern zu tun. Neben dem Gegensatzpaar analog/digital ist vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Realität und Virtualität präsent – zu präsent. Die Gegenüberstellung zwischen Realem und Virtuellem ist nämlich viel subtiler, als es den Anschein hat, und sie wird oftmals falsch interpretiert, was entscheidende Konsequenzen für unsere Interaktionen im digitalen Raum hat. Denn sie lässt uns vergessen, dass Aktionen, die dort vollzogen werden, durchaus Konsequenzen in der Wirklichkeit haben, dass sie echte Gefühle auslösen.
Das liegt daran, dass der Austausch medial vermittelt ist und ein Interface als Schnittstelle dient. Es scheint, als interagierten wir in einem luftleeren Raum, mit der Maschine und nicht mit Menschen. Bei einer Videounterhaltung dürfte dieser Eindruck nicht ganz so ausgeprägt sein, kommunizieren wir über Instant-Messenger, können wir die*den Gesprächspartner*in allerdings weder sehen noch hören, was uns die Möglichkeit entzieht, ihre*seine Reaktionen vorauszusehen, wahrzunehmen und zu deuten. Zudem besteht eine raum-zeitliche Trennung zwischen den Interagierenden, die das Distanzgefühl weiter verstärkt. Nicht zuletzt können virtuelle Nachrichten zurückgenommen werden, denn mit nur einem Mausklick sind sie gelöscht. Das lässt Hemmungen schwinden, vor allem aber wird dabei außer Acht gelassen, dass die Spuren in unserer analogen Wirklichkeit bleiben und sich nicht so einfach ausradieren lassen. Der „Wahn“ liegt also darin, dass wir derart fixiert auf den Gegensatz zwischen Virtualität und Wirklichkeit sind, dass wir blind für die Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten werden.
Die Beschäftigung mit dem Wahn: ein Wahn
Ein Punkt wurde noch nicht besprochen, und zwar die Frage, ob der Diskurs über Digitalisierung auch in dem Sinne einen „Wahn“ mit sich bringt, als er unwichtig sein könnte. Prinzipiell bin ich der Ansicht, dass jede Debatte bereichernd und lehrreich sein kann, dass sie neue Betrachtungsweisen, Einstellungs- und Verhaltensänderungen, Kompromisse und Lösungen erzeugen kann. Aber es kommt selbstverständlich darauf an, wie sie geführt wird. Im Falle der Digitalisierung gibt es, wie dargelegt, vorurteilsbeladene oder sogar falsche Grundannahmen, Emotionen, die den Verlauf mit bestimmen und den Hang, diagnostizierte Probleme auf das Digitale zu reduzieren, anstatt sie in einem größeren Kontext zu betrachten, der auch die eigene Verantwortung mit einbezieht. Und das sorgt dafür, dass die Debatte nicht so nützlich ist, wie sie sein könnte, weil sie das wirklich Wesentliche nicht berührt. Müsste man ein Fazit daraus ziehen, dann wäre es nicht, die kritische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung einzustellen. Nur sollten wir darauf achten, sie dabei nicht zu einem Schreckgespenst zu machen und so augenblicklich in den nächsten Wahn zu verfallen. Das wird den ursprünglichen Wahn nicht aus dem Weg schaffen, es verleiht ihm im Gegenteil neue Dimensionen.
- https://tinyurl.com/k2fw4wgi (letzter Aufruf: 14. Februar 2021).
- https://tinyurl.com/cx9qwfh3 (letzter Aufruf: 14. Februar 2021).
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