Die historiografische Erfindung Luxemburgs

Aufkommen und Weiterentwicklung einer nationalen Meistererzählung

Stellen Sie sich vor, Ihr guter Freund aus Polynesien kommt zu Besuch. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen und sich auch noch nie in Luxemburg getroffen. Beeindruckt von den rostigen Hochöfen des Südens, den imposanten Festungsüberresten der Hauptstadt und den restaurierten Burgen des Nordens fragt dieser, wie lange es Luxemburg überhaupt gibt und wie es dazu kommt, dass dieses winzige Land ein unabhängiger Staat ist? Wie erklären Sie ihm die Geschichte Luxemburgs in ein paar Sätzen? 

Nicht jeder hat vielleicht sofort als Antwort eine knackige Erzählung parat, viele könnten aber wahrscheinlich eine Variation folgender Geschichte bieten: Luxemburg wurde 963 vom Grafen Siegfried gegründet, wurde im Laufe des Mittelalters groß und mächtig, stellte gar dem Deutsch-Römischen Reich einige Kaiser. Dann kam der Niedergang: Nach einer ersten Eroberung durchlitt das Land über vier Jahrhunderte die Herrschaft von Fremden; es wurde dreimal geteilt, bis nur noch ein kleiner, aber feiner Rest übrigblieb. Im 19. Jahrhundert erlangte es wieder seine Unabhängigkeit. Diese verteidigte es seither erfolgreich gegenüber den Nachbarstaaten, nicht zuletzt im Zweiten Weltkrieg, als das Land geeint Nazideutschland widerstand. Und so wurde Luxemburg eines der reichsten und erfolgreichsten Länder der Welt. 

Diese Erzählung entspricht einer kurzen, groben Zusammenfassung der nationalen Meistererzählung Luxemburgs, einer Erzählung, die im 19. Jahrhundert bereits Form annahm, ständig erweitert wurde und sich im 20. Jahrhundert in sämtlichen historischen Medien wiederfinden lässt, wie etwa in politischen Reden, Schulbüchern, in Forschung, Massenmedien und Monumenten. Zwei Aspekte zeichnet diese, wie jede andere Meistererzählung aus: Erstens ist es eine Erzählung, über die ein in der Vergangenheit erkannter Sinn als Lehre für die Gegenwart vermittelt wird. Das heißt auch, dass sie sowohl als Ganzes, wie auch durch ihre Bestandteile politische Botschaften vermittelt. Zweitens hält sich diese Erzählung – wie jede gute Geschichte – hartnäckig in unseren Köpfen. War das bis Ende des 20. Jahrhunderts mangels alternativer Erzählungen der Fall, so findet sie sich heute noch in vielen populären Medien, und das obwohl fast jeder Bestandteil dieser Erzählung seit den 1970er Jahren von Historikern und Historikerinnen widerlegt oder zumindest kritisch hinterfragt wird. 

Die Legitimierung eines aufkeimenden Staates

Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert beschäftigten sich Gelehrte mit der Vergangenheit des damaligen Herzogtums Luxemburg, besonders mit seinen Herrschern. Ihr Anliegen war weder dem Gebiet eine kohärente historische Erzählung zu geben, noch über diese Erzählung dessen vermeintliche Eigenart zu begründen. Tatsächlich gab es auch kaum eine Instanz oder Gemeinschaft im alten Herzogtum, der daran gelegen hätte. Ziel dieser Gelehrten war vielmehr, die Abfolge von Ereignissen und von Herrschern zu (re)konstruieren. 

Dies begann sich ab den 1840er Jahren langsam zu ändern. Auch wenn das Großherzogtum Luxemburg während des Wiener Kongresses 1815 gegründet wurde, blieben seine Grenzen zunächst unbeständig, und das Land besaß bis 1841 keine eigene Verfassung. Anschließend jedoch hatten die regierenden lokalen Eliten ein Interesse – und zwar im doppelten Sinne des Wortes –, ihre Macht historisch zu begründen. Einerseits entflammte in ganz Europa ein erneutes Interesse an der Geschichte, getrieben von Romantik und aufkommendem Nationalismus. Dies ergriff auch viele Mitglieder der Luxemburger Führungsschicht, die neben ihren beruflichen Tätigkeiten als Staatsfunktionäre, Juristen, Priester oder Ärzte nunmehr auch eifrig die Vergangenheit ihres Landes erkundeten. Andererseits verdankte diese Führungsschicht ihre politische Macht großenteils ihrer Haltung während der belgischen Revolutionsjahre (1830-39), als sie dem König-Großherzog aus dem Hause Oranien-Nassau treu blieb und sich ganz klar von ihren belgophilen Mitbürgern abgrenzte, die dann später ihre Karrieren im Königreich Belgien fortführten. Entsprechend entstand im Kreise dieser Generation und ihrer Schüler eine Erzählung, die drei Ziele verfolgte. 

Erstens brauchte das Land eine altehrwürdige Vergangenheit, denn sie verlieh dem jungen Staat Legitimität. Diese fand man im Mittelalter. Der Rückgriff auf diese Epoche lag im Trend der Romantik, orientierte sich aber auch an den Forschungsergebnissen früherer Historiker, die nunmehr national umgedeutet wurden. Bereits im 16. Jahrhundert hatten die Genealogen der alten Grafenfamilien den Grafen Siegfried hervorgestrichen. Er war der erste, den sie mit dem Namen Luxemburg in Verbindung bringen konnten. Entsprechend wurde diese Figur als Gründer, später Erbauer Luxemburgs gedeutet. Diese Gründerrolle erweiterte sich im 19. und 20. Jahrhundert auf die des Luxemburger Staates und seiner Nation. 

Zweitens wollten diese frühen Historiker das Land von Belgien abgrenzen. Die mittelalterliche Grafschaft Luxemburg entstand eigentlich unter ähnlichen Bedingungen wie die Nachbarterritorien, mit deren Herrschern die Grafen von Luxemburg eng verwandt waren. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts und bis 1795 wurde das Herzogtum Luxemburg mit fast allen anderen, später belgischen Gebieten in Personalunion regiert. Diese Periode wurde in der nationalen Meistererzählung ab den 1860er Jahren als Zeit der „Fremdherrschaft“ interpretiert. Mithilfe dieses Begriffs wurde die gemeinsame Vergangenheit mit den belgischen Provinzen diskreditiert, und gleichzeitig wurden die Grafen und Herzöge des Mittelalters als Luxemburger „nationalisiert“. Außerdem diente diese Erzählung in einer Zeit, in der sowohl Preußen als auch Frankreich eine Annexion Luxemburgs anstrebten, der bewussten Abgrenzung gegenüber den Nachbarländern.

Drittens sollte die Monarchie als Herrschaftsform und insbesondere die Position der damals regierenden Familie Oranien-Nassau legitimiert werden. Eigentlich hatte diese Familie kaum eine genealogische Verbindung mit den als „Luxemburger“ gedeuteten Grafen des Mittelalters, war gar Widersacher der in der Frühen Neuzeit in Luxemburg herrschenden Habsburger. Doch die historische Erzählung bekam den Dreh hin: Die Einwohner des Herzogtums hätten gegenüber ihren (auch „fremden“) Herrschern eine unerschütterliche Treue gezeigt – dieser Kniff wertete nebenbei auch die Revolutionen des 18. Jahrhunderts ab. Zudem rechtfertigte die Leidensgeschichte des Landes unter der „Fremdherrschaft“ – eine Opferrolle, die oftmals mithilfe der vermeintlichen „Dreiteilung“ Luxemburgs unterstrichen wurde – die Wiederauferstehung des mittelalterlichen Staates als Großherzogtum im 19. Jahrhundert. Die Großherzöge der Gegenwart waren dabei nicht mehr „Fremde“, sondern reihten sich stattdessen bei den Grafen des Mittelalters ein. Dieser erzählerische Kniff funktionierte auch noch nach dem Dynastiewechsel von 1890. 

Tauchten zunächst nur Elemente dieser Erzählung auf, etwa bei François Würth-Paquet oder Jean-Pierre Maeysz, so wurden diese ab 1880 kohärent zusammengesetzt. Schlüsselfiguren sind hier der Historiker Jean Schoetter (1823-1881) und dessen Schüler Arthur Herchen (1850-1931), da sie beide für den Unterricht der Nationalgeschichte verantwortlich waren und ihre gesammelten Notizen in Schulbücher überführten. Entsprechend bildet Arthur Herchens Manuel d’Histoire nationale (1918) eine detaillierte Zusammenstellung der nationalen Meistererzählung. Hier lassen sich weitere rhetorische Mittel beobachten, die die Erzählung unterstützen, ihre politische Botschaft unterstreichen und die Luxemburger zur jahrhundertealten Schicksalsgemeinschaft werden ließen. 

Wenn Herchen über die Einwohner Luxemburgs schrieb, benutzte er fast immer die „wir“-Form (nous), auch wenn diese Einwohner bereits seit vielen Jahrhunderten tot waren. Er vermittelte damit nicht nur seine eigene Identifikation, sondern er forderte seine Leser implizit dazu auf, diese mit ihm zu teilen. Die Gesellschaft, über die er schrieb, ist einheitlich und teilt seine konservative-monarchistische Sicht: In seiner Erzählung ist kein Platz für Migrationen, und politischer Dissens wird als die Fehlleitung einer kleinen Minorität abgetan. Diese Sicht mag vielleicht erstaunen, da Herchen sein Buch in den Krisenjahren gegen Ende des Ersten Weltkriegs schrieb, als die Gesellschaft in den großen politischen Fragen tatsächlich fundamental polarisiert war. Doch gerade dieser Zeitpunkt ist es, mit dem sich seine Haltung erklären lässt. Herchen wollte die Geschlossenheit des Volkes hinter dem großherzoglichen Thron historisch fundieren, um seine Leser zur Unterstützung der Großherzogin Marie Adelheid aufzurufen, die er als Garantin der Luxemburger Unabhängigkeit sah. Entsprechend wird in seiner Erzählung das Luxemburger Volk von seinen Dynasten geführt: Das Ende der mittelalterlichen Dynastie brachte das Joch fremder Herrscher – das gleiche sollte sich nicht nochmal wiederholen. Die späteren Ereignisse verliehen dieser Lesart der Geschichte zusätzlich Gewicht und verschafften ihr eine große Anhängerschaft.

Eine konsensfähige Erzählung als Grundlage des Nationalstaates

In der von Herchen dargestellten Galerie der Herrscher gab es auch Herrscherinnen. Diese gehörten zwei Kategorien an: die der guten, fürsorglichen Mütter, wie Ermesinde, die das Erbe ihrer Väter bewahrten und an ihre Söhne weitergaben, und die der leichtsinnigen jungen Frauen, wie Elisabeth von Görlitz, die mit der Verschleuderung ihres Erbes die Zeit der Fremdherrschaft einleitete. Großherzogin Marie Adelheid, die mit ihren unvernünftigen Entscheidungen, ihrer Unkenntnis der Machtverhältnisse und ihrer Nähe zum Kaiser einen Aufstand der „Roten“ im Süden des Landes auslöste und beinahe das Ende der Unabhängigkeit Luxemburgs herbeiführte, so das Narrativ, wurde nach ihrer Abdankung der zweiten Kategorie zugeordnet. Ihre Schwester Charlotte, die ihr auf den Thron folgte, ging dagegen als Mutter der Nation in die Meistererzählung ein, die in den dunkelsten Stunden schützend ihre Hand über ihr Volk hielt. Es war ein Referendum, das sie 1919 an die Macht brachte. Die Monarchie war durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gerettet worden. Es war auch diese demokratische Revolution, welche die katholische Rechte für lange Zeit an die Macht brachte.

Herchen schrieb genau zu diesem Zeitpunkt, als sich der politische Mainstream vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts zum politischen Katholizismus des 20. Jahrhunderts wandelte. Eine Erzählung, deren Versatzstücke von einer Oranien-treuen Führungselite im 19. Jahrhundert gebildet wurden, taugte mit ihrer nationalen, monarchistischen Sicht also durchaus auch für das kurze Jahrhundert unter Rechtspartei und CSV. Sie fand eine neue Legitimität und ein großes Publikum bei der Mehrheit der Bevölkerung, die damals konservativ wählte: Bauern, Handwerker, Händler, Angestellte, aber auch katholische Arbeiter. Allerdings hat Herchen die Meistererzählung nicht allein hervorgebracht, und unter denen, die an ihr mitgeschrieben haben, waren auch Linksliberale wie Nicolas van Werveke oder Nicolas Ries. Diese linksgerichteten Intellektuellen trugen, ebenso wie die ultranationalistische Letzeburger Nationalunio’n, zur Definition einer historisch begründeten luxemburgischen „Rasse“ bei. Ries zufolge war diese keltischer – also nicht germanischer – Abstammung. Damit wollte er den Argumenten der deutschen Historiker entgegentreten, welche „die Luxemburger“ als Deutsche definierten. Denn, auch wenn deren Thesen zu diesem Zeitpunkt nur Gedankenspiele waren, stellten sie dennoch eine existenzielle Bedrohung für Luxemburg dar, weil sie die Existenz des Landes als „Reichssplitter“ als Unfall der Geschichte deuteten. 

Mit dem gleichen Ziel, den Argumenten der deutschen Sozialwissenschaften etwas entgegenzusetzen, prägte Ries zusammen mit dem Schriftsteller Batty Weber den Begriff der „Mischkultur“, der großen Erfolg haben sollte und dessen Nachhall noch heute spürbar ist. Die Luxemburger, so argumentierten die Befürworter der „Mischkultur“, waren in erster Linie Luxemburger und wollten dies auch bleiben – so wie es das nationale Motto „Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“ proklamierte. Sie waren weder Deutsche noch Franzosen. Sie befanden sich jedoch auf halbem Weg zwischen diesen beiden „großen Völkern“, deren Sprachen sie beherrschten. Die historische Berufung der Luxemburger bestand daher darin, als Vermittler aufzutreten und so für Frieden und Zusammenarbeit in Europa zu sorgen. Die These der „Mischkultur“ ermöglichte es, Luxemburgs Schwächen in Stärken zu verwandeln.

Diese Sicht der nationalen Geschichte hatte ihren Höhepunkt in den 1920er Jahren, wurde aber im folgenden Jahrzehnt aufgrund der wirtschaftlichen, politischen und identitären Krise der 1930er Jahre unterminiert. Sie war zusätzlich neuen Tendenzen innerhalb der deutschen Geisteswissenschaften ausgesetzt, die in der Zwischenzeit von einem totalitären Regime instrumentalisiert wurden. Deutsche Historiker wie Franz Steinbach, Josef van Volxem und Wolfgang von Franqué, ein Volkskundler wie Matthias Zender und ein Geograf wie Josef Schmithüsen, die alle an der Universität Bonn tätig waren und unter dem Sammelbegriff „Westforscher“ bekannt wurden, bauten eine neue Erzählung auf, die beweisen sollte, dass Luxemburg unzweifelhaft ein Teil des Deutschen Reiches war. Um diesen scheinbar seriösen und objektiven Wissenschaftlern entgegentreten zu können, mussten Herchens geistige Nachfolger wie Nicolas Margue, Camille Wampach oder Josy Meyers Lösungen finden, um einen historischen Sonderweg Luxemburgs – und damit auch die Unabhängigkeit des Landes – wissenschaftlich zu legitimieren und dem Begriff des „Deutschtums“ den des „Luxemburgertums“ entgegenzusetzen. Auf zwei Tagungen, die 1932 und 1936 stattfanden, verteidigten sie die luxemburgische Meistererzählung gegenüber ihren deutschen Kollegen.

Und dann wurde der historiografische „Krieg“ zu einem wirklichen Krieg. Die von der SS abhängige Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi) schickte bereits im Juni 1940 den Geografen Josef Schmithüsen in das besetzte Luxemburg, um die Grundlagen für eine politische Bewegung zu legen, die den Anschluss des Großherzogtums an das Deutsche Reich ideologisch untermauern sollte. Als Gauleiter Gustav Simon mit der Verwaltung des Landes betraut wurde, war auch sein Handeln von den Thesen der Westforscher beeinflusst, wie insbesondere die Personenstandsaufnahme vom Oktober 1941 oder seine antifranzösische und vor allem antijüdische Politik zeigen. Nach vier Jahren Besetzung wurde die Souveränität Luxemburgs wiederhergestellt. Die nationale Meistererzählung ging gestärkt aus dieser Periode hervor. Dafür gibt es drei Gründe.

Erstens war die tödliche Gefahr, die von der pangermanistischen Geschichtsschreibung ausging, nachdem sie der Zerstörung des unabhängigen luxemburgischen Nationalstaates so nahegekommen war, endgültig abgewendet worden. Zweitens war die Art und Weise, wie der Zweite Weltkrieg in die Luxemburger Meistererzählung integriert wurde, in der Lage, die tiefe Spaltung der luxemburgischen Gesellschaft während des Krieges zu übertünchen, insbesondere die Tatsache, dass sich ein kleiner, aber nicht unbedeutender Teil von ihr der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ angeschlossen hatte. Drittens wurden gewisse Schwächen in der Argumentation der luxemburgischen Geschichtsschreibung durch die unbestreitbare Tatsache ausgeglichen, dass Luxemburger Widerstand gegen die Besatzer geleistet hatten und dass viele von ihnen dabei umgekommen waren. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wurde so zum entscheidendsten Kapitel der nationalen Meistererzählung, zum Äquivalent der Unabhängigkeitskriege in anderen nationalen Meistererzählungen. Diese patriotische und „resistenzialistische“ Erzählung wurde zunächst von Verbänden ehemaliger Widerstandskämpfer, Refraktären oder Zwangsrekrutierten verteidigt, dann schnell vom Staat aufgegriffen. Ab den 1970er Jahren wurde sie von Historikern wie etwa Gilbert Trausch oder Paul Dostert akademisch legitimiert, indem sie den Zweiten Weltkrieg als den Moment darstellten, in dem „die Nation“ sich selbst entdeckte und bereit war, sich für ihr Fortbestehen zu opfern. So blieb die luxemburgische Meistererzählung zu einem Zeitpunkt, als alle Nachbarländer die Geschichte ihrer Kollaboration und die Shoah in ihre Meistererzählungen integrierten, einem ihrer wichtigsten Gründungsmythen verhaftet. 

Das Ende der Meistererzählung? 

Erstaunlich ist, dass viele Bestandteile der nationalen Meistererzählung sich hartnäckig halten, obwohl Historiker sie seit Jahrzehnten widerlegen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Seit den 1970er Jahren wehren sich Historiker vehement gegen den Begriff der „Fremdherrschaft“, da diese Herrscher zu ihrer Zeit nie als „fremd“ angesehen wurden, sie stattdessen legitime Herzöge waren und gemeinsam mit lokalen Eliten regierten. Etwa zur gleichen Zeit beginnen Historiker zu unterstreichen, wie willkürlich die Wahl des Jahres 1839 als Unabhängigkeitsdatum ist, weil es aus der Tatsache resultiert, dass man 1939 angesichts einer drohenden deutschen Invasion eben jene Unabhängigkeit feiern wollte. Seit den 1980er Jahren wissen Historiker, dass Siegfried Luxemburg nicht gründete, sich nicht nach diesem Ort benannte, dieser nur einer von mehreren Stützpunkten war und er wahrscheinlich hauptsächlich in Trier und Thionville lebte. Im Jahr 2015 entschuldigten sich die Regierung und die Abgeordnetenkammer nach der Vorlage des „Artuso-Berichts“, der die Verantwortung der luxemburgischen Verwaltungen in der antijüdischen Politik des Nazi-Regimes während der Besatzung feststellte, bei der jüdischen Gemeinde. Auch dies war ein wichtiger Schritt weg von der nationalen Meistererzählung.

Dass sich auch Historiker schwertun, sich von der Meistererzählung zu lösen, zeigt das Beispiel Gilbert Trausch. Trausch gehörte in den 1970er Jahren zu den Historikern, die in Luxemburg mithilfe von neuen Forschungsansätzen und einer Infragestellung vorherigen Wissens radikal neue Wege gingen. Als Trausch jedoch 1989 die Möglichkeit erhielt, das 150. Jubiläum der Unabhängigkeit mit viel Pomp vor Presse und Weltpolitik zu begehen, reanimierte er die Eckdaten der alten Meistererzählung und ihre etablierte Lesart. In den letzten Jahren haben Historiker versucht, diese zu überwinden und eine neue Übersicht einer „Luxemburger Geschichte“ zu entwickeln. Michel Pauly reduziert zwar seinen Ansatz auf den Begriff „meta-national“, aber seine Erzählung lässt sich, anders als die nationale Meistererzählung, nicht auf ein paar Sätze und einen großen Spannungsbogen reduzieren. Denis Scuto ließ seine Übersicht über die letzten zwei Jahrhunderte zerstückelt. Sein Buch basiert auf zusammengetragenen Pressebeiträgen, die thematisch strukturiert sind. Auch hier sucht man vergeblich den großen Bogen.

Die Überwindung der nationalen Meistererzählung stellt heute eine multiple Herausforderung für forschende Historiker dar. Einerseits haben sie es nicht fertiggebracht, die entzauberten Mythen zu einer neuen Erzählung zusammen zu stricken; andererseits wollen sie es auch nicht. Historische Forschung sieht sich heute ungern als Legitimationswissenschaft, auch wenn sie weiterhin notgedrungen politisch positioniert ist. Sie lässt sich aber ungern von bestimmten Instanzen – schon gar nicht vom Staat – instrumentalisieren. Zudem sind Historiker reduktionistischen Erzählungen gegenüber skeptischer geworden, nicht zuletzt, weil sie sich der Grenzen eines Fachgebietes bewusst sind, das keine Wissenschaft – im naturwissenschaftlichen Sinne – ist.

Diese skeptische, gelehrte, ja elitäre Wahrnehmung bringt sie in Konflikt mit den Erwartungen der breiten Öffentlichkeit, die nach klaren Antworten sowie kohärenten und sinnstiftenden Erzählungen sucht. Die Kluft zwischen Historikern und der Öffentlichkeit ist heute auch eine soziale und ideologische. Historiker – vor allem diejenigen, die ihren Beruf in einem akademischen Umfeld ausüben – gehören zu einer Elite, die überwiegend den nationalstaatlichen Rahmen für überholt und unzeitgemäß hält. Doch die jüngste Geschichte, insbesondere das dreifache Referendum vom Juni 2015, hat gezeigt, dass eine Mehrheit der Luxemburger dem Nationalstaat noch sehr verbunden ist.

Mit der nationalen Meistererzählung konnte sich die kulturell jüdisch-christlich geprägte Bevölkerung Luxemburgs leicht identifizieren, griff sie doch auf tief verankerte Erzählmuster zurück: Sie begann mit der Lebensgeschichte der Patriarchen, durchlief eine dunkle Phase mit der Unterwerfung durch fremde Reiche – nicht das assyrische, babylonische oder griechische, sondern das spanische, österreichische und französische – und endete mit der Befreiung eines Volkes. Nach Leid und Tod kam die Auferstehung. Dieses Volk hatte trotz seiner geringen Größe eine klare Bestimmung, nämlich als Vermittler zwischen den großen Nachbarn zu dienen, als Friedensstifter. Schließlich legitimierte diese Erzählung seit dem 20. Jahrhundert auch eine politische Ordnung, die auf der Volkssouveränität beruht, eine Ordnung die, um Rechte und Pflichten gleichmäßig auf die Individuen zu verteilen und Unterschiede zwischen Herren und Untertanen aufzuheben, eine neue Trennung schuf, nämlich die zwischen Bürgern und Ausländern.

Das Überleben der nationalen Meister­erzählung ist also nicht nur eine technische, historiografische, sondern auch eine politische und im Grunde sehr intime Frage. Heute wie gestern stiftet dieses Narrativ denjenigen, die im Strom der Zeit nach Halt suchen, eine nationale Identität die, wenn auch konstruiert und notwendigerweise ausgrenzend, trotzdem auch auf einer Suche nach kollektivem Sinn und dem Wunsch nach individueller Freiheit beruht. Historiker können dieses Narrativ nicht abschaffen, solange sie keine Alternative anbieten. 

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code