Die Globalisierung frisst ihre Eltern
Eine Leseliste
30 Jahre nach dem Fall der Mauer, 20 Jahre nach 9/11 und 10 Jahre nach Lehmann Brothers lichtet sich langsam der Nebel. Der historische Siegeszug des liberalen westlichen „Modells“ ist gestoppt. Wie konnte es dazu kommen?
Wer verstehen will, wie das an wirtschaftlicher und individueller Freiheit ausgerichtete Modell des Westens weltweit seine Attraktivität verloren hat und selbst in seinen Kernländern USA und Westeuropa von großen Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt wird, erhält in diesen Tagen mehr und mehr hilfreichen Lesestoff. Die Entwicklung, die zuerst als Zivilisationskrieg, dann als Aufstand der Globalisierungsopfer und schließlich als Aufstieg des Populismus notdürftig beschrieben wurde, bekommt jetzt langsam Konturen und wird rund um den Globus engagiert diskutiert. Dabei treten die vor einigen Jahren verfolgten wirtschaftlichen Deutungen (insbes. auf der Grundlage der Arbeiten von Thomas Piketty) in den Hintergrund und das Thema der realen oder imaginierten Ungerechtigkeiten gewinnt an Gewicht.
Zur Einstimmung ins Thema möchten wir zuerst drei ungemein spannende Texte empfehlen, die in den letzten Wochen erschienen sind. Für den ersten benötigen Sie etwa fünf Minuten für die beiden anderen eine Viertelstunde Lesezeit (und gute Nerven).
Angst
Ivan Krasteff, Leiter des Center for Liberal Strategies in Sofia, versucht in Die Verwandlung Osteuropas die Hinwendung der osteuropäischen Nationen zu illiberalen Mehrheitsregimes aus den psychologischen Verletzungen zu erklären, die die Übernahme des liberalen, europäischen Regelwerkes mit sich gebracht habe: Die Annahme eines fremden politisch-ökonomischen Modells hätte „unerwartete negative moralische und psychologische Folgen (gehabt). Das Leben des Imitators (sei) dabei zunehmend von Gefühlen der Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit, Abhängigkeit und des Verlusts der eigenen Identität beherrscht. Eine glaubwürdige Kopie eines idealisierten Modells zu erschaffen und mit Leben zu füllen, erfordert die nie endende Kritik der eigenen Identität.“ Krasteff kommt so zu dem Schluss, dass der Kern der populistischen Gegenrevolutionen eine radikale Ablehnung des Zwangs zur Imitation des freiheitlich-demokratischen Westens bildet. Das zweite Element sieht er in der Kombination aus Bevölkerungsalterung, niedrigen Geburtenraten und Massenauswanderung, die überall in der Region eine „demografische Panik“ ausgelöst hätten. Wer in einem Land lebe, in dem es die Mehrzahl der jungen Leute nicht abwarten kann, auszuwandern, fühle sich zwangsläufig als Verlierer, egal, wie gut es ihm geht. Krasteff zitiert schließlich Milan Kundera, um auf eine weitere Verletzlichkeit der mitteleuropäischen Staaten hinzuweisen: „Die kleine Nation ist eine, deren Existenz jederzeit in Frage gestellt werden kann; eine kleine Nation kann verschwinden und sie weiß es.“
Ivan Krasteff, Die Verwandlung Osteuropas, Project Syndicate, 23.1.2019. https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/die-verwandlung-osteuropas-3217/
Zorn
Der Journalist, Pulitzer-Preisträger und Sachbuchautor Charles Duhigg untersucht in The real Roots of American Rage die Hintergründe für den Kulturwandel, der die amerikanische Gesellschaft und Politik in den letzten 10 Jahren gekennzeichnet hat. Dazu fasst er die Kenntnisse zusammen, die wir mittlerweile aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Psychologie, Neurologie und den Sozialwissenschaften über das Phänomen des Zorns haben. Zorn ist allgegenwärtig und eine der stärksten und effizientesten Formen der Kommunikation. Der Zorn-„Ausbruch“ macht eine inakzeptable Ungerechtigkeit sichtbar, die den Angegriffenen in die Defensive treibt und häufig verunsichert. Hinzu kommt: zornige Menschen wirken machtvoll und überzeugend, sie haben die Situation unter Kontrolle. Das hatte auch Donald Trump verstanden, als er 2016 seinen Präsidentschaftswahlkampf begann. Auf seine unorthodoxen Ausbrüche angesprochen, antwortete er in einem Interview: „As far as I am concerned, anger is okay. Anger and energy is what this country needs.”
Mittlerweile ist Zorn das Lebensgefühl vieler Amerikaner. Die Folgen sind extrem und haben teilweise nichts weniger als die Vernichtung des politischen Gegners zum Ziel. Anhand mehrerer historischer Beispiele versucht Dushigg das machtvolle Phänomen des Zorns in der politischen Sphäre zu erklären und seine konstruktiven und destruktiven Seiten zu unterscheiden.
Politische Kampagnen bauen mittlerweile weltweit stark auf der Mobilisierung von Zorn und moralischer Entrüstung auf und nicht mehr auf der Formulierung unterschiedlicher Interessen und Standpunkte. Politische Berater gehören zu den stärksten Befürwortern von Zorn als Antriebsstoff für Kampagnen. “If you can map an electorate’s fears, and then turn those into anger by moralizing your opponent’s sins, they’ll show up at the polls,” so Steve Jarding, ein Kampagnen-Guru der Demokraten. Und weiter: “The essence of campaigns today is anger and fear. That’s how you win.”
Man möchte unweigerlich an die Frustration eines Teils der CSV denken, der Claude Wiseler und seinen Wahlkampf als zu wenig aggressiv empfunden hat, und an die Reaktion darauf von Wolter, Spautz und Co, die die Wahl eines Frank Engel zum neuen Parteipräsidenten orchestrieren konnten. Wer das zukünftige Vorgehen der CSV vorhersehen möchte, sollte den Artikel von Duhigg genau lesen.
Charles Duhigg, The real Roots of American Rage, In The Atlantic, January/February Issue 2019.
https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2019/01/charles-duhigg-american-anger/576424/
Manipulation
In Der böse Jude, erschienen Mitte Januar 2019, beschreibt der Schweizer Recherche-Journalist Hannes Grassegger, wie der Politberater Arthur J. Finkelstein die perfide Kampagne gegen George Soros lostrat, um für seinen Kunden Victor Orbàn einen passenden Gegner zu erfinden, der seine Anhänger gegen sich versammeln und elektrisieren konnte. In Soros wurde der nahezu ideale Gegner gefunden: Ausländer, Milliardär und Jude. Finkelstein und seine Mitarbeiter sind zuerst in den USA und dann in Israel, in den letzten 10 Jahren auch in Osteuropa bekannt geworden für die Technik des negative campaigning, die darauf abzielt, nicht eigene Positionen zu vermitteln, sondern den Gegner, gerne auch mit völlig erfundenen Geschichten, direkt anzugreifen, um dessen Anhänger zu verunsichern. Der Beitrag von Grassegger lässt einem die Haare zu Berge stehen über die in den USA und auch schon mitten in Europa angewandten Manipulationstechniken, die die politische Debatte, wie wir sie gewohnt waren, ad absurdum führt.
Hannes Grassegger, Der böse Jude, in Das Magazin (Tagesanzeiger, Berner- und Baslerzeitung) 12. Januar 2019. Aufrufbar unter: https://mobile2.12app.ch/articles/15982301
Untergang
Wer durch die Lektüre dieser drei Texte auf den Geschmack (bzw. um den Schlaf) gebracht ist, dem kann noch das Buch von Yascha Mounk empfohlen werden, einem deutschen Politikwissenschaftler, der in Boston lehrt. In seinem 2018 erschienen Buch The People vs. Democracy: Why Our Freedom Is in Danger and How to Save It (deutsch: Der Zerfall der Demokratie) beschreibt Mounk ausführlich, wie in Zeiten von Orbàn, Trump und Brexit die – von uns noch als Selbstverständlichkeit erlebte – liberale Demokratie zum Auslaufmodell wird. Das Buch, das unter Politikwissenschaftlern für seine Schwarzmalerei kritisiert wird, hat den großen Vorteil, eine zusammenhängende Erzählung zu bieten über die Gründe und Mechanismen, die viele Staaten in Richtung Mehrheits- und im weiteren Verlauf Präsidialdiktatur treiben lassen.
Für Mounk stehen sich in der modernen Demokratie zwei widerstrebende Elemente gegenüber: das liberale und das demokratische. Bislang habe sich das liberale Element erfolgreich gegen die eigentlich demokratisch-legitimierte Mehrheit der Bevölkerung geschützt: durch den überwältigenden Einfluss von Geld, (Verfassungs-)Gerichten und internationalen Verträgen, die den politischen Spielraum einschränken und Minderheiten und Eigentum schützen. Die Einhegung der Demokratie (Mounk spricht vom „undemokratischen Liberalismus”, der seinen Ausgangspunkt in der amerikanischen Verfassung habe) verliere heute jedoch an Wirkungsmacht. An ihre Stelle wollen illiberale Demokratien treten, die den sich bedroht fühlenden Mehrheiten, seien sie national (Ungarn), religiös (Indien) oder ethnisch (USA) definiert, die Erfüllung ihrer Machtphantasien versprechen. Eine Eigenheit der illiberalen Demokratie sei jedoch, dass sie nicht nur den Liberalismus abschafft, sondern auch die Demokratie. Sie riskiert, in die Diktatur zu münden, wenn die Wahlergebnisse nicht mehr stimmen.
Mounk macht die Veränderungen an drei Hauptschuldigen fest: erstens dem Niedergang der wirtschaftlichen Perspektiven für immer grössere Teile der Bevölkerungen im Westen, zweitens der allgemeinen Verunsicherung in Folge der Erosion des Nationalstaates und drittens dem Aufkommen der sozialen Medien, die der Lüge und dem Hass planetare Verbreitung geben. Wer als Politiker den Untergang der liberalen Demokratie aufhalten möchte, müsse demnach aufhören, den wirtschaftlichen Status Quo zu versprechen, er müsse eine inklusive Antwort auf die Frage der Nation finden und schließlich die Zukunft und Freiheit der Medien sicherstellen. Journalisten und Intellektuellen gibt er den weisen Rat, sich vom Habitus der vornehmen Verachtung für die demokratischen Institutionen (und ihren Vertretern) zu verabschieden und sich konstruktiv und positiv für ihren Erhalt einzusetzen.
Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Droemer, München 2018
Widerstand
Dass der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte erfolgreich sein kann und Bürger und Politiker wirksame Bollwerke gegen die Politik des Hasses und der Angst errichten können, zeigt ein Dokument, das als praktische Handlungsanleitung gelesen werden kann: Der World Report 2019 von Human Rights Watch gibt ein beeindruckendes Zeugnis davon, wie Zivilgesellschaften im Verein mit internationalen Organisationen in der ganzen Welt menschenrechtsfeindliche Populisten zurückdrängen können. In der Einleitung schreibt Human Rights Watch-Direktor Kennth Roth: “Anders als frühere Diktatoren tauchen die Autokraten unserer Zeit üblicherweise in einem demokratischen Umfeld auf. Um die Demokratie zu untergraben, verfolgen sie meist eine zweistufige Strategie: Sie dämonisieren schutzlose Minderheiten und erklären sie zum Sündenbock, um sich breiten Rückhalt zu verschaffen. Anschließend schwächen sie Kontrollmechanismen, welche die Befugnisse der Regierung einschränken und damit die Grundlage für den Schutz von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit bilden. Dazu zählen unabhängige Gerichte, freie Medien und starke Bürgerrechtsgruppen. Für diese Art von Demagogie und Manipulation haben sich selbst die etablierten Demokratien der Welt als anfällig erwiesen.” Die Allianz der Staaten, die sich ernsthaft für Menschenrechte einsetzen, der internationalen Institutionen, die wie UNO, EU und UN-Menschenrechtsrat sich um die Durchsetzung der Menschenrechte bemühen, und schließlich der Protestbewegungen, die sich der Freiheit und Gerechtigkeit verschrieben haben, konnten vielen Autokraten weltweit Grenzen ziehen. Für Kennth Roth war 2018 das Jahr, wo sich der Widerstand formierte.
Human Rights Watch, Annual Report 2019
www.hrw.org/de/world-report/2019
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