Die KPL und der Marxismus

Interview mit Ali Ruckert, Präsident der Kommunistischen Partei Luxemburgs

Wenn Marx heute leben würde, was würde er zum politischen und wirtschaftlichen Modell Luxemburgs sagen?

Ali Ruckert ist seit 1999 Präsident der Kommunistischen Partei Luxemburgs (KPL). Die Partei beruft sich auch heute noch auf die von Karl Marx und Friedrich Engels festgelegten Grundprinzipien, was sich zum Beispiel in ihrer Ausrichtung auf die „Arbeiterklasse“ zeigt. Der von Marx postulierte Klassenkampf muss weitergehen, sagt Ali Ruckert, denn die arbeitenden Leute machen den größten Teil der Gesellschaft aus. Dabei muss die KPL sich aber, unter anderem auf internationaler Ebene, auch auf Veränderungen einlassen, die die Aktualität mit sich bringt.

Wenn Marx heute leben würde, was würde er zum politischen und wirtschaftlichen Modell Luxemburgs sagen?

A.R.: Zur Zeit in der Marx lebte, und als er sein Hauptwerk Das Kapital schrieb, war das Finanzkapital noch nicht so weit entwickelt, wie das heute der Fall ist. Wenn er heute leben und nach Luxemburg kommen würde – es wäre ja nicht weit aus Trier – dann würde er feststellen, dass das, was er damals bereits analysierte, vollständig eingetroffen ist. Er schrieb, dass das Finanzkapital das dominierende Kapital werden und es auch über die Industrie und andere Kapitale dominieren würde. Ein zweiter Aspekt ist, dass ein immer größerer Teil der Produktivität in die Spekulation geht. Das könnte er in Luxemburg auch phantastisch feststellen, wo wirklich das Finanzkapital dominiert. Und das mit allen negativen Folgen.

Auch das Thema der Ausbeutung ist immer noch aktuell. Was hat sich verändert?

A.R.: Grundsätzlich gibt es viele unterschiedliche Formen der Ausbeutung. Marx hat analysiert und eigentlich aufgedeckt, wie Ausbeutung funktioniert. Man beutet die Leute aus, indem man ihnen nur einen Teil dessen gibt, was sie produziert haben und sie nur sehr geringfügig dafür entlohnt. Der Kapitalist steckt sich den größten Teil des Mehrwertes der Produktion in die eigene Tasche. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Produktionsmittel nur einer kleinen Minorität gehören. Solange sich das nicht ändert, werden nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Mechanismen, die dies ermöglichen, reproduziert. Die Ausbeutung in Luxemburg ist viel größer als in anderen Ländern, weil die Produktivität hierzulande viel höher ist, während der Mehrwert, den derjenige, der arbeitet, letztlich ausgezahlt bekommt, verhältnismäßig gering ist.

In seinem Werk Kapital und Arbeit hat Marx die Ausbeutung am Beispiel der Dauer der Arbeitszeit analysiert. Je länger die Arbeitszeit, desto größer die Ausbeutung. Durch Verlängerung der Arbeitszeit wird der Gewinn des Kapitalisten gesteigert. Deswegen hat es in der ganzen Geschichte des Kapitalismus stets das Bestreben der Kapitalisten gegeben, die Arbeitszeit zu verlängern. Das bestätigt sich auch heute immer wieder. Es gab eine Zeit, in der es durch den Einsatz der Gewerkschaften gelungen ist, die Arbeitszeit zu verkürzen. In den 50er Jahren war Schichtarbeit in der Stahlindustrie die Regel. Damals wurde 48 oder 50 Stunden die Woche gearbeitet. Das wurde langsam zurückgedreht auf die 40-Stunden-Woche. Die Kapitalisten versuchten aber immer wieder, die Arbeitszeit zu verlängern und so zu gestalten, dass sie selbst bei einer längeren Arbeitszeit nicht so viel zahlen mussten. Das führt natürlich zu Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaft und Kapitalist oder zwischen den politischen Parteien.

Die KPL fordert die 35-Stunden-Woche?

A.R.: Wir fordern in dem Zusammenhang ja nicht nur die 35-Stunden-Woche, sondern die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Es geht nicht nur um die Reduzierung der Arbeitszeit, sondern darum, dass diese nicht mit Gehaltseinbußen einhergeht. Außerdem sollen über die 35-Stunden-Woche neue Arbeitsplätze geschaffen werden, besonders mit Hinblick auf die hohe Arbeitslosigkeit. Denn das hatte Marx auch festgestellt: Der Kapitalist hat immer die Tendenz, sich eine Reservearmee zu schaffen. Wenn es viele Arbeitslose gibt, hat er gegenüber den Arbeitenden ein gutes Druckmittel. Sie haben Angst, ihre Arbeit zu verlieren oder ausgetauscht zu werden. Arbeitslosigkeit führt dazu, dass die Leute keine großen Forderungen stellen.

Bei den Sozialwahlen ist die Wahlbeteiligung eher niedrig. Erfüllen die Gewerkschaften heute noch die Rolle, die Marx eigentlich für sie vorgesehen hat?

A.R.: In der Nachkriegszeit hatten die Gewerkschaften eine sehr wichtige Rolle gespielt und konnten auch eine ganze Reihe von Maßnahmen wie beispielsweise den Mindestlohn durchsetzen. Damals gab es eine starke sozialistische und kommunis­tische Gewerkschaft. Darüber hinaus war auch die politische Ausrichtung der Arbeiterklasse positiver gesinnt. Dadurch hielt sich die Ausbeutung in Grenzen. Vorher haben die Chefs gezahlt, was sie wollten. Heute sieht man in Bereichen, in denen keine starken Gewerkschaften bestehen, dass die Bedingungen viel schlechter sind als in Bereichen, in denen Gewerkschaften aktiv sind. Durch den Neoliberalismus ist aber auch der Druck auf die Gewerkschaften größer geworden. Dies hat dazu beigetragen, dass kein Gegengewicht mehr da ist, der den Kapitalismus in Schach hält. Es gibt keine sozialistischen Länder mehr, auf die der Kapitalismus Rücksicht nehmen muss, ganz unabhängig davon, wie sie funktionierten. Diese Rücksicht drückte sich in Form von Zugeständnissen aus, die den Arbeitern gemacht wurden. Das war natürlich positiv für die Gewerkschaften. Als 1990 der Kapitalismus die Auseinandersetzung gewann, wurde immer weniger Rücksicht auf die Arbeiterbewegung und die sozialdemokratischen Gewerkschaften genommen. Seit 1990 bis heute sind eine ganze Reihe von sozialen Errungenschaften, die es in den Betrieben gab, abgeschafft worden. In vielen Betrieben sind die Einstiegslöhne nun tiefer, die Urlaubsregelungen sind wesentlich schlechter. Soziale Errungenschaften, die in Kollektivverträgen festgehalten wurden, wurden wieder rückgängig gemacht. In den letzten 25 Jahren befindet sich die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Luxemburg eher in einem Verteidigungskampf als in der Offensive. Und es ist schwer, da herauszukommen.

Ihrer Meinung nach braucht es wieder eine stärkere Gewerkschaftsbewegung?

A.R.: Wenn Kollektivvertragsverhandlungen nicht die gewünschten Resultate bringen, sagen die Leute: „Das bringt doch eh nichts, ich trete aus der Gewerkschaft aus“. Das ist der falsche Weg. Eigentlich müssten sie sagen: „Wir haben uns eingesetzt und haben nichts erreicht. Deswegen müssen wir uns in Zukunft stärker einsetzen und dafür sorgen, dass mehr Kollegen sich mit uns zusammen einsetzen.“ Das heißt, die Gewerkschaften müssen gestärkt werden. Und was in unseren Augen wichtig ist: Die Gewerkschaften müssen von der Ideologie der Sozialpartnerschaft wegkommen. Das war eine Ideologie, die in erster Linie dem Kapital nutzte, und nicht den Lohnabhängigen. Und sie müssen zurück auf den Weg des Klassenkampfes kommen. So wie es früher der Fall war.

Die Sprache, die Sie benutzen, ist eigentlich immer noch dieselbe wie bei Marx. Warum benutzen Sie heutzutage noch diese kämpferische Rhetorik?

A.R.: Wir benutzen nicht mehr dieselbe Sprache, die zur Zeit von Marx gebraucht wurde.

Aber es ist ein ähnlicher Stil.

A.R.: Ja, sicher. Wenn man sich einer gewissen Entwicklung bewusst ist, muss man sie auch präzise mittels der Sprache darlegen können. Man kann also nicht ein Wischiwaschi-Wort benutzen, um etwas Präzises, über das man eine Kenntnis hat, darzustellen. Wir sagen „der Kapitalist“, andere sagen „der Arbeitgeber“. Wir sagen „der Lohnabhängige“, andere sagen „der Arbeitnehmer“. Das Vokabular der Kapitalisten verfälscht die Situation, und genau das ist auch ein Teil des ideologischen Kampfes, der in der Gesellschaft geführt wird. Die bürgerliche Ideologie, die diese Begriffe prägt, ist im Vorteil, weil sie die Macht im Staat und in der Wirtschaft innehat. Wenn man „der Arbeitgeber“ statt „der Kapitalist“ sagt, verfälscht man die Situation. Derjenige, der seine Arbeitskraft verkauft, leistet Arbeit. Es ist also das Gegenteil von dem, was in der sozialpartnerschaftlichen Terminologie dargestellt wird. Das heißt, wenn man etwas präzise beschreiben will, dann muss man eine präzise Terminologie haben. Gewisse Wörter, die zu Marx’ Zeit benutzt wurden, benutzen wir aber nicht mehr, weil sie sich weiterentwickelt haben. Auch die Sprache hat sich weiterentwickelt. Wir sagen nicht mehr „die Proletarier“, sondern „die Lohnabhängigen“. Inhaltlich ist das ja eigentlich dasselbe, gemeint sind die Leute, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um leben zu können.

Zur Zeit von Marx hat man sich noch nicht viel mit dem Thema Umwelt und Nachhaltigkeit beschäftigt. Wie sieht das heute aus in der KPL?

A.R.: Marx hat nicht nur davon geredet, dass der Kapitalismus Menschen ausbeutet, sondern auch die Natur. Das findet sich übrigens schon im Manifest der kommunistischen Partei, und es ist natürlich eine ganz wichtige Erkenntnis… In einem System, in dem alles ausgebeutet wird und zu einer Ware verkommt, ist auch die Natur davon nicht ausgeschlossen. Sie wurde als Rohstofflieferant benutzt, egal, welche Folgen das nach sich zieht, da die Kapitalisten oft nicht global und nicht an die Zukunft denken. Sie interessieren sich meistens nur dafür, wie man kurzfris­tig maximalen Profit erzielen kann. Und diese Überlegung ist ganz irrational und nicht auf die Zukunft bedacht. Wenn man gegen die Ausbeutung des Menschen ist, dann ist man auch gegen die Ausbeutung der Natur. Das ist die Überzeugung, die man bei Marx und in marxistischen und kommunistischen Parteien wiederfindet. Der Ausbeutung der Natur wurde trotzdem lange Zeit nicht genug Beachtung geschenkt. Das Ausblenden dieses Aspektes war falsch. Heute sieht man die Konsequenzen. Es ist klar, dass der Planet zugrunde geht, wenn der Kapitalismus nicht gestoppt wird. Das Überleben der Gattung Mensch hängt davon ab, dass der Kapitalismus gestoppt wird, und stattdessen ein System geschaffen wird, das viel schonender mit den Rohstoffen der Natur umgeht. Sowohl die Ausbeutung des Menschen wie die der Natur muss eingeschränkt und überwunden werden. Das aber ist ein weiter Weg…

Vielen Dank für das Gespräch!

(Das Interview führte Betty Gillen am 18. Februar 2019)

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