Die Luftgängerin
Alma Piaia, eine Artistin (auch) aus Luxemburg
In den 1950er Jahren, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, feiert man sie als „Fliegenden Stern“ und „Königin der Luft“; zu ihrem Publikum zählen die Großen der Welt, etwa Mitglieder des schwedischen Königshauses. Heute hingegen ist der Name Alma Piaia nur noch Wenigen bekannt. Dokumente aus einem unlängst erschlossenen Fundus1 machen es möglich, einige Momente aus der Biografie einer Frau zu beleuchten, die zu den bedeutendsten Luftakrobatinnen ihrer Generation gehört.
Die Anfänge
Alma Vizla wird 1915 im lettischen Opekalna geboren. Über ihre Familie liegen kaum gesicherte Angaben vor; bekannt ist lediglich, dass ihr (wahrscheinlich älterer) Bruder Viktor ein erfolgreicher Fußballspieler wird. Diese Information ist bei aller Spärlichkeit nicht unwichtig, macht sie doch hellhörig für die Anfang des 20. Jahrhunderts vielerorts erstarkte Körperbewegungskultur, für die sich offenbar auch die Geschwister Vizla begeistern. Als Fünfjährige beginnt Alma eine Ballettausbildung, die sie u. a. in der Hauptstadt Riga bei Beatrise Vīgnere, einer wichtigen Vertreterin des lettischen Modernismus und ehemaligen Schülerin der legendären Isadora Duncan,2 betreibt. Bis Anfang der 1930er Jahre ist sie beim Ballett der lettischen Nationaloper tätig. Einige auf das Jahr 1931 zurückgehende Fotografien, die sie barfuß in einer kurzen Tunika zeigen, lassen überdies vermuten, dass sie auch einer Gruppe für „neuen Tanz“ angehört.
Möglicherweise verdient sie sich bereits zu diesem Zeitpunkt ein Zubrot als Ballettmädchen beim Zirkus, der seinem weiblichen Personal im Allgemeinen eine höhere Entlohnung als die meisten anderen Arbeitgeber zukommen lässt.3 Um 1933 wendet sie sich der Akrobatik zu. Nach Tätigkeit bei einigen Wanderzirkussen, etwa dem Zirkus Salamandra und dem (möglicherweise aus Schweden stammenden) The Ringa King, tritt sie ab spätestens 1938 beim renommierten Zirkus Salamonsky als Kunstreiterin auf. Das von Albert Salamonsky 1879 gegründete Zirkusunternehmen besitzt neben den Standorten Odessa und Moskau seit 1888 auch in Riga eine stationäre Spielstätte; international bekannte Artisten werden regelmäßig dorthin verpflichtet, als erste die Kunstreiterin Adele Rosaire für die Galavorstellung vom 31. Dezember 1888.
Von der Erde in die Luft
Mit dem Kunstreiten wählt Alma eine besonders traditions- und prestigereiche artistische Sparte, deren Geschichte untrennbar mit der des neuzeitlichen Zirkus verbunden ist. So geht der erste moderne Zirkus, das 1773 in London entstandene Astley’s Amphitheatre, aus einer Reit- und Dressurschule hervor. Wenige Jahre später (1782) eröffnet Charles Hughes, ein ehemaliger Mitarbeiter des Amphitheatre, die Royal Circus and Equestrian Philharmonic Academy (später Surrey Theatre). 1792/1793 wiederum gründet Hughes’ Mitarbeiter John Bill Rickets in Philadelphia den ersten Zirkus der Vereinigten Staaten. Albert Salamonsky, selbst ein prominenter Kunstreiter, verweist mit dem – heute noch vom Rīgas Cirks verwendeten – Konterfei eines Pferdes auf die herausragende Rolle dieser Disziplin für sein Unternehmen; zu den Attraktionen des Hauses gehört, wie man zeitgenössischen Bilddokumenten entnehmen kann, die mit zwölf Pferden vorgeführte Salamonsky-Polka.4 Durch die Übernahme der (bis dahin männlich besetzten) Hauptrolle in einem bekannten Hippodrama5 begründet die Schauspielerin Adah Isaacs Menken 1861 den Durchbruch von Frauen auf dem Gebiet des bareback riding. Ella Bradna, Ada Castello, Josie DeMott Robinson und May Wirth werden das weibliche Kunstreiten als artistische Unterhaltungsform schlechthin etablieren.
Ab ca. 1915 – einhergehend mit dem Niedergang der Kavallerie im Ersten Weltkrieg – verliert der Reitzirkus jedoch rasch an Popularität; zu gleicher Zeit verzeichnet die Luftakrobatik einen erheblichen Prestigezuwachs. Dazu trägt wohl nicht nur die unübersehbare Bedeutung der aufstrebenden Aviatik bei, sondern auch die während des Krieges intensivierte Nietzsche-Rezeption: So stellt die sogenannte Seiltänzer-Episode aus Also sprach Zarathustra (1883) den Seiltänzer als Konkretion des Heroischen und Bindeglied zum Übermenschen dar.6 Und tatsächlich erwecken Luftakrobatikakte, angefangen bei der Überquerung der Niagara-Fälle durch Charles Blondin 1859, den Eindruck übermenschlicher Leistung.7 Es nimmt nicht wunder, dass in diesem für die Ideale der Dynamik und Geschwindigkeit empfänglichen Klima die Futuristen rund um Filippo Tommaso Marinetti den „Salto mortale“ 1919 zu einer zentralen Metapher ihrer Bewegung erklären.8 Dies ist der kulturhistorische Kontext, in dem Alma das Kunstreiten zugunsten der Luftakrobatik aufgibt.
Hard Times
Am Zirkus Salamonsky lernt Alma, spätestens Ende 1937/Anfang 1938, den Equilibristen und Kraftmenschen Alberto Piaia kennen. Die Überlieferung will, dass der Franko-Italiener mit familiären Bindungen nach Ettelbrück im Alter von acht Jahren mit einem Wanderzirkus durchbrennt; dort erledigt er anfallende Arbeiten unentgeltlich, um dafür die artistischen Künste erlernen zu können. Ob diese Schilderung der Wirklichkeit entspricht, lässt sich nicht mehr klären; zudem ist ihr veristischer Gehalt weitgehend nebensächlich. Stattdessen ist es aufschlussreich, am Beispiel dieser Biografie festzustellen, dass der langlebige Topos vom run away and join the circus, der seit Charles Dickens’ Roman Hard Times (1854) den Zirkus als Vehikel zur Überwindung des Alltags und der Erschließung neuer Wirkungsbereiche perspektiviert, seine Attraktivität bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beibehält.9 Mit etwa vierzehn Jahren stößt Alberto in Berlin zum altbekannten Zirkus Althoff und debütiert mit einem Balanceakt. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt er eine intensive Tourneetätigkeit durch Italien, Österreich, die Tschechoslowakei und Deutschland, wo er in renommierten Varieté- und Vergnügungshäusern wie dem Deutschen Theater (München), dem Hansa-Theater (Hamburg), dem Apollotheater (Nürnberg) oder dem Leipziger Krystallpalast auftritt. Bekanntheit erlangt er vor allem mit sogenannten iron jaw-Nummern, bei denen er, um nur ein Beispiel zu nennen, seine Partnerin auf einer mehrere Meter hohen Leiter balanciert, die er mit den Zähnen festhält. Wahrscheinlich führt er auch am Zirkus Salamonsky eine derartige Nummer vor.
Almas und Albertos Tätigkeit bleibt bis Anfang 1939 schwer fassbar. Wie man einer im Nationalarchiv Luxemburg aufbewahrten Fremdenpolizeiakte entnehmen kann, trifft Alma nach vorherigen Aufenthalten in Basel, Nizza und Cannes am 6. Januar 1939 im Großherzogtum ein, um ein zweiwöchiges Engagement in dem für künstlerische Darbietungen bekannten Veranstaltungsraum des hauptstädtischen Hotels Alfa anzutreten; anschließend reist sie weiter nach Magdeburg.10 Im späteren Verlauf des Jahres begeben sich sowohl Alma wie auch Alberto nach Schweden; dort heiraten sie am 11. November 1939 in Malmö. In Skandinavien erleben sie vermutlich auch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Das überlieferte Goldene Buch der beiden Artisten gibt, wenn auch unvollständig, Auskunft über ihre Aktivitäten während des Zeitraums Mai 1940 bis Juni 1946. Demnach treten sie im Laufe des Jahres 1940 wiederholt im Protektorat Böhmen und Mähren auf, etwa in Prag, Brünn und Ostava. Ab 1941 halten sie sich überwiegend in Dänemark und Norwegen, zeitweise auch in Schweden auf, absolvieren jedoch, vermehrt Ende 1941/Anfang 1942, auch Auftritte in Deutschland, z. B. in Berlin, Leipzig, Cottbus oder Dresden. Im Januar 1943 gastieren sie im besetzten Straßburg. Es fällt somit auf, dass sie (mit Ausnahme des nominell neutralen Schweden) die Kriegszeit ausschließlich im (Einfluss-)Bereich des Dritten Reiches verbringen. Über ihre Einstellung zum Nationalsozialismus ist nichts bekannt; neue Forschungsergebnisse betonen indes die ambivalente Lage des Zirkus während der NS-Herrschaft: So macht sich das Hitler-Regime einerseits das propagandistische Potenzial dieses Mediums zunutze, insbesondere zur massenwirksamen Verbreitung des Ideologems einer rassisch-körperlich begründeten „arischen“ Überlegenheit. Andererseits ist die Zirkusgemeinschaft aufgrund ihrer räumlichen Mobilität, sozialen Randständigkeit sowie kulturellen und ethnischen Heterogenität dazu geeignet, geltende politisch-ideologische Vorgaben praktisch zu unterwandern. Im Spannungsfeld von Affirmation und Subversion lässt sich wiederum ein breites Spektrum von Haltungen und Handlungen verorten, das von Kollaboration und Mitläuferschaft bis hin zum antinazistischen Widerstand reicht.11
In einsamer Höhe
Mit dem Ende des Krieges beginnt für Alma die Zeit ihrer größten Erfolge. Sie tritt nun in den weltweit angesehensten Zirkus- und Varietéhäusern auf, etwa beim Circus Krone (München), dem Cirque Medrano und dem Cirque d’Hiver (beide Paris), dem Billy Smart’s New World Circus (London) oder dem Tower Circus (Blackpool). Überall gilt ihre Darbietung als unübertroffen im Hinblick auf Schwierigkeit, Präzision und ästhetische Qualität; Kenner feiern sie als Nachfolgerin der 1931 verunglückten, für unerreichbar gehaltenen Lillian Leitzel.12 Nichtsdestotrotz geht Alma, auf der Suche nach größerer künstlerischer Freiheit, von der Arbeit am Trapez zu derjenigen am freischwebenden Vertikalseil über. An diesem Gerät kommen die Vorzüge ihrer tänzerischen Ausbildung vollends zur Geltung, sodass die berühmte Ballerina Margot Fonteyn nach einer Vorführung mit der Feststellung an sie herantritt: „Nicht wahr, Sie sind Tänzerin?“13 Eine wichtige Station ihrer Laufbahn markiert ab 1949 das Engagement beim Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus, dem damals größten Zirkusunternehmen der Welt, mit dem sie und Alberto alle amerikanischen Bundesstaaten bereisen.14 Während ihres Aufenthaltes in den USA beteiligt sich Alma auch am Dreh des monumentalen Zirkusfilms The Greatest Show on Earth von Cecil B. DeMille (1952), der die Grandeur des amerikanischen Zirkus zu einem Zeitpunkt beschwört, als dieser, mit veränderten sozio-ökonomischen und kulturellen Bedingungen konfrontiert, zunehmend unter Reformdruck gerät.15 Sie wird insgesamt an fünf Filmproduktionen mitwirken; im Zirkusdrama Trapeze von Carol Reed (1956) doubelt sie keine Geringere als den Weltstar Gina Lollobrigida.
In einem Interview äußert sich Alma indes kritisch zur inflationären Größe des amerikanischen three-rings circus (im modernen Sprachgebrauch übrigens auch eine Metapher für chaotische und unüberschaubare Zustände) und der wachsenden Anonymität des Subjekts im tayloristisch organisierten Showbetrieb. Diesen Missständen hält sie das europäische, als Gegensatz zum amerikanischen Übermaß empfundene Modell der „cirques à l’échelle humaine“ entgegen.16 Es ist jedoch interessant zu beobachten, wie die Berichterstattung gerade die vom amerikanischen Zirkus her bekannten Diskursfiguren beansprucht. Augenfällig sind vor allem die Bemühungen zur Konstruktion einer normativen Weiblichkeit, die der amerikanische Zirkus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unternimmt, um die Vorstellung einer „sauberen“, moralisch einwandfreien Unterhaltung zu erzeugen. Dahingehend wird die mit männlich konnotierten Attributen (physische Stärke, öffentliche Sichtbarkeit, finanzielle Unabhängigkeit) ausgestattete Artistin rigoros in traditionelle Geschlechterordnungen überführt; vermeintlich weibliche Eigenschaften (Schutzbedürftigkeit, Bescheidenheit) werden dabei genauso hervorgehoben wie häusliche Werte und der Status als Ehefrau. Bemerkenswerterweise wird die Leitidee einer traditionsgebundenen Lebensführung verstärkt im Umfeld der sogenannten sideshows propagiert, in denen Frauen mit körperlichen Besonderheiten (Bartwuchs, Gigantismus) auftreten und durch ihr bloßes Erscheinungsbild Normalitäts- und Normativitätskonzepte radikal infrage stellen.17 Im Einklang mit dieser Diskursivierungspraxis wird auch Alma bevorzugt in ihrer Rolle als Ehefrau oder bei der Verrichtung häuslicher Arbeiten wie Kochen und Nähen porträtiert.
Nach dem Rückzug aus der Manege Ende der 1960er Jahre lassen sich Alma und Alberto dauerhaft in ihrer Wahlheimat Ettelbrück nieder. Hier gründen sie die erste und damals einzige Artistenschule des Großherzogtums; mit ihren Schülern treten sie bei zahlreichen nationalen, aber auch internationalen Events auf, beispielsweise der zu Weihnachten 1972 ausgestrahlten BBC Children’s Show. Gleichzeitig bereiten sie Schauspieler, Tänzer und Sänger, die als „Stars in der Manege“ an der gleichnamigen Wohltätigkeitsveranstaltung teilnehmen, auf ihren Auftritt am Trapez oder Vertikalseil vor. Darüber hinaus ist Alma nach dem Erwerb eines entsprechenden Diploms auch als Sportpädagogin in verschiedenen Luxemburger Gemeinden tätig. Nach einem arbeits- und erlebnisreichen Leben stirbt sie 2016, im ehrwürdigen Alter von 101 Jahren.
- CNL L-403, Bestand Alma Piaia; seit 2018 im Besitz des Centre national de littérature Mersch.
- 1921 eröffnet Duncan mit Unterstützung des Volkskommissariats für Bildung eine Tanzschule in Moskau. Zum Engagement in der Sowjetunion siehe Natalia Stüdemann, Dionysos in Sparta. Isadora Duncan in Russland. Eine Geschichte von Tanz und Körper, Bielefeld, transcript, 2008; Irina Sirotkina & Roger Smith, The Sixth Sense of the Avant-Garde. Dance, Kinaesthesia and the Arts in Revolutionary Russia, London [et al.], Bloomsbury, 2017, S. 63-125.
- Janet M. Davis, The Circus Age. Culture and Society under the American Big Top, Chapel Hill, Univ. of North Carolina Press, 2002, S. 65-69.
- Zur Geschichte des Zirkus Salamonsky siehe Pascal Jacob, Une histoire du cirque, [Paris], Seuil, [2016], S. 188.
- Zu dem im 18. und 19. Jahrhundert florierenden Pferdetheater siehe Kimberly Poppiti, A History of Equestrian Drama in the United States. Hippodrama’s Pure Air and Fire, New York [et al.], Routledge, 2018; Linda Simon, The Greatest Shows on Earth. A History of the Circus, London, Reaktion Books, 2014, S. 29-48.
- Friedrich Nietzsche, Werke. Erster Teil, Frankfurt a. M., Zweitausendeins, 1999, S. 549-556. Zur metaphorischen Bedeutung des Seiltänzers siehe Wojciech Kunicki, „Über den Seiltänzer“, in: Marta Kopij & Wojciech Kunicki (Hg.), Nietzsche und Schopenhauer. Rezeptionsphänomene der Wendezeiten, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 2006, S. 223-236.
- Simon, The Greatest Shows on Earth, a. a. O., S. 121-124.
- Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2009, S. 77.
- Zu dieser Denkfigur (bzw. zur biografischen Realität) siehe Simon, The Greatest Shows on Earth, a. a. O., S. 16-17; Davis, The Circus Age, a. a. O., S. 143, 235-236.
- ANLux, J-108-0466230, Piaia Albert, Vizla Alma.
- http://www.divergingfates.eu/index.php/2017/02/22/historical-context/ (letzter Aufruf: 4. Mai 2020).
- Zu Leitzel siehe Dominique Jando, Les reines des anneaux. Lillian Leitzel et Dolly Jacobs, Sorvilier, Ed. de la Gardine, 1990.
- [Anonym,] „Eine Königin in Luxemburg“, in: Revue Jg. 26 (1971), Nr. 5, S. 33.
- Zur Geschichte des Unternehmens siehe Jacob, Une histoire du cirque, a. a. O., S. 161-176.
- Ebd., S. 206-210.
- [Anonym,] „Les gens du voyage “, in: Vaillant, nicht ermittelbare Ausgabe aus dem Jahr 1959, o. S.
- Davis, The Circus Age, a. a. O., S. 82-141.
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