- Politik
Die Krise der CSV ist mehr als die Krise der CSV
Das Gespräch mit dem CSV-Präsidenten Frank Engel, das reporter.lu am 18. August veröffentlichte, ist unter allen unerhörten Begebenheiten des Sommers 2020 in Luxemburgs politischer Landschaft diejenige, die die nachhaltigsten Folgen haben dürfte. In diesem Gespräch mit Christoph Bumb erklärte Frank Engel, man könne „durchaus ‚etwas an der Vermögensteuer drehen’“, denn „der wirkliche Reichtum im Land werde momentan viel zu niedrig besteuert“, die Fonds d’investissement spécialisés (FIS) müssten als Instrument der Immobilienspekulation „intensiv besteuert“ werden, eine Finanztransaktionssteuer müsse her, und er fand auch, „eine Erbschaftssteuer in direkter Linie dürfe für seine Partei kein Tabu mehr sein“.1
Obschon Engel damit nicht nur einen, sondern gleich mehrere parteiinterne programmatische Tabubrüche auf einmal befürwortet und zudem gegen eine Grundregel des parteiinternen Funktionierens verstoßen hatte, weil er seine Positionen mit niemandem abgesprochen hatte, hat der CSV-Präsident seitdem keine seiner Aussagen inhaltlich zurückgenommen. Seine Entschuldigungen im Parteivorstand eine Woche später, nachdem es aus den eigenen Reihen nur so Kritiken gehagelt hatte, stellte er bei RTL im Gegenteil sehr doppelbödig dar: Es tue ihm leid, „datt ech d’Partei an eng Situatioun bruecht hunn, wou Memberen d’Gefill kruten, datt se sech an der Partei net méi erëmfannen“. Er fügte hinzu, man werde ihn nicht mehr dabei erwischen, „private Aussagen“ zu machen, die als die des Parteivorsitzenden wahrgenommen werden könnten.2 Als ob im Grand-Duché für die Veröffentlichung gedachte Aussagen von politischem Führungspersonal zur Steuerpolitik jemals private Aussagen wären!
Der „Luxemburger Traum“
Frank Engel legte als unterzeichnender Parteivorsitzender noch einmal nach mit einem wenig beachteten, doch für sein persönliches Luxemburg-Bild durchaus bedeutsamen Gastbeitrag, der am 4. September im Lëtzebuerger Land erschien. Dort führt er die Vereitelung des „Luxemburger Traums“ indirekt als Beweggrund für seine Aussagen an. Ob der Text mit seinen Gremien abgesprochen wurde oder nicht, erfährt man nicht. Jedenfalls ist er bei csv.lu abrufbar.3 Engel erzählt, wie in einer Vergangenheit, die er nicht genau datiert, in der die CSV aber sicherlich am Ruder war, „ein normal arbeitender Mensch […] sich Eigentum in Form einer Immobilie aufbauen“ konnte, „ohne dafür vier Jahrzehnte lang jeden Franken umdrehen zu müssen. Der Luxemburger Traum war genau das: Wer will, der kann, und der macht. Arbeit, etwas Disziplin und Leistung führten zu jenem Erfolg, den der Besitz eines Hauses oder einer Eigentumswohnung ausmacht.“ Jetzt aber könnten sich Familien mit nur einem einzigen Einkommen das kaum noch leisten, fährt er fort.
Dann führt Engel ein anderes Merkmal seines „Luxemburger Traums“ an: „,De Choix’, ob beide Eltern Vollzeit arbeiten, oder man sich sein Leben um der Kinder willen anders organisiert, verkommt dabei zur blanken Theorie. In der Praxis ist der ‚Choix’ nicht mehr gegeben. Der Luxemburger Traum funktioniert nicht mehr.“
Es ist in Engels Text nicht ganz klar, ob das, was er das Ende des „Luxemburger Traums“ nennt, andere aber schlechthin eine auch von seiner Partei mitverantwortete Wohnungskrise, deswegen gekommen ist, weil junge Familien es nur noch unter großen Opfern, wenn überhaupt, zum Eigenheim bringen, oder weil sie es nicht mehr mit nur einem Einkommen schaffen, was implizit bedeutet, dass die bessere Familie die wäre, die sich dafür entscheiden könnte, dass einer der Partner wegen der Kinder zuhause bleibt. Die noch verstörendere Frage, ob es überhaupt mit zwei Einkommen zu schaffen wäre, stellt Engel nicht.
Dieses charakteristische Schlingern zwischen nostalgischer Trauer um vergangene bessere Zeiten, sozial-konservativem Wunschdenken über Familie und Heim und Anfechten verheerender gesellschaftlicher Fehlentwicklungen setzt Engel in eine pathetisch und national formulierte These um: „Wenn der Traum einer Nation immer weniger oft gelebt werden kann, dann schwinden Gewissheiten, entsteht Unsicherheit.“ In der gleichen Tonart wird das Entstehen einer großen luxemburgischen Diaspora in den Nachbarregionen als Folge der jetzigen Wohnungskrise zu einer zeitgenössischen Variante der Verjagung von der Scholle stilisiert, in die sich ein zusätzliches Merkmal des „Luxemburger Traums“ einschmuggelt: die „Leistungsgerechtigkeit“.4
Nachdem er in seinem Text ein traditionelles Familienbild, das Recht auf ein Eigenheim, die Bindung an Scholle und Heimat sowie das Ideal, dass Fleiß sich lohnen muss, hat einfließen lassen, schließt Engel mit einem Aufruf, der sich ebenfalls aus dem Erbe der historisch inklusiven und mehrheitlich als gesellschaftlich konservativ wahrgenommen Volkspartei CSV herleiten lässt: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Luxemburg aus solchen, wenigen, besteht, die haben und behalten, und jenen, vielen, die zu nichts mehr kommen. Es wäre das Ende des Luxemburger Traums.“ Seine CSV hatte sich immerhin deswegen so lange an der Macht halten können, weil sie so vielen über fast ein Jahrhundert einen, wie sie als hegemonische Partei vermittelt zu erwägen pflegte, angemessenen und angenommenen Platz in der Gesellschaft hatte bewahren, bieten oder neu anbieten können. Und so kommt es, dass 2020 und nach sieben Jahren Opposition Engel erklärt, dass das Ende des „Luxemburger Traums“ sich u. a. über den Weg einer steuerlichen Umverteilung abwenden ließe, die er im Gespräch mit reporter.lu eine „Solidaritätsanstrengung“ der Wohlhabenden nennt. Mit dieser Forderung hat er nicht nur die CSV-Parteigranden vor den Kopf gestoßen, sondern auch, als ungewollter bis machiavellistisch gedeuteter Kollateraleffekt, „die Saat der Zwietracht in das rot-blau-grüne Bündnis gesät“, wie Tom Haas am 15. September im Tageblatt treffend kommentierte.
Frank Engels Vorstoß, der an den Fundamenten des Luxemburger Modells und seines Steuersystems ansetzt, ist wegen seiner Funktion und der Rolle seiner Partei beim Aufbau dieses Modells mehr als eine Anekdote. Er erfolgte in einem besonderen Kontext, da in den letzten Monaten in vielbeachteten Beiträgen namhafter Journalisten der Generation U40, und daher allesamt Betroffene, eben diese Fragen um die soziale Gerechtigkeit aufgeworfen wurden, die jetzt verstärkt im Raum stehen. Er wuchs vor allem aus der strukturellen Krise hervor, die seine über hundert Jahre alte Volkspartei allmählich aufreibt, die mit über 10.000 Mitgliedern und 21 Abgeordneten theoretisch immer noch stärkste aller Luxemburger Parteien ist.
Die starke CSV
Der durchgehende Erfolg der CSV (bzw. ihrer Vorgängerin bis 1944, der Rechtspartei) wurde zwischen 1914 und 2013 durch mehrere Faktoren begünstigt.
Sie gab dem zahlenmäßig starken katholischen Milieu in Luxemburg, das sich aus Menschen aller sozialen Schichten zusammensetzte, auch denen, die vor 1919 wegen ihres geringen Einkommens vom Zensuswahlrecht ausgeschlossen waren, ein politisches Gesicht.
Sie wurde von der Kirche und deren Pressekonzern, der Sankt-Paulus-Druckerei, mit ihrer allgegenwärtigen Tageszeitung Luxemburger Wort und vielen anderen Nischenpublikationen, unterstützt.
Sie setzte sich für das allgemeine Wahlrecht für Mann und Frau ein, das gegen den Widerstand der rechten Liberalen Ende 1919 eingeführt wurde. Sie konnte die Monarchie nach 1919 tagespolitisch neutralisieren und in einer zweiten Phase für sich symbolisch instrumentalisieren im Rahmen ihrer Vision einer Luxemburger Nation, in der Kirche, Thron und die staatlichen Institutionen, in denen sie die Mehrzahl der Ernennungen bestimmte, harmonisch und konvergent agierten.
Sie konnte auf ein doktrinäres Korpus zurückgreifen, mit der katholischen Soziallehre im Mittelpunkt, die u. a. fordert, dass ein jeder seinen ihm angemessenen Platz im gesellschaftlichen Gefüge bekommen müsse. Konsequent entstanden in ihrem Umfeld, wenn auch nicht ohne Komplikationen, die entgegengesetzten materiellen Interessen im katholischen Milieu geschuldet waren, Gewerkschaften, Bauernverbände und ein immenses Netzwerk an Kulturvereinen, Wohlfahrtsorganisationen, Jugendverbänden und Kooperativen aller Art. Dort übte die Trias Kirche-Presse-Partei einen richtungsbestimmenden Einfluss aus. Ein jeder hatte in diesem System dort, wo ihm sein Platz zugewiesen war, der ihn auch ernähren sollte, für dessen Zusammenhalt zu sorgen. Die CSV war bis in die 1950er Jahre die einzige Partei, die Stadt und Land ebenbürtig abdeckte. Im Einvernehmen mit der LSAP trug sie (bzw. die Rechtspartei) seit der Mitte der 1930er Jahre wesentlich zum Luxemburger Sozialmodell bei, das sich auf den Dialog zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Staat stützt.
Wer an der Spitze von Partei bzw. Regierung stehen sollte, wurde nicht durch formelle Prozeduren bestimmt, sondern lief über einen informellen Beratungs- und Entscheidungsmodus innerhalb eines inneren Kreises von Parteigranden und anderen einflussreichen Persönlichkeiten, die die neuen Nachwuchs- und Führungskräfte kooptierten und zukunftsbewusst aufbauten. So wie man erwartete, dass sich die einzelnen Mitglieder dieses breiten katholischen Milieus mit dem ihnen zugewiesenen Platz in diesem Wir-Gefüge zufriedengaben, so erwartete man auch von denen, die sich politisch engagierten, dass sie die kooptierten Leader der Rechtspartei/CSV nach außen vorbehaltlos unterstützten. Dieses System sollte immerhin so prägnante Figuren hervorbringen wie Joseph Bech, Pierre Dupong, Pierre Werner, Jacques Santer und Jean-Claude Juncker. Sie alle haben etwas gemeinsam: Bis auf Pierre Werner, der 41 Jahre alt war, waren sie alle unter 40, als sie in die Regierung eintraten, und, mit Ausnahme von Pierre Dupong, zwischen Ende 30 und Ende 40, als sie Staatsminister wurden.
Die Weiterführung dieses Systems verlief nicht ohne Widerstände, Konflikte, Abspaltungen und persönliche Kränkungen, und in den 1930er Jahre nicht ohne die zuletzt von einem hellhörigen Pierre Dupong verworfene Versuchung, den Weg des undemokratischen Ständestaats zu beschreiten. Dennoch erwies sich dieses komplexe, hegemonische, vertikale und sanft bis zuweilen hart autoritär auf Konsens bauende politische Konglomerat katholischer Prägung lange als leistungs- und widerstandsfähig.
Die zerbröckelnde CSV
In den 1950er Jahren kam es dann allmählich anders. Das katholische Milieu begann zu bröckeln. Die Zahl der Kirchenbesucher ging zurück. Der Klerus schrumpfte. Seine mit der Säkularisierung des Alltags unvereinbaren Einmischungen in das Privatleben der Menschen wurden immer stärker verworfen. Die sich wiederholenden klerikalen Versuche, zensierend ins kulturelle Leben einzugreifen, scheiterten an der verfassungsmäßig garantierten Meinungs- und Ausdrucksfreiheit. Die Kirche in Luxemburg war sich des Rückgangs ihres Einflusses sehr wohl bewusst und begann sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Ihre Wege und die der CSV sollten sich von da an weniger oft überkreuzen.
Landflucht und Industrialisierung ließen die strategisch gewichtige bäuerliche Klientel der CSV schrumpfen. Die Umverteilungs- und Machtkämpfe im Agrarbereich, unter anderem wegen einer anfänglich von der CSV begünstigten Bauernzentrale mit Alleinvertretungsanspruch, die wie ein Staat im Staat agierte, wurden erbittert ausgetragen. Die CSV musste, wenn auch zögernd, ihr eigenes Kind in den 1960er Jahren in rechtsstaatliche Schranken zurückverweisen, was zu herben Verlusten in ihrer residualen bäuerlichen Wählerschaft führte.
In der Arbeiterschaft konnte sich die CSV über den christlichen Gewerkschaftsbund LCGB lange als zweite politische Kraft behaupten. Die Präsidenten des LCGB kumulierten zudem mit Vorliebe ihren Posten mit dem eines CSV-Abgeordneten. Doch mit der Stahlkrise der 1970er Jahre begann auch die Arbeiterwählerschaft der CSV zu schrumpfen. Mit der wirtschaftlichen Transition in Richtung Finanzindustrie und Dienstleistungsgesellschaft entstanden neue soziale Schichten: eine immer zahlreichere Beamtenschaft und die damals sogenannten „neuen Mittelklassen“, die sich sehr schnell als zentrifugale Kräfte erweisen sollten, sowie ein territorial weniger gebundenes und daher sich sozial weniger in der Verantwortung wähnendes Patronat, das sich seitdem immer stärker von den Verpflichtungen des lokalen Sozialmodells zu befreien versucht.
Ähnlich wie ihrem Konkurrenten und wiederholten Koalitionspartner, der LSAP, gelang es der CSV nicht mehr, die gewerkschaftliche Vertretung dieser Sektoren durch ihr nahestehende Organisationen wesentlich mitzubestimmen. Wie im sozialdemokratischen Milieu wurden auch im katholischen Milieu gewerkschaftliche und politische Arbeit klarer voneinander getrennt. Die Volkspartei CSV ebenso wie die LSAP, die ab den 1980er Jahren von einer Arbeiter- zu einer Volkspartei mutierte, mussten sich ab den 1980er Jahren in einem sich stark verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld ihre Wählerschaft immer neu erkämpfen.
Beiden Parteien kamen daher die langen Großen Koalitionen zupass, die erste von 1984 bis 1999, die zweite von 2004 bis 2013. CSV und LSAP wurden sich einig, dass nur eine breitgefächerte Sozialpolitik die jeweiligen sich im Umbruch befindlichen und schwankenden politischen Klientelen festigen könnte. Der Wechselwähler wurde zum zentralen Problem der Volksparteien, deren ursprünglicher gesellschaftlicher Kern sich auflöste. Während sich die CSV unter Jacques Santer und Jean-Claude Juncker sozialdemokratisierte, versuchte die LSAP sich ab 1998 mit den gesellschaftspolitischen Themen Parität, Euthanasie, eingetragene Partnerschaft sowie Trennung von Kirche und Staat stärker vom Koalitionspartner zu differenzieren. Die LSAP fiel 1999 durch, nicht aber wegen dieser Themen, sondern weil sie als Regierungspartei traditionelle Pfeiler ihrer Wählerschaft wie die Eisenbahner, die Postbeamten, die immer zahlreicher werdenden neuen Staatsbeamten und die Gemeindebeamten im Rahmen der Pensionsreform im öffentlichen Sektor hatte enttäuschen müssen. Die CSV konnte dies wegen des ökumenischeren Zugpferdes Juncker kompensieren. Zum ersten Mal errang die DP bei den Beamten Achtungserfolge, die weiter am Wählerstamm von CSV und LSAP nagen sollten.
Nach der Sozialdemokratisierung der CSV bis 1999 erfolgte ihre beschleunigte Säkularisierung und kulturelle Liberalisierung an der Spitze und einem Teil der Basis. Schon 1979 hatte sie ihre Anpassungsfähigkeit bewiesen, als sie das Abtreibungsgesetz und die Scheidungsreform der laizistischen DP-LSAP-Regierung (1974-1979) bei ihrer Rückkehr in die Regierung nicht rückgängig machte. Sie trug 2004 mit der DP das Gesetz zur eingetragenen Partnerschaft mit, das LSAP und Grüne ablehnten, weil sie die „Homo-Ehe“ – wie die „Ehe für alle“ damals hieß – forderten. Sie ermöglichte 2009 die Legalisierung der Euthanasie, als sie deren Befürwortung zur Gewissensfrage jedes einzelnen Abgeordneten erklärte. 2014 machte sie einen weiteren Schritt in Richtung Anpassung an die moralischen Vorstellungen der Mehrheit der Bürger, als sie, obschon in der Opposition, quasi einstimmig für die Ehe für alle stimmte. Die Gesetze zur Trennung von Kirche und Staat lehnte die CSV 2016 zwar ab, doch weniger aus einer grundsätzlichen Opposition heraus, als aus formalen Gründen und kontextuellen politischen Vorbehalten. Niemand in der CSV kam mehr auf die Idee, sich für eine Kirche ins Zeug zu legen, die selbst nicht mehr für das kämpfte, was zahlreiche Gläubige noch für deren ureigene Sache hielten.
Auch die Entfremdung des Luxemburger Worts von der CSV nahm ab Beginn des Jahrhunderts eine prägnantere Form an. Die Zeitung, die bis 2012 einen ziemlich konservativen innenpolitischen Kurs verfolgte, unterstützte die Partei nicht mehr so wie früher. Nach einer rein journalistischen und von Politik und Kirche quasi unabhängigen Episode versuchte ein Kreis einflussreicher ordoliberaler Männer die Zeitung 2017 wieder auf einen strammen wertkonservativen und wirtschaftsliberalen Kurs zu bringen. Im Frühling 2020 verkauften sie als Lafayette S.A. das Medienhaus Saint-Paul mitsamt Wort an den flämischen ebenfalls ordoliberalen Verleger Mediahuis, der schon im September knallhart mit dessen Restrukturierung begann.
Ein wesentlicher interner Aspekt der CSV-Krise ist, dass unter Jean-Claude Juncker das System der Kooptierung der Nachwuchs- und Führungskräfte ins Stocken geriet. Der „Chef“, selbst ein Produkt dieses Systems, das sich historisch bewährt hatte, hatte alle seine potenziellen Nachfolger entweder verbrannt oder in die Wüste geschickt, wenn sie nicht schon vorher von sich aus aufgegeben und meist erfolgreich eine andere Karriere eingeschlagen hatten. Zudem vereinnahmten ihn seine europäischen Verpflichtungen an der Spitze der Euro-Gruppe, besonders ab der Finanzkrise von 2008, dermaßen, dass er seine glückliche Hand in der luxemburgischen Tagespolitik verlor, was ihn zuletzt den Posten kostete. Von Juncker kam daher auch keinerlei Input mehr in Richtung Programmatik und Zukunft der eigenen Partei. Die musste ohne „Kronprinz“ oder „Kronprinzessin“ auskommen, weil es irgendwann auch keinen Kreis von Parteigranden und anderen einflussreichen Persönlichkeiten mehr um Juncker gab, der vernünftig und verantwortungsbewusst miteinander hätte umgehen können, um einen solchen Auswahl- und Aufbauprozess einer Juncker-Nachfolge mit hohem Zukunftspotenzial einzuleiten und zu entscheiden. Im Schatten des „Chefs“ trocknete die CSV-Führung aus.
Der wirtschaftsliberale Flügel der CSV erlangte nach der ersten Wahlschlappe 2013, besonders nach Junckers Abgang 2014 nach Brüssel, in der parlamentarischen Fraktion die Oberhand. Die CSV stand nun immer weniger für eine Gesellschaftspolitik, die jedermann in Luxemburg einen ihm angemessenen Platz sichern sollte. Als Oppositionspartei, die wegen ihrer tief verwurzelten Hemmungen, wenn es um Grundeigentum geht, selbst zur Zuspitzung der immer bedrückenderen Wohnungsfrage beigetragen hat, konzentrierte sie sich nach ihrem Machtverlust 2013 vornehmlich auf die in Bedrängnis geratenen luxemburgischen Mittelschichten, deren als angestammt wahrgenommener Platz in der Gesellschaft alles andere als noch selbstverständlich ist. Dass sie damit aufhörte, Volkspartei zu sein, und nur noch eine Partei von angeschlagenen Platzhaltern, dürfte maßgeblich zu ihrer erneuten Niederlage 2018 beigetragen haben. Das hat wiederum die Mehrheit der 21 Abgeordneten der CSV von 2018 nicht davon abgehalten, ihren Kurs weiter zu verfolgen, der notwendigerweise zur Schrumpfung der Strahlkraft, Autorität und des Wählerpotenzials ihrer Partei führen muss.
Erbe wovon?
Ohne selbst über ein politisches Mandat zu verfügen, wurde Frank Engel in einer solch verfahrenen Situation im Januar 2019 mit einer äußerst knappen Mehrheit gegen den schwachen, durch und durch liberalen Wunschkandidaten des parlamentarischen Establishments, Serge Wilmes, zum Parteivorsitzenden gewählt. Solche Kampfabstimmungen hatte es schon früher in der CSV gegeben. Dass Wilmes sich aber in der Öffentlichkeit als ein Fremdschämen auslösender schlechter Verlierer offenbaren sollte, wurde als eine Manifestation des politischen Sittenzerfalls innerhalb der CSV wahrgenommen. Engels knappe Mehrheit war, gemessen am Maßstab eines auf Zurückhaltung getrimmten CSV-Mitglieds, das untrügliche Zeichen für ein wildes Aufbegehren eines Teils der Basis gegen die Parteigranden, die es seit 2013 vermasselt hatten. In Frank Engels Rhetorik vernahm sie noch Spuren dessen, was ihre stolze Volkspartei einst ausgemacht hatte.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Zusammenarbeit zwischen Parteipräsident und Fraktion inzwischen einen Tiefpunkt erreicht hat. In seinem Gespräch mit Christoph Bumb, das der Auslöser der neuen Steuerdebatte war, und das ihn in die Bredouille brachte, will Engel das aber ganz anders sehen: „Ich kann mich nicht erinnern, dass in der CSV ein liberaler Flügel, der das Soziale als untergeordneten Politikbereich aufgefasst hat, jemals in der Mehrheit gewesen wäre.“ Das mag für die Parteibasis gelten, nicht aber für die Fraktion. Frank Engel ist Vorsitzender einer CSV, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist: ohne breiten Rückhalt in einer ihr affinen société civile, ohne Doktrin, ohne sie auszeichnende Stoßrichtung, ohne das lebenswichtige konvergente Agieren von Fraktion und Partei, ohne breit aufgestellte Führung und ein bewährtes System, um sie zu erneuern, ohne eine inklusive Vision, ganz auf die Erhaltung der Errungenschaften der sozial angeschlagenen luxemburgischen Mittelschichten zentriert und dennoch, contradictio in terminis, im Parlament mehrheitlich offen ordoliberal finanzplatzhörig.
Die zerbröckelnde CSV hat aufgehört, eine Volkspartei zu sein. Was aus ihr werden wird, liegt nicht in der Hand ihres geschwächten Vorsitzenden, sondern hängt vom Ausgang der Debatte über Steuern und Gerechtigkeit ab, die Engel mit hohem Risiko für sich und seine Partei ausgelöst hat. Sie bietet seiner historischen Volkspartei und der Sozialdemokratie, die sich ebenfalls in einer existenziellen Krise befindet, rein theoretisch eine Gelegenheit, sich aus der Logik ihrer jeweiligen Historien heraus glaubhaft neu zu positionieren. Mit welchem Personal, mit welchem Antrieb? Das steht auf einem anderen Blatt. Geschieht dies nicht, wird die politische Landschaft Luxemburgs sich tiefgreifend verändern, und zwar in Richtung einer unangefochtenen Vorherrschaft von Liberalen aller Couleur, schwarz und rot inklusive, denen alles gleich gültig ist. Ein Luxemburger Albtraum, denn dann könnte auch die gesellschaftliche Mitte schnell am Rande stehen.
- https://www.reporter.lu/richtungsstreit-um-steuerpolitik-csv-parteichef-will-reichtum-staerker-besteuern/ (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 22. September 2020 aufgerufen).
- https://www.rtl.lu/radio/invite-vun-der-redaktioun/a/1570069.html
- https://csv.lu/2020/09/04/den-csv-parteipresident-frank-engel-zu-gast-im-land/
- „Viele Einwohner Luxemburgs gewinnen den Eindruck, sie seien in ihrem eigenen Land nicht mehr erwünscht— rund 12 000 Grenzgänger sind mittlerweile arbeitende Luxemburger, die jenseits der Landesgrenzen leben, weil sie sich das Wohnen hier nicht mehr leisten können, und ihre Zahl nimmt drastisch zu. Diese Menschen, und viele andere, die ebenfalls hierzulande an Wohnungsfragen verzweifeln, stellen sich und der Politik die Frage, ob es noch Leistungsgerechtigkeit in Luxemburg gibt.“ Siehe Anm. 3.
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