Die Mühen der Ebene: Care und Commons

(Für-)Sorge und Gemeingüter in Beziehung setzen – gesellschaftliche Experimente zur Gestaltung von ökonomischen und privaten Beziehungen.

Die Begriffe Care und Commons markieren zwei aktuelle Debattenstränge (sozial-) politischer und wissenschaftlicher Aus-einandersetzung, die bislang wenig aufeinander Bezug genommen haben. Dies soll im Folgenden auf die Weise geschehen, dass Grundannahmen beider Perspektiven kurz vorgestellt, Verbindungslinien aufgezeigt und diese an einem luxemburgischen Beispiel diskutiert werden. Beide Ansätze – so die These – könnten sich im Kampf um eine breite gesellschaftliche und institutionelle Verankerung ihrer Grundideen anregen und wechselseitige soziale Unterstützung mobilisieren.

Die Idee sozialer Freiheit in Formen des „füreinander Tätigseins“

Der Sozialphilosoph Axel Honneth schlägt in einer aktuellen Studie1 zur Idee sozialer Freiheit vor, die Idee experimenteller Erkundungen als „geschichtlich praktische Methode“ zu verstehen, die die Annahme von determinierten historischen Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung ablöst und damit „eine Selbstblockierung durch ein Denken in Kategorien der fixen Abfolge von historischen Stadien“ (59) überwinden soll.

Diese Experimente sind auf eine gesellschaftliche Lebensform gerichtet, „in der individuelle Freiheit nicht auf Kosten, sondern mithilfe von Solidarität gedeiht“2. Eingelöst werden soll damit, das in der sozialistischen Tradition aus Gründen einer Verengung auf Produktionsverhältnisse vernachlässigte, „moderne“ Versprechen individueller Freiheit, die immer der kollektiven Ermöglichung bedarf: „Nur wenn jedes Gesellschaftsmitglied sein mit jedem anderen geteiltes Bedürfnis nach körperlicher und emotionaler Intimität, nach ökonomischer Unabhängigkeit und politischer Selbstbestimmung derart befriedigen kann, dass es sich dabei auf die Anteilnahme und Mithilfe seiner Interaktionspartner zu verlassen vermag, wäre unsere Gesellschaft im vollen Sinne des Wortes sozial geworden“3. Für Honneth sind dabei nicht länger soziale Bewegungen der Indikator für wirkmächtige Veränderungen, sondern die institutionelle Umsetzung und Verankerung ihrer Forderungen und Ideen in zentralen gesellschaftlichen Institutionen wie dem Rechtssystem. Soziale Freiheiten als Basis individueller Freiheiten sind immer umkämpft und Gegenstand sozialer Kämpfe. Ihre Realsierbarkeit zeigt sich, wenn sie sich als institutionelle Errungenschaften verkörpern, d.h. wenn deren „normative Fähigkeiten und Kraft, bereits unter den gegebenen Umständen institutionelle Reformen zu erwirken“4 vermag.

Care als Antwort auf existenzielle Abhängigkeiten

Nimmt man den Vorschlag von Honneth als Folie, so könnte man diejenigen Ideen, die mit den Begriffen Care und Commons verbunden werden, als experimentelle Versuche charakterisieren, Lösungen für zentrale gesellschaftliche Fragen zu finden. Sie arbeiten daran, wie diese Lösungen gestaltet und institutionell verankert werden können.

Die Begriffe Care und Commons markieren dabei zwei unterschiedliche Stränge des Nachdenkens über aktuelle Probleme mit denen westliche, wie alle Gesellschaften im globalen Kontext in unterschiedlicher Weise konfrontiert sind.

Mit der sogenannten Care Debatte wird ganz allgemein der Umstand adressiert, dass Menschen im Verlauf ihres Lebens in vielfältiger Weise auf reziproke und nicht-reziproke Fürsorge durch andere Menschen angewiesen sind. Diese grundsätzliche Angewiesenheit, die als charakteristisch für die conditio humana angesehen wird, konstituiert je nach Situation eine mehr oder weniger umfassende existenzielle und asymmetrische Abhängigkeit zwischen Menschen.5 Spezifischer reagiert die Care Debatte auf einen Prozess, der als Defamilialisierung von Sorgetätigkeiten beschrieben wird, d.h. einer Auslagerung dieser Tätigkeiten aus der familalen Zuständigkeit. Dies wird teils als eine Folge neuer Anforderungen der Arbeitswelt (Entgrenzung der Erwerbsarbeit durch Flexibilisierung, Deregulierung und Intensivierung) und Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen durch Bildungsaufstiege von Frauen, deren steigende Erwerbsbeteiligung, eine Feminisierung von Migration und vergeschlechtliche Regime internationaler Sorgetätigkeiten und von transnationalen Betreuungsketten („care chains“6,7) gesehen. Das Modell des männlichen Familienernährers („male bread winner“) wird auch in den internationalen Politiken, z.B. der OECD durch die Idee des „eigenverantwortlichen Arbeitsbürgers“ (Manske) („adult worker“) abgelöst, bei dem alle Männer und Frauen eines Gemeinswesens als „individualisierte Marktsubjekte“8 betrachtet werden. Dies hat weitreichende Folgen für Sorgetätigkeiten, für „care work“.

„Caring Institutions“ als demokratische Errungenschaft

Unter Care wird „die gesamte Breite der Versorgungsarbeit, die aus ,Wissen, Handeln und Gefühlen‘ besteht“ gefasst.9 Eine erste theoretische Fassung eines gesellschaftlichen Verständnisses von Care finden wir bei der kanadischen Politikwissenschaftlerin Joan Tronto (2000). Sie verweist auf die komplexe und multi-dimensionale Natur von Care Prozessen und unterteilt diese in vier Aspekte, die in der Folge in den Diskussionen um Care vielfach Verwendung finden. Sie unterscheidet „caring about“, ein Besorgtsein über, das die Notwendigkeit von Sorgetätigkeiten wahrnimmt, ein „caring for“, als die Verantwortung für diese Sorgetätigkeit, ein „care giving“, als konkrete Pflegearbeit und ein „care receiving“, als das Empfangen von Sorgeleistungen und deren Bewertung10. Mit der Betrachtung der Spezifik von privaten und beruflichen Sorgetätigkeiten („Rationalität der Fürsorglichkeit“) und deren „potentieller Grenzenlosigkeit“11 geraten auch „Machtasymmetrien und Dilemmata“12 und besondere Verletzlichkeiten auf beiden Seiten in den Blick.

Dies wird derzeit vor allem in globaler Perspektive unter dem Topos „care und citizenship“ und „decent work“13 als Problem diskutiert. Tronto mahnt, ähnlich wie Honneth eine demokratische Öffentlichkeit als Medium und Ort an, um diese Probleme und die grundsätzliche Frage der gesellschaftlichen Ausgestaltung von Sorgeverhältnissen zu bearbeiten an.14,15

Commons: das was alle nutzen

Mit Commons werden – zwar bisher weitgehend getrennt von Care – Vorstellungen von Gemeingütern thematisiert, also in der Regel nach bestimmten Regeln zu nutzende Ressourcen, Materialien, Grund und Boden oder auch Wissen, die allen (meist denjenigen, die zu einer Nutzungsgemeinschaft gehören) frei zugänglich sind. Weithin hat sich z.B. im Bereich der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Produktion und Nutzung von Texten das Prinzip des Open-Source durchgesetzt (siehe die Literaturdatenbank „Orbi“ der Universität Luxemburg).16

Die Ökonomin Elinor Ostrom erhält 2009, für ihre langjährige Arbeit zu der Frage, wie knappe Ressourcen zum Nutzen von allen genutzt werden können und wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzern erfolgreich verwaltet werden kann, als erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

Das als „Tragik der Allmende“ behandelte Thema adressiert die Übernutzung von Gemeingütern durch egoisitische Interessen. In vielen Studien zeigt Ostrom wie der Markt als Steuerung einer nachhaltigen Nutzung von Gemeineigentum weit weniger sinnvoll und effektiv ist als kollektive, organisatorische Regelungen.17 In ihrem Buch Governing the Commons (1990) referiert sie dazu eine Reihe von Beispieln, die auf der Selbstorganisation der Beteiligten jenseits von Markt und Staat basieren. Die „neue Commons Debatte“18 greift diese Grundidee auf und buchstabiert sie an vielen Beispielen aus. Sie zeigt, dass Kommunikation und Verständigung über Regeln, im Sinne des Experiments von Honneth, selbst grundlegender Teil des Verständnisses von Commons sind („there is no commons without commoning“, Linebaugh). Saskia Sassen verdeutlicht in ihren aktuellen Untersuchungen, welche ökonomisch und sozial zerstörerischen Wirkungen es hat, Menschen den Zugang zur Nutzung von Versorgungssystemen, von Land und Räumen zu verwehren.19 Sie spricht von „räuberischen Formationen“, die ein „brutales Aussortieren“ von denjenigen betreiben, die sie nicht mehr benötigen. Die Idee der Commons bildet hierzu ein Gegengewicht und findet insbesondere auch bei so Ausgegrenzten Anhängerinnen (z.B. in der wirtschaftlichen Krise in Spanien und Griechenland).

Care und Commons – gemeinsame Fragen

Wenn wir Care und Commons nicht nur als Antworten auf Krisenphänomene verstehen, sondern auf ihr Potential für gesellschaftliche Zukünfte, als Sozialpolitiken20 befragen wollen, so zeigen sich nützliche Verbindungen, die an einem Beispiel aus Luxemburg diskutiert werden können. Beide Ansätze thematisieren in unterschiedlicher Weise Ungleichheiten, die in Ideen einer veränderten Gesellschaftlichkeit (und nicht in einer für alle gleichen Lebensform) bearbeitet werden. Beiden gemeinsam ist ein verändertes Naturverständnis und eine nachhaltige Nutzung menschlicher und natürlicher Ressourcen, wie eine Vorstellung von Fürsorglichkeit, die die mit der gewaltsamen Aneignung und Vernutzung von Menschen und Natur bricht. Die Idee des „Urban Gardening“, die auch im Kontext der luxemburgischen Transition Bewegung Fuß gefasst hat und Konturen gewinnt, kann hier als Beispiel dienen. Urban Gardening wird geleitet von der regulierten (gemeinschaftlichen) Bewirtschaftung und Nutzung städtischer Flächen; es soll eine neue Idee von nicht kommerziellem städtischen Raum entstehen, der vielfältige Bedürfnisse im Blick hat, wie den Umgang mit Nahrung und Essen, mit städtischem Raum, mit globalen Saatgutmärkten und heimischen Produkten, mit sozialer Kommunikation entlang unterschiedlicher Milieus und Zugehörigkeiten. Vielleicht haben wir es hier, was herauszufinden wäre, mit einem Experiment in der Schaffung sozialer Freiheiten in besten Sinne der Honneth’schen Annahmen zu tun.

 

1.Honneth, A. (2015). Die Idee des Sozialismus, Suhrkamp, Frankfurt/Main.
2.Id., S.166.
3.Id.
4.Id., S. 118.
5.Brückner, M. (2008). „Kulturen des Sorgens (Care) in Zeiten transnationaler Entwicklungsprozesse“ in: Homfeldt, H.G./Schröer, W./Schweppe, C. (Hrsg.) Soziale Arbeit und Transnationalität. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs, Weinheim, Juventa, S. 167-184.
6.Hochschild, A.R. (2000). „Global Care Chains and Emotional Surplus Value“ in: Hutton, W./Giddens, A. (Hrsg.) On the Edge. Living with global capitalism, London, Jonathan Cape, S.130-146.
7.Schröer, W. & Tuider, E. (2011). „Transnational Care The Dissolution of Care in the Second Modernity“ in: Transnational Social Review. A Social Work Journal. Jg. 1, S. 11–20.
8.Lutz, H. (2010). „Unsichtbar und unproduktiv? Haushaltsarbeit und Care Work – die Rückseite der Arbeitsgesellschaft“ in: ÖZS 35(2), S. 23–37
9.id., S.28.
10.Tronto, J. (2010). „Creating Caring Institutions: Politics, Plurality, and Purpose“ in: Ethics and Social Welfare 4(2), S.160.
11.Rerrich, M. &Thiessen, B. (2015). „Warum sich die soziale Arbeit um Care kümmern sollt“ in: Sozial Extra 1, S. 24-25.
12.Ostner, I. (2011). „Care – eine Schlüsselkategorie sozialwissenschaftlicher Forschung“ in: A. Evers et al. (Hrsg.) Handbuch Soziale Dienste, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 461-481.
13.Schröer, W. & Tuider, E. (2011). „Transnational Care The Dissolution of Care in the Second Modernity“ in: Transnational Social Review. A Social Work Journal. Jg. 1, S. 11–20.
14.Tronto, J. (2008) „Feminist Ethics, Care and Citizenship“ in: Homfeldt, H.G./Schröer, W./Schweppe, C. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Transnationalität. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs, Weinheim, Juventa, S. 185-202.
15.Tronto, J. (2010). „Creating Caring Institutions: Politics, Plurality, and Purpose“ in: Ethics and Social Welfare 4(2).
16.einige zentrale Aspekte von Gemeingütern lassen sich daran zeigen: wie z.B. die Frage wie der Zugang oder die Bedingungen des Ausschlusses aus der Community der Nutzenden geregelt sind. Orbi ist eine einfach zu handhabende Möglichkeit, die jeweiligen wissenschaftlichen Tätigkeiten und Produkte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gleichzeitig ermöglicht es eine direkte Kontrolle durch die Institution.
17.Ostrom, Elinor (2010). Beyond Markets and States. Polycentric Governance of Complex Economic Systems in: American Economic Review 100 , S. 641–672.
18.Helfrich, S. & Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) (2013). Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Transcript, Bielefeld.
19.Sassen, S. (2015). Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft, S. Fischer, Frankfurt/Main.
20.Robinson, Fiona (2013). „Global care ethics: beyond distribution, beyond justice“ in: Journal of Global Ethics 9(2), S.131–143.

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