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Die nächste Transformation
Die Menschheit ist dabei, sich unter dem Impuls der digitalen Netze zu vereinen
Was für eine Erfolgsgeschichte! Von 5 Millionen Individuen vor etwa 10.000 Jahren konnte Homo Sapiens seine Zahl auf heute etwa 7 Milliarden steigern. Neben Ameisen und Termiten gehört er damit zu den erfolgreichsten Arten auf dem Erdball.
Heute ist der Mensch der größte Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde. Bemerkbar macht sich dieser Einfluss in einer grundlegenden Umformung der Erdoberfläche, einer Zerstörung der organischen Böden (Humusschicht), der Schaffung landwirtschaftlicher Monokulturen, der Auslagerung der Proteinlieferanten (Tiere) in spezialisierte Industriebetriebe, einer irreversiblen Veränderung des Klimas, der Übersäuerung der Ozeane und eines rasanten Artensterbens. Möglich wurde diese zweifelhafte Erfolgsgeschichte durch mehrere Sprünge in der Entwicklung. Biologisch hat sich Homo Sapiens in den letzten 100.000 Jahren nicht mehr verändert. Stattdessen hat er enorme kulturelle Fortschritte gemacht. Die Kolonisierung der Erde „out of Africa“ (und mit Ausnahme der Antarktis) begann nach heutigem Forschungsstand vor etwa 70.000 Jahren mit der Besiedelung Vorderasiens und war vor etwa 10.000 Jahren abgeschlossen. Man weiß heute, dass schon diese erste Migrationswelle auf allen Kontinenten zu einer ökologischen Katastrophe führte, u.a. zur Verdrängung aller anderen Menschengattungen (insbes. der Neandertaler), der Ausrottung fast aller großen Säugetierarten außerhalb Afrikas und der Brandrodung weiter Teile der Wälder des Erdballs. Mit der Einführung, Verbreitung und Perfektionierung der Landwirtschaft um 10.000 v. Chr. veränderte sich grundlegend die Sozialorganisation der bis dahin in kleinen Gruppen lebenden Menschen und ermöglichte die autoritären, zentralisierten Herrschaftsformen, die wir noch heute kennen. Die Gründung von Städten und Reichen, aufbauend auf der Herrschaft einer Kriegerkaste und auf Arbeitsteilung, Handel und gemeinsamen Symbolen (Götter) brachte den nächsten Entwicklungsschritt. Die kreative Energie der Menschheit erschöpfte sich dann während Jahrtausenden in der Knechtung der Mehrzahl durch eine Minderheit, im Aufkommen und Niedergang wechselnder Reiche und der Verschleuderung des materiellen Überschusses in Prunkbauten und kulturellen Artefakten.
Vor 400 Jahren wurde die Menschheit dann mit dem Siegeszug der wissenschaftlichen Methode aus dieser relativen Stagnation herausgerissen. Der Ansatz – die Welt durch ein unablässiges Infrage stellen ihrer Geheimnisse zu entreißen und Aberglaube durch Vernunft zu ersetzen– machte Wissenschaftler, Welteroberer und gemeine Verbrecher zu Alliierten und leitete die Erfolgsgeschichte der zwar kulturell rückständigen aber skrupellosen Europäer ein. Das sich aus der Wissenschaft entwickelnde Feuerwerk technologischer Erfindungen gekoppelt an neue Energiequellen (Kohle und Erdöl) führte zu einer beispiellosen Steigerung der Produktivität und entfesselte die zwei Kräfte, die bis heute die Welt formen: Kapitalismus und Wirtschaftswachstum. Getrieben wird die Entwicklung von einer beispiellosen Bevölkerungs- und Wissensentwicklung: In der Gegenwart leben nicht nur mehr Menschen auf der Erde als insgesamt jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte gelebt haben; es arbeiten auch mehr Forscher und mehr Techniker gegenwärtig an der Veränderung und Umformung der Welt, als insgesamt in den Jahrhunderten und Jahrtausenden davor gelebt und gewirkt haben.
Eine neue Welt entsteht
Den nächsten großen Schritt der Menschheit erleben wir gerade in Echtzeit: Die digitale Transformation. Die technologischen Fortschritte der letzten 40 Jahre schaffen vor unseren Augen eine neue Welt, ein Big Bang vergleichbar mit der Einführung der Landwirtschaft, der alle Lebenszusammenhänge revolutioniert. Die explodierende Datenfülle (90 % davon sind allein in den letzten 2 Jahren entstanden) verbunden mit immer komplexeren Algorithmen beginnen unser Leben zusteuern – privat, im Verkehr und auf der Arbeit. Sich selbst verbessernde Systeme und die enorme Steigerung der Rechen und Speicherkapazitäten fordern den Menschen in Bereichen heraus, in denen er sich bis vor kurzem noch souverän und unangreifbar fühlte (Motorik, Sprache, Erkennung von Gefühlszuständen, Schach…).
Für die Arbeitswelt beginnen die Folgen konkret zu werden: Insbesondere Servicedienste können automatisiert werden. Von einfachen Beratungsgesprächen über die komplexe Diagnose von Krankheitsbildern bis zur Automatisierung kompletter Berufssparten (Auditfirmen und Steuerbehörden) reichen die Anwendungen. Während die Kulturindustrie (Filme, Spiele, Musik) schon weit in ihrer Transformation vorangeschritten ist, stehen Bildung, Ausbildung und Studium noch am Anfang der Umwälzung. Morgen werden ganze Sektoren wie Tourismus, Transport, Versicherungen, Banken, Immobilienagenturen, Architekten, Arbeitsvermittler etc. ihre Geschäftsmodelle überdenken oder ganz einfach verschwinden. Sektor um Sektor ist dabei, förmlich aufgerollt zu werden, während die Märkte von genuin digitalen, international operierenden Unternehmen übernommen werden.
Parallel findet eine Automatisierung der physischen Welt statt: Roboter und Automaten, unterstützt von immer komplexeren Sensoren und immer feineren Übertragungstechniken übernehmen einen Großteil der Produktion. Amazon stellt zurzeit seine gigantischen Distributionsfabriken weltweit auf Roboter um (womit sich das Thema Streik für Amazon erledigt hat). Foxconn, das Unternehmen das u.a. die Apple-Produkte für den Weltmarkt herstellt, will bis Ende dieses Jahres eine Million Roboter in seinen Produktionsanlagen installieren. Japan stellt die Altenpflege auf humanoide Roboter um, Spielzeugroboter kommen in der Kinder- und Alzheimer-Betreuung zum Einsatz. Viele medizinische Operationen werden schon heute durch Roboter ausgeführt, und auf youtube kann man sich derweil ansehen, wie Müllabfuhr, Feuerwehr, Inspektionen von Atomreaktoren oder die Räumung von Katastrophengebieten mit Robotern erledigt werden. Dass Armeen in Zukunft
durch den Einsatz von Drohnen und Robotern weitgehend auf Soldaten verzichten werden und Lastwagen fahrerlos fahren werden, hat sich herumgesprochen.
Der Arbeitsmarkt ist dabei sich aufzuspalten in eine kleine Elite überaus qualifizierter Spezialisten einerseits und den Inhabern schlecht bezahlter, aber nicht automatisierbarer Stellen im Proximitätsund Sozialbereich. Nach übereinstimmenden Schätzungen von MIT, University of Oxford, Roland Berger, PwC oder Jeremy Rifkin können im Westen in den nächsten 20 Jahren theoretisch etwa 40 bis 50% aller Jobs verschwinden. Wenige Ökonomen betrachten diese Entwicklung optimistisch im Sinne Schumpeters und seiner „schöpferischen Zerstörung“ (wonach zusätzliche Stellen in neu geschaffenen Bereichen die verloren gegangenen ersetzen). So stehen etwa 3 Millionen potentiell automatisierbaren Jobs in Frankreich (innerhalb der nächsten 10 Jahre) etwa 46.000 zu schaffende Stellen im Informatikbereich (innerhalb der nächsten 5 Jahre) gegenüber. Die Welt von morgen scheint eher eine zu sein, wo immer mehr Reichtum von immer weniger Menschen (und von mehr und mehr Maschinen) produziert wird.
Viele nationalstaatliche Systeme, die auf der Besteuerung und der Wertschätzung von Arbeit aufgebaut sind, werden zusammenbrechen. Eigentumsrechte werden neu geordnet werden. Menschenrechte und insbesondere die Definition der Privatsphäre geraten in Bewegung. Kulturelle und staatliche Grenzen werden durchlässig (die rezenten Flüchtlingsbewegungen liefern einen Vorgeschmack). Und an der Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens und einer Neubestimmung „produktiver“ Arbeit wird kein Weg vorbei führen. Wem das noch nicht genug ist, der kann noch einen Blick auf die biologischen Implikationen werfen: der Mensch ist dabei, sich neu zu erschaffen! Die genetische Verbesserung seiner kognitiven Fähigkeiten, die Integration von zusätzlicher Hardware (Schnittstelle Mensch/Maschine), die Zucht von Ersatzteilen (aus Stammzellen oder von Schweinen), Genmanipulationen, um den Alterungsprozess zu stoppen, und die vollständige Auslagerung der Reproduktion aus dem menschlichen Körper – all dies muss heute mitgedacht werden, denn es gibt niemanden, um es aufzuhalten. Unsere Generation ist kaum in der Lage, die Folgen abzuschätzen oder noch irgendeinen Einfluss auf diese Entwicklungen auszuüben: Was heute entsteht, wird im besten Fall in 200 Jahren geordnet werden. Doch bedeutsam ist auch (ob im positiven oder negativen Sinne), dass die Menschheit unter dem Impuls der großen digitalen Unternehmen zusammen wächst. Eine weltumspannende gemeinsame Kultur entsteht mit gemeinsamen (Programmier-)Sprachen und Kommunikationsnetzen, mit gemeinsamen Herausforderungen (Klima, Kriege und Aufstände der Entwurzelten) und vorangetrieben von einer neuen – global denkenden – technokratischen, wissenschaftlichen und finanziellen Elite. Auch die Demokratie wird sich schnell weiter entwickeln müssen, damit sie in diesem Umfeld ihre Wirksamkeit und Anziehungskraft erhält– und es braucht neben den lokalen auchunabhängige transnationale Medien, die diese Veränderungen begleiten.
Literatur zum Weiterlesen
Edward O. Wilson (2012): Die soziale Eroberung der Welt
Yuval Noah Harari (2013): Sapiens, Une brève histoire de l’humanité
Daniel Cohen (2015): Le Monde est clos et le désir est infini
Filme zur Inspiration
Blade Runner (Ridley Scott, 1982) und natürlich WALL-E (Andrew Stanton, 2008)
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