- Medien
Die Lignes éditoriales der luxemburgischen Medien
Ende Januar organisierte forum eine Diskussionsveranstaltung zur aktuellen Situation von Journalismus und Pressefreiheit in Luxemburg. Aufhänger war der Konflikt um die journalistische Unabhängigkeit bei radio 100,7, der im letzten Jahr zwischen Redaktion und Direktion bzw. Verwaltungsrat hochgekocht war. Ausgiebig wurde an dem Abend auch über die Bedeutung der Lignes éditoriales (redaktionelle Ausrichtung) gesprochen, die das luxemburgische Medienrecht vorsieht, um Journalist_innen und Redakteur_innen eine gewisse Sicherheit in Bezug auf die Beständigkeit der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Medien zu gewähren. Doch nur wenige Medien verfügen überhaupt über eine solche Ligne éditoriale.
Im Mediengesetz vom 8. Juni 2004 (Fassung vom 30. April 2010)1 wird in den Artikeln 3, 5 und 64 Bezug auf die Lignes éditoriales genommen. Art. 5 sieht vor, dass ein_e Journalist_in von sich aus kündigen kann, sollte sich die Ligne éditoriale tiefgreifend ändern, und dass sie oder er danach Anspruch auf Arbeitslosenhilfe geltend machen kann (was einmalig im Arbeitsrecht ist, wo ansonsten gilt, dass dieser Anspruch entfällt, wenn Arbeitnehmer_innen von sich aus das Arbeitsverhältnis kündigen).2 Wichtig wird so eine Regelung, wenn etwa im Falle eines Eigentümerwechsels oder einer Änderung in der Zusammensetzung des Verwaltungsrats sich die redaktionelle Linie grundlegend und in einer Weise wandelt, die einzelne Mitarbeiter_innen oder ganze Redaktionen nicht mittragen können oder wollen.
Dahinter steht die generelle Überlegung, dass Journalist_innen nicht gezwungen werden dürfen, gegen ihre eigenen Überzeugungen zu schreiben. Das französische Recht hatte schon 1935 eine Gewissensklausel für Journalist_innen eingeführt im Falle eines „changement notable dans le caractère ou l’orientation du journal“ (Loi Brachard zum Statut des Berufsjournalisten), ohne dabei jedoch den Begriff der Ligne éditoriale einzuführen. Heute liegt in Europa der Fokus eher auf dem Schutz der Redaktionen vor dem Einfluss Dritter (Anzeigenkunden, Investoren…). Darüber hinaus wurde 2016 in Frankreich ein Widerstandsrecht gegen Entscheidungen von Chefredaktion und Verleger (droit de refus) eingeführt, um die Unabhängigkeit der einzelnen Journalist_innen auch gegenüber ihrer eigenen Hierarchie zu schützen.
In Art. 64 des Luxemburger Gesetzes von 2004 heißt es weiter: „La ligne éditoriale d’une publication périodique peut être publiée par l’éditeur.“ Daraus möchte man schließen, dass eine Ligne éditoriale vorliegen sollte, auch wenn sie unter Verschluss bleiben kann, ansonsten der Satz eigentlich keinen Sinn macht. Tatsächlich wird aber in den Kommentaren zum Gesetzesentwurf3 darauf hingewiesen, dass die Existenz einer schriftlich festgelegten Redaktions- oder Verlagslinie keineswegs obligatorisch ist. Unter dem Stichwort Définitions bestimmt Art. 3, Abs. 7 des Gesetzes dann die Ligne éditoriale folgendermaßen: „ensemble des principes généraux du traitement de l’information dans le domaine culturel, économique, idéologique, moral, politique et social déterminé par l’éditeur.“
Ein Missverständnis oder eine Lösung à la luxembourgeoise?
Als Premier- und Medienminister Jean-Claude Juncker 2002 einen Entwurf4 für ein „modernes Pressegesetz für das 21. Jahrhundert“ vorlegte, das Presserat und Journalistenverbände bei ungezählten Neujahrsempfängen mit Beharrlichkeit gefordert hatten, war die vorgenannte Definition der Ligne éditoriale weitgehend unumstritten, was auch daraus ersichtlich wird, dass sie den gesamten Gesetzgebungsprozess bis zum fertigen Produkt, dem Gesetz vom 8. Juni 2004, unbeschadet durchlief. Angesichts der Tatsache, dass die analoge Luxemburger Presselandschaft des 20. Jahrhunderts sehr übersichtlich und – sieht man mal von RTL und der damaligen Lokalausgabe des Républicain lorrain ab – politisch und ideologisch klar verortet war, ist das nicht weiter verwunderlich. Vor allem die vier Tageszeitungen Luxemburger Wort, Tageblatt, Journal und Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek dienten, offiziell oder de facto, als Sprachrohr der ihnen jeweils nahestehenden politischen Partei. Die einzelnen Blätter reflektierten jeweils eine soziologische Säule der jahrzehntelang stabilen, in dieser Form aber zusehends zerbröckelnden Luxemburger Gesellschaft.
Vom medienrechtlichen Ansatz her liegt die Definition der Ligne éditoriale in Art. 3, Abs. 7 auf einer Linie mit der Rechtslage, wie sie in freiheitlichen Demokratien üblich ist. Allerdings mit zwei Fragezeichen versehen. Zum einen wird hier von „traitement de l’information“ gesprochen, was in dem Sinne irreführend ist, als die Ligne éditoriale weit weniger das handwerkliche Aufbereiten objektiver Fakten (Informationspflicht) meint als vielmehr die Äußerung und Verbreitung subjektiver Meinungen in Form von Leitartikeln, Kommentaren oder Glossen (in Deutschland spricht man von Tendenzrecht, in Österreich von der Blattlinie). Zum anderen sieht das Luxemburger Gesetz ausdrücklich vor, dass der Herausgeber („éditeur“) für die Formulierung der Ligne éditoriale zuständig ist, wohingegen diese zumindest nach französischem Rechtsverständnis in Zusammenarbeit mit der Redaktion entstehen sollte.
Unterschieden wird in Luxemburg die inhaltliche Ligne éditoriale von den eher praktischen Vorgaben der verlegerischen Arbeit, die „direction éditoriale“ genannt wird (und auch entsprechend in Gesetzesartikel 3, Abs. 3 aufgeführt ist). Dort geht es um die Fragen, wie ein Medium präsentiert wird, welche Zielgruppen am Markt angesprochen werden, wie man sich digital weiterentwickelt oder wie man inhaltlich relevant, ästhetisch ansprechend und am Ende wirtschaftlich erfolgreich bleibt – alles Punkte, die natürlich in die Kompetenz der Verlagsleitung fallen. Der Staatsrat machte in seinem Gutachten5 zum Gesetzesentwurf ausdrücklich auf den Unterschied zwischen beiden Begriffen aufmerksam.
Im Entwurf von 2002 war vorgesehen, dass eine Publikation, die über eine Ligne éditoriale verfügt, diese einmal im Jahr veröffentlichen müsse (Art. 74: „La ligne éditoriale d’une publication périodique est publiée une fois par an, par l’éditeur, dans le premier numéro diffusé ou la première livraison réalisée dans l’année.“).6 Daran störte sich aber vor allem der Staatsrat, der auf den Begriff am liebsten verzichtet hätte. Ein Argument der Hohen Körperschaft wirkt dabei aus heutiger Perspektive besonders bizarr: „Ne faut-il pas reconnaître enfin que la ligne éditoriale des publications périodiques paraissant au Grand-Duché de Luxembourg est déjà suffisamment connue et que rares devraient donc être les lecteurs et – à plus forte raison – les collaborateurs qui s’y tromperaient encore?“7
Am Ende machte der Gesetzgeber aus der Muss- eine Kann-Bestimmung. Sofern es eine Ligne éditoriale gibt, „kann“ der Verlag sie der Öffentlichkeit zugänglich machen. Nichts weniger als salomonisch.
Umsetzung: eher nicht
Welche Form nehmen die in Art. 3, Abs. 7 des Mediengesetzes aufgezählten „Prinzipien“ an und welche Inhalte finden sich darin? Muss es überhaupt ein Dokument sein, das ausdrücklich die Bezeichnung Ligne éditoriale trägt, oder würde es auch eine Selbstdarstellung tun? Und warum nicht einfach ein Untertitel – etwa in der Art: „Für Wahrheit und Recht“? Müsste der frisch angestellten Journalistin die Ligne éditoriale vorgelegt werden (wenn sie denn existiert), damit sie sich im Konfliktfall darauf berufen kann? Nur die wenigsten der beim public forum anwesenden Journalist_innen waren einem solchen Dokument in ihrem jeweiligen Haus schon begegnet oder konnten dessen konkrete Bedeutung einschätzen. Die Ratlosigkeit war dementsprechend groß und wir nahmen uns vor, einmal nachzubohren.
Eine Anfrage beim Presserat ergab, dass die Medienhäuser ihre Lignes éditoriales, wenn sie denn eine haben, nicht zentral hinterlegt haben. Also wandten wir uns einzeln an die Herausgeber_innen der Luxemburger Tagespresse, der Wochenzeitungen woxx und d’Lëtzebuerger Land, sowie an die Direktionen von Maison Moderne, radio 100,7, RTL Radio Lëtzebuerg und RTL Télé Lëtzebuerg mit der Frage, ob es eine Ligne éditoriale gäbe, ob diese öffentlich sei und ob wir sie im Zweifel abdrucken dürften.
Keine Antwort erhielten wir von der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek. Die marxistisch-leninistische Orientierung der Zeitung darf aber durch ihre weiterhin bestehende (auch personelle) Verflechtung mit der Kommunistischen Partei vorausgesetzt werden. Sollte sich das Blatt eines Tages eine womöglich sozialdemokratische Ausrichtung geben, hätten die Zeitung-Journalist_innen ohne Zweifel einen von der ADEM anzuerkennenden Kündigungsgrund.
Auch der Geschäftsführer des Lëtzebuerger Land meldete sich nicht auf unseren Brief. Zugetragen wurde uns, dass es bei dem Wochenblatt einmal den Ansatz einer Ligne éditoriale gab, jüngere Journalist_innen bei ihrer Einstellung jedoch nicht mehr damit konfrontiert werden. Das Land ist insofern ein interessanter Fall, als die vormalige „Arbed-Zeitung“ in jüngerer Vergangenheit einen Wandel in ihrer Redaktionslinie erlebte – von wirtschaftsfreundlichen Positionen hin zu einer dezidiert linken Analyse. In Ermangelung einer ausformulierten Blattlinie führten Einstellungspolitik und Personalentscheidungen dazu, dass sich das Land heute eindeutig im linken Meinungsspektrum verorten lässt, sodass die im Untertitel versprochene Unabhängigkeit sich nicht nur auf politische Parteien, Gewerkschaften und die Kirche, sondern auch auf Anzeigenkund_innen und Industriellenverband bezieht.
Selbstdarstellung anstelle einer Ligne éditoriale
Drei Verlage haben auf unsere Anfrage hin auf Selbstdarstellungen verwiesen. Richard Graf, Gérant (ff) der von einer Kooperative herausgegebenen woxx, ließ uns wissen, dass die „andere“ Wochenzeitung im Vorfeld der Ausarbeitung des aktuellen Mediengesetzes grundsätzliche Bedenken gegen das Konzept der Ligne éditoriale vorgebracht hatte. Nach Inkrafttreten des Gesetzes verwies die woxx auf ihre Selbstdarstellung, die sie als „linke, gesellschaftskritische Wochenzeitung“ mit „kritischer Berichterstattung“ und „skeptischem Blick“ definiert8, diese Eigendefinition würde faktisch einer Ligne éditoriale gleichkommen. Demgegenüber – so die unveränderte Position der woxx – würde eine regelrechte Ligne éditoriale, wie sie im Gesetz angedacht sei, bei einem selbstverwalteten Redaktionskollektiv keinen Sinn ergeben, da die Journalist_innen sozusagen identisch mit den Herausgeber_innen sind. Etwaige Neuorientierungen würden vom Kollektiv selbst bestimmt.
Christoph Bumb, Geschäftsführer, Chefredakteur und Mehrheitseigner bei Reporter, dem Online-Projekt für „investigativen Journalismus“ in Luxemburg, verweist auf das hauseigene „Manifest“, das zu Beginn des Projekts im Rahmen des Crowdfundings entstanden war („Wir wollen einen Journalismus, der sich auf das Wesentliche und das Wichtige konzentriert. Ohne Schnickschnack, ohne Arroganz, ohne politische Agenda…“).9 Dieses Manifest lege, so Bumb, „das journalistische Verständnis und damit die konzeptuellen Leitlinien der Redaktion fest, ohne eine inhaltliche oder ideologische Richtung vorzugeben“. Der Text ist ehrgeizig formuliert und bietet sowohl den Abonnent_innen als auch den Journalist_innen Kriterien, an denen sich die Entwicklung des Projekts messen lässt.
Keine Ligne éditoriale, dafür aber eine Erläuterung erhielten wir vom Direktor des Lëtzebuerger Journal. Das Journal sei geprägt von liberalen Werten wie Freiheit und Toleranz und offen für alle Weltanschauungen, insofern sie nicht gegen das Strafgesetzbuch verstoßen. Auf diese Werte, auf das Pressegesetz sowie auf den Deontologiekodex des Presserates werde bei Einstellungsgesprächen ausdrücklich verwiesen – so Claude Karger, der in Personalunion Direktor und Chefredakteur ist und damit sowohl die Redaktion als auch die Interessen der Herausgeber_innen vertreten muss. Der zuerst überraschend wirkende Hinweis auf die Bedeutung des Strafgesetzbuches ist dabei durchaus ernst zu nehmen. So musste Kargers Vorgänger Rob Roemen bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehen, um sich einer Klage von Innenminister Michel Wolter zu erwehren. Der Rechtsstreit, der sich über die Jahre 1998 bis 2003 hinzog, führte am Ende dazu, dass der Gesetzgeber das Presserecht an internationale Standards anpasste.10
Von Saint-Paul zu Editpress und weiter zu Maison Moderne
Der Generaldirektor von Editpress (der auch die Position des Co-Chefredakteurs beim Tageblatt innehat) ließ uns in knappen Worten wissen, dass das Tageblatt nicht über eine schriftlich festgehaltene Ligne éditoriale verfüge. Zu anderen Produkten des Hauses (u. a. Le Quotidien) könne er keine Angaben machen, denn diese würden redaktionell unabhängig voneinander arbeiten. Die komplizierten Überkreuzbeteiligungen bei Editpress lassen es durchaus möglich erscheinen, dass der Generaldirektor von Editpress in dieser Frage der falsche Ansprechpartner ist.
Es gibt aber auch eine Vorgeschichte: Jean-Lou Siweck hatte wenige Wochen, nachdem er 2013 beim Luxemburger Wort in der Funktion des Chefredakteurs angefangen hatte, eine Ligne éditoriale ausgearbeitet, die vom Verwaltungsrat von Saint-Paul bestätigt und im Wort im Januar 2014 publiziert worden war. Dieser wirklich schöne Text11 führt ausdrücklich die katholische Soziallehre an und endet mit dem Hinweis, dass die „Redaktion (…) sich jegliche Einflussnahme Dritter auf den redaktionellen Inhalt ihrer Publikationen verbietet“ (statt verbittet) – ein Satz, der möglicherweise die anschließende und teilweise überbordende Experimentierfreude seiner damaligen Kollegen begründete. Diese Ligne éditoriale hat bis heute für alle Produkte von Saint-Paul Geltung, wie uns Generaldirektor Paul Peckels bestätigte, und soll entsprechend der Ankündigung auch nach der Übernahme von Saint-Paul durch den belgischen Konzern Mediahuis weiter Bestand haben.
Unstimmigkeiten mit dem neuen Vorsitzenden des Saint-Paul-Verwaltungsrats Luc Frieden über die Auslegung des Textes führten im September 2017 dazu, dass Jean-Lou Siweck (nach vorherigen Stationen beim Lëtzebuerger Land, im Generalsekretariat der BGL, dem Quotidien, erneut dem Land und schließlich im Staatsministerium) beim Luxemburger Wort seinen Hut nahm und zurück ins Staatsministerium ging, wo er sich unter Xavier Bettel um die Reform der Pressehilfe kümmern sollte. Dort blieb er nur wenige Monate, um sich danach bei Editpress unter anderem derselben Aufgabe zu widmen.
Dieser Berufsweg ist für unser Thema insofern interessant, als Siweck 2014 beim Luxemburger Wort ganz offensichtlich die Aushandlung einer Ligne éditoriale für ein starkes Zeichen erachtete, um seine Unabhängigkeit gegenüber dem Eigentümer (dem Bistum) zu betonen, während er bei Editpress als Generaldirektor (und als Co-Chefredakteur des Tageblatt) gegenüber dem dortigen Eigentümer OGBL/LAV auf diesen Schritt verzichtete.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: Die Erfahrung im Wort könnte Siweck gezeigt haben, dass selbst schriftliche Absichtserklärungen keinen hinreichenden Schutz darstellen. Gut möglich aber auch, dass auf Seiten von Editpress eine ausformulierte Blattlinie nie zur Diskussion stand, da dort Verwaltungsrat und Eigentümer schon immer daran gewohnt waren, ins Redaktionsgeschäft einzugreifen (was André Heiderscheid und Léon Zeches im Wort zu verhindern wussten).
Noch ein Detail: Nicht als aktueller Generaldirektor, jedoch als ehemaliger Journalist beim Quotidien erinnert sich Jean-Lou Siweck vielleicht noch daran, dass die zur Editpress-Gruppe gehörende, französischsprachige Tageszeitung in ihren Anfangsjahren über eine eigene Ligne éditoriale verfügte, die deren erster Direktor Victor Weitzel etabliert hatte. Wir wissen nicht, ob sie zurückgezogen oder ersetzt wurde, denn Le Quotidien hat nicht auf unsere, dann noch einmal gesondert abgesandte Anfrage geantwortet. Fabien Grasser, der vor wenigen Monaten im Quotidien zuerst als Chefredakteur und anschließend als Journalist aufhören musste, hat sich jedenfalls im Konflikt mit seinem Arbeitgeber nicht auf ein solches Dokument berufen.
Mike Koedinger, Präsident des Verwaltungsrates, CEO und Eigentümer von Maison Moderne, Herausgeber von Paperjam und Delano und nach eigener Darstellung „première entreprise média indépendante du Luxembourg“, schickte uns einen Link zur wohlabgewogenen Ligne éditoriale des Verlags, die online im Impressum veröffentlicht ist.12 Sie erinnert an eine milde Version der Redaktionslinie des Economist – ein bisschen libertär und ein bisschen staatstragend. Doch ein Schuh bzw. eine Handlungsanweisung für Journalist_innen wird wahrscheinlich erst dann daraus, wenn man den letzten Punkt aus dem Mission-Statement mitliest. Dort steht als Ziel von Maison Moderne: „S’assurer une rentabilité pour garantir l’indépendance“. Dieses Ziel dürfte die sehr kommerzielle Unternehmenskultur von Maison Moderne mindestens genauso prägen wie der Text der Ligne éditoriale.
Inhaltliche Ausrichtung und öffentlicher Auftrag
Leider erhielten wir auch von radio 100,7 keine Nachricht auf unsere Anfrage. Das Cahier des charges, in dem die Regierung zuletzt 2016 den Rahmen für die Arbeit des sozio-kulturellen Radios festgeschrieben hatte, ist glücklicherweise seit ein paar Monaten online zugänglich – allerdings muss man den entsprechenden Link erst einmal finden.13
In diesem Dokument findet sich der Hinweis: „Les émmissions et programmes qui composent le service de radio sont élaborés en toute indépendance éditoriale“. Es folgen Richtlinien, die insbesondere die Ausgewogenheit des journalistischen Angebots betreffen: „Sur le plan d’information [les programmes] donneront une représentation équilibrée, impartiale et indépendante de l’actualité politique, économique, sociale et culturelle.“ Auch Pluralität und Komplexität der Luxemburger Realitäten sollen in der Berichterstattung adäquat Berücksichtigung finden.
Im Vorfeld der anstehenden Parlamentsdebatte über die Zukunft und Reform von radio 100,7 plädierten Verwaltungsrat, Direktion und Redaktion in einer auf den 9. März datierten gemeinsamen Stellungnahme14 für ein eigenes Gesetz, das u. a. die Mission, die gouvernance und die Richtlinien der journalistischen Arbeit des Radios abdecken soll. Eine Ligne éditoriale im engeren Sinne einer politischen Positionierung dürfte jedoch in diesem öffentlich-rechtlichen Rahmen nur in engen Grenzen vorstellbar sein.
Für Pia Oppel, stellvertretende Chefredakteurin, wäre es trotzdem wichtig, zentrale editoriale Leitlinien des öffentlich-rechtlichen Auftrags im Gesetz zu verankern.15 Zusätzlich müsste ein Redaktionskonzept die handwerklichen Standards einer pluralistischen Berichterstattung im Allgemeininteresse garantieren, und diese Standards müssten wiederum einer externen Evaluierung unterliegen. Das bestehende Redaktionskonzept ist der Öffentlichkeit übrigens immer noch nicht zugänglich.
Schließlich haben wir auch nichts von der RTL-Direktion gehört. Der Bertelsmann-Ableger in Luxemburg hat sich nach dem journalistischen GAU der Lunghi-Affäre zwar offenbar eine neue gouvernance gegeben, doch ob diese die Ansprüche an eine Ligne éditoriale, wie sie der Gesetzgeber versteht, erfüllt, können wir von hier aus nicht beurteilen. Spätestens wenn RTL in Luxemburg wie vorgesehen bald bis zu zehn Millionen Euro für die Erfüllung einer Mission de service public erhält, wäre es angemessen, die redaktionellen Leitlinien, nach denen die RTL-Journalist_innen in Luxemburg arbeiten (nicht zu verwechseln mit dem Code of Conduct des Mutterkonzerns), der Öffentlichkeit mitzuteilen (mehr dazu in diesem Heft im Beitrag von Romain Kohn).
Am Ende verzichtbar?
Zusammenfassend darf man unterstellen, dass das vom Gesetzgeber reichlich unglücklich ins Mediengesetz eingeschriebene Instrument der Ligne éditoriale – gedacht, um den Journalist_innen eine arbeitsrechtliche Sicherheit im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung ihrer Medienhäuser zu gewähren – gescheitert ist. Jene, die damit experimentiert haben, sind davon abgekommen, andere interpretieren das Konzept großzügig, die meisten ignorieren es. Den Journalist_innen kann die Ligne éditoriale alleine keine Sicherheit bieten, und der latente Konflikt, wer – Redaktion oder Herausgeber_in – am Ursprung der Ligne éditoriale steht und wer darüber hinaus über die Deutungsmacht verfügt, bleibt weiter ungelöst.
Daraus jedoch zu folgern, dass unsere Medien sich den Aufwand, eine redaktionelle Ausrichtung zu formulieren, auch in Zukunft und auf Dauer sparen könnten, greift zu kurz. Auch wenn die Gesinnungstäter unter den Journalist_innen und Verleger_innen rar werden, die Leser_innen wollen mehr denn je wissen, was die Informationsanbieter, denen sie ihr Vertrauen schenken, im Kern antreibt.
PS: Gerne veröffentlichen wir in einer kommenden Ausgabe Korrekturen oder Präzisierungen zu diesem Text. Herausgeber_innen und Chefredakteur_innen, die darüber hinaus mit Gastbeiträgen die hier nur andiskutierten Fragen vertiefen möchten, sind herzlich eingeladen, sich bei forum zu melden.
„Die Medien von Saint-Paul Luxembourg S.A. wollen durch Information zum Funktionieren einer demokratischen, toleranten, geeinten und gerechten Gesellschaft im Respekt der luxemburgischen Verfassungsordnung beitragen. Sie begleiten wohlwollend das europäische Aufbauwerk sowie alle nationalen und internationalen Bemühungen um Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Die Medien von Saint-Paul Luxemburg berufen sich auf den Humanismus und die Grundwerte des Christentums, insbesondere die katholische Soziallehre. (…)“
La Ligne éditoriale de Maison Moderne
- Maison Moderne est un éditeur indépendant qui ne sert aucun intérêt partisan, politique, syndical ou religieux;
- Attaché à la modernisation et au rayonnement international du Luxembourg, il porte un regard affûté, constructif et ouvert sur les enjeux nationaux, comme sur la vie des affaires. Il se fait l’écho de ses succès, mais sait aussi se montrer critique sur ses errements, ses échecs, ou ses excès;
- Sa ligne éditoriale est résolument démocrate, européenne, libérale sur un plan économique et sociétal. Elle ne s’inscrit ni dans la révolution ni dans la conservation, mais se place énergiquement dans le camp du progrès et de ses avancées.
Die Ligne éditoriale der forum asbl
„forum bietet einen öffentlichen Raum, in dem sowohl junge als auch etablierte, professionelle und nicht-professionelle, akademische und nicht-akademische Stimmen ihren Platz finden. (…)
forum verfolgt das Ziel, die Veränderungen der luxemburgischen Gesellschaft kritisch zu begleiten und verständlich zu machen. Politische Bildung und politische Debatte gehen dabei Hand in Hand.
Die Zeitschrift ist politisch unabhängig, der Ansatz ist offen und engagiert. Es gibt keine selbstauferlegte Verpflichtung zu irgendeiner wissenschaftlichen Objektivität oder politischen Neutralität – hingegen wohl zu intellektueller Ehrlichkeit.“
- Memorial A Nr. 69 vom 30. April 2010.
- „En cas de changement fondamental de la ligne éditoriale, le ‚journaliste professionnel‘ dont la conviction ou conscience personnelle est incompatible avec la nouvelle ligne éditoriale peut rompre le contrat de travail qui le lie à l’éditeur, sans être tenu le cas échéant au préavis. Cette rupture du contrat de travail ne saurait être opposée au ‚journaliste professionnel‘ pour le priver du bénéfice des indemnités de chômage complet (…).“ (ebd.)
- „L’éditeur d’une publication ne peut pas être contraint de s’imposer une ligne éditoriale et un concept réunissant des contributions hétéroclites est tout à fait imaginable et réalisable.“ (Projet de loi sur la liberté d’expression dans les médias, Dépôt (5.2.2002), Doc. parl. no 4910, 21. Februar 2002. Commentaire des articles, S. 62).
- Projet de loi sur la liberté d’expression dans les médias, Dépôt (5.2.2002), Doc. parl. no 4910, 21. Februar 2002.
- Projet de loi sur la liberté d’expression dans les médias, Avis du Conseil d’Etat (3.6.2003), Doc. parl. no 49107, 17. Juni 2003.
- Ebd., S. 14.
- Ebd., S. 18.
- https://www.woxx.lu/dei-aner-wochenzeitung-d/ (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 3. Mai 2020 aufgerufen).
- www.reporter.lu/unser-manifest
- https://www.forum.lu/pdf/artikel/6115_265_Folscheid.pdf
- https://www.wort.lu/de/imprint
- https://www.maisonmoderne.com/about-us
- https://img.100komma7.lu/uploads/media/default/0002/06/cahier-des-charges-vum-100komma7_ee1c50.pdf
- https://img.100komma7.lu/uploads/media/default/0002/09/radio-100-7-position-service-public_e2e213.pdf
- public forum 27.1.2020 : https://www.forum.lu/public-forum-am-27-01-2020-medienfreiheit-in-luxemburg/
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
