Die Gefahren eines diversifizierten Bildungsangebotes
Schöne neue Bildungswelt(en)
Die traditionelle luxemburgische Schullandschaft, ursprünglich gekennzeichnet durch eine einheitliche Grundschule und eine dreigliedrige Sekundarschule mit mehr oder weniger fest definierten Unterrichtssprachen und identischen Curricula in den einzelnen Schulgebäuden, wurde in den letzten Jahren durch ein vielfältiges Angebot abgelöst. Das Schulministerium bewirbt die Diversifikation der Schullandschaft, die zugleich mit einer größeren Autonomie und Spezialisierung der einzelnen Lyzeen einhergeht, als Antwort und Anpassung an die Bedürfnisse einer immer heterogeneren Schülerpopulation. Der Schüler unter der Verantwortung der Eltern muss nun in Eigenverantwortung das Angebot finden und auswählen, das seinem sprachlichen Hintergrund und seinen Fähigkeiten am besten entspricht und auf dem Arbeitsmarkt die grössten Erfolgsaussichten bietet, trotz steigendem Konkurrenzdruck.
Gleichzeitig öffnet die Politik den Privatschulen den Zugang zum Schulsystem, in einer ersten Phase allerdings lediglich mit einem komplementären Angebot zu den öffentlichen Schulen. Das öffentliche Schulsystem stützt sich sozusagen auf das Angebot privater Firmen. Die Privatisierung kommt schleichend, sehr diskret auf leisen Sohlen, ohne viel Aufhebens. Viele Lehrer scheinen die Veränderungen kaum wahrzunehmen. Die privaten Anbieter arbeiten in den Gebäuden der öffentlichen Schulen mit Lehrern, die vom Staat eingestellt und bezahlt werden. Das Vergeben der Diplome und das Ausarbeiten der Programme obliegen den hauptsächlich aus England stammenden Privatschulen. Das Schulministerium verliert seine Souveränität und kann die Lerninhalte nicht mehr bestimmen. Es kann nicht mehr festlegen, über welche Kenntnisse und Fähigkeiten die Schüler verfügen müssen, um ihr Diplom zu erhalten.
Die Lehrergewerkschaft SEW/OGBL hat versucht, eine ideologiefreie Analyse dieser Tendenzen zu erstellen: Welche Konsequenzen hat dieser Paradigmenwechsel für den Einzelnen und für die Gesellschaft?
Die Schule hat mehrere Ziele: Der Einzelne muss die Möglichkeit haben, die seinen Fähigkeiten entsprechend höchstmögliche Qualifikation zu erreichen. Auf gesellschaftlichem Plan muss die Schule Chancengerechtigkeit anstreben, also auch Kindern aus sogenannten bildungsfernen Schichten soziale Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Die öffentliche Schule soll Garant der Kohäsion und Integration der Gesellschaft sein und Kinder und Heranwachsende zu selbstbewussten kritischen Bürgern bilden. Die Werte, welche die Schule vermittelt, sollten einem möglichst großen gesellschaftlichen Konsens entspringen.
Welches sind die Risiken einer Aufsplitterung des Schulangebots?
Die verstärkte Autonomie führt zu einem Konkurrenzdenken zwischen den Schulen und das ist auch so gewollt. Im Spiel von Angebot und Nachfrage, liegt es nun an den Eltern sich zu informieren und die richtige Wahl zu treffen. Tun sie dies nicht oder sind sie in dieser Rolle überfordert oder haben sie materiell nicht die Möglichkeit, die Kinder in die beste Schule zu bringen, haben sie schnell eine Option gewählt, die sie später eventuell bereuen werden, weil sie ihre Kinder ungewollt in eine Bildungssackgasse gelotst haben.
Einige wenige Schulen werden sich zu Eliteschulen entwickeln. Hier werden die Eltern weniger am Angebot interessiert sein, sondern sich am sozialen Hintergrund der Schülerpopulation orientieren. Schnell werden die Eltern sozial besser gestellter Schichten die versteckten Code entziffern können, die ihnen auf für andere nicht erkennbare Art und Weise anzeigen, wo sie ihre Kinder unter ihresgleichen unterbringen können. Das Angebot der verschiedenen Sprachen wird hier nur am Rande eine Rolle spielen. Auch die Arbeitgeber werden schnell lernen, Diplome aus bestimmten Schulen höher zu bewerten. Die Netzwerke werden sich immer stärker ausprägen können.
Besonders Kinder aus sozial schwächeren Schichten neigen schnell dazu, sich für ein vermeintlich „leichteres“ Angebot zu entscheiden. Schwierigkeiten in einer der Landessprachen können umschifft werden, wenn man sich ein Angebot wählt, in der diese Sprache nur marginal gelehrt wird. Die Schule bietet sich nicht mehr an, die Schwächen der Schüler zu beheben durch unterstützende Maßnahmen, sondern die Schüler werden dazu verleitet, ihre Schwächen sozusagen zu institutionalisieren, indem sie sich freiwillig für eine, wie sich später, wenn es zu spät ist, herausstellen wird, minderwertige Bildung.
Dieses Modell hat auch den „Vorteil“, einer für die Statistik deutlichen Verbesserung der Schulerfolge, da die Misserfolgsquote gesenkt werden kann. Es lässt die Schulpolitik in einem positiveren Licht erscheinen, geht allerdings letztendlich zu Lasten der (schwachen) Schüler.
Sie erarbeiten sich ein auf den ersten Blick äquivalentes Diplom, das sich bei weiterführenden Studien oder beim Eintritt in die Berufswelt als Hürde und Nachteil entpuppen kann.
Universitäten erkennen das Abitur nur noch selten als Fähigkeitszeugnis zum Studieren an. Es gilt vielerorts, auch in Luxemburg, nur noch als Zugangsschein zu den Aufnahmeprüfungen. Eine falsche Wahl der Schule oder der angebotenen Sprachoptionen kann hier schon das Ende aller Ambitionen bedeuten.
Soziale Ungleichheiten in unserem Schulsystem werden sich in den nächsten Jahren also wieder verstärken, da sich die Schüler aus den sozial schwächeren Schichten, abgekapselt von den sogenannten Eliten, in „ihren“ Lyzeen wiederfinden werden. Es kommt zu der gefürchteten Ghettoisierung, wie man sie jetzt schon in unseren Nachbarländern kennt. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen öffentlichen Schulen wird unweigerlich dazu führen, dass es Gewinner gibt, die sich unter vielen Kandidaten die besten Schüler aussuchen können und Verlierer, die froh sind, jeden zu nehmen, der sich meldet. Also wird es schon innerhalb der öffentlichen Schule zu einem Klassensystem kommen, Hinzu kommen dann noch Angebote von Privatschulen, die es auch etwas weniger leistungsstarken Schülern aus besser gestellten sozialen Schichten erlauben, mittels Bezahlung zu einem besseren Diplom zu gelangen.
Es kommt zu einer Spaltung der Gesellschaft schon im frühesten Alter. Diese Entwicklung ist schleichend und die Konsequenzen werden erst in Jahren in ihrer ganzen Tragweite zu Tage treten. Eine informierte Gesellschaft würde dieses Modell wohl auch, jetzt zumindest noch, strikt ablehnen.
Das Angebot der öffentlichen Schule, in der Konkurrenz mit den Privatschulen wird immer utilitaristischer werden. Schon seit längerem ist zu erkennen, dass sich die Schule, unter dem Druck von Vergleichsstudien wie PISA, an Mindestkompetenzen orientiert, die vom Arbeitsmarkt gefordert werden. Allgemeinwissen wird vernachlässigt, weil es nicht „produktiv“ ist. Als letzte Konsequenz werden schließlich Privatschulen, gegen teures Entgelt, die Elite ausbilden, die die bestbezahlten Arbeitsplätze besetzen werden. Die Aufstiegschancen durch die Schule werden immer kleiner.
Es ist nicht unwichtig die Objektive der öffentliche Schule und der Privatschulen zu vergleichen. Privatschulen sind profitorientiert. Ihr Angebot richtet sich an zahlungskräftige Kunden, die sich einen individuellen Vorteil in der Konkurrenz der zukünftigen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt erwerben möchten.
Die öffentliche Schule hat zusätzliche gesellschaftliche Ziele. Sie muss stets um die Kohäsion der Gesellschaft bestrebt sein, allen Kindern soziale Aufstiegsmöglichkeiten bieten und die personellen und finanziellen zur Verfügung stehenden Mittel so einsetzen, dass eine Chancengerechtigkeit ihr Ziel bleibt.
Es gilt also sowohl den Anspruch des Individuums wie auch die gesellschaftlichen Ziele abzuwägen und möglichst in Einklang zu bringen. Privatschulen orientieren sich ausschließlich an den Wünschen des zahlenden Kunden.
Hieraus ergibt sich, dass die Entwicklung sich mittelfristig an die angelsächsischen Länder angleichen wird: eine gebührenfreie öffentliche Schule, die sich auf eine minimalistische, utilitaristische Ausbildung beschränkt und deren Diplome immer weiter an Wert verlieren, und daneben ein hochwertigeres Bildungsangebot von privaten Trägern, das teuer bezahlt werden muss und entsprechende Möglichkeiten und Garantien bietet.
Um den Anforderungen der sprachlichen Heterogenität seiner Schülerpopulation gerecht zu werden, greift das Ministerium verstärkt auf das Angebot von Privatschulen zurück. Deutsch- und Englischklassen schießen wie Pilze aus dem Boden, so zum Beispiel in Differdange, im Lycée Michel Lucius und den Lycées von Junglister und Clervaux. Die Frage drängt sich auf, ob es den Mitarbeitern des Ministeriums an Kompetenz mangelt, eigene Konzepte der sprachlichen Förderung auszuarbeiten oder ob ein politischer Wille besteht, sozusagen die Gunst der Stunde zu nutzen, um den Privatschulen den Zugang zum Schulsystem zu ermöglichen. Fakt ist, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Schule durch viele missratene Reformen und das beliebte Lehrer-Bashing der Politik rasant schwindet und die Eltern sich genötigt fühlen, nach Alter-nativen Ausschau zu halten.
Wenn allerdings die Politik zulässt, dass Schüler sich in eine englischsprachige Klasse einschreiben, wo Deutsch und Französisch nur auf dem Niveau der Bedürfnisse in England angepasst unterrichtet werden und somit den Schülern nur die Möglichkeit bleibt, sich auf einer englischsprachigen Universität einzuschreiben, wohlwissend auch, dass diese Schüler durch ihre doch begrenzten französischen Sprachkenntnisse kaum eine Chance haben Staatsbeamte zu werden und sich später in Luxemburg auf dem Arbeitsmarkt der Konkurrenz von 120000 französischsprachigen Grenzgängern stellen müssen, dann hat sie diesen Kindern einen Bärendienst erwiesen.
Die Diversifizierung des Schulangebotes und die schleichende Privatisierung scheinen also nur auf den ersten oberflächlichen Blick einen Ansatz zur Lösung der vielschichtigen Probleme unseres Schulsystems zu bieten. In einer Zeit, wo immer mehr Leute verstehen, dass sie zu den Verlierern in der Gesellschaft zählen, birgt die Erkenntnis, dass sie auf Grund ihrer sozialen Herkunft von Anfang an nur marginale Erfolgsaussichten in der Schule hatten und dass ihnen in der Regel der soziale Aufstieg versperrt ist, enormen gesellschaftspolitischen Zündstoff und erweitert schließlich das Wählerpotential extremistischer antidemokratischer Parteien.
Aufgrund der vielen potentiellen Gefahren dieses Modells und seiner gesellschaftlichen Relevanz, hätten diese Reformen unbedingt in einer breiten Öffentlichkeit im Vorfeld diskutiert, ihre Stärken, Schwächen und Gefahren analysiert sowie mögliche Alternativen in Betracht gezogen werden müssen. Hier hat die parlamentarische Kontrolle des Schulministeriums klar versagt. Die meisten Reformen wurden in den parlamentarischen Ausschüssen kaum diskutiert und aus (geplanter?) Zeitnot im Parlament zügig durchgewinkt. Alle Regierungsparteien stehen hier gleichermaßen in der Verantwortung. Das SEW/OGBL möchte unbedingt eine öffentliche Debatte zu diesem komplexen Thema anstoßen.
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