Stadtluft macht frei. So hieß es einmal. Doch der offene Charakter des Stadtlebens geht auch in Luxemburg zusehends verloren. Eine schleichende Gentrifizierung hat das Großherzogtum fest im Griff und Luxemburg – als Stadt und als Land – läuft Gefahr, ein Rückzugsort für Reiche zu werden. Diese pointierte Aussage lässt sich durch Zahlen untermauern: Die Bevölkerung wächst im Schnitt um 2,5% pro Jahr, etwa 12000 Personen bzw. 6500 Haushalte kommen netto jährlich hinzu. Parallel liefert die Bauwirtschaft bislang im Jahresmittel unter 4000 Wohneinheiten (Observatoire de l’habitat). Fast schon logisch mutet es vor diesem Hintergrund an, wenn die Immobilienpreise 2016 landesweit um 7,7% stiegen. Bei sagenhaften 9,1% lag 2016 der Wertzuwachs für bestehende Einfamilienhäuser (Statec). Die durchschnittliche Höhe für Immobilienkredite bewegt sich auf die 1 Million Euro zu, womit ein guter Teil der Leute vom Markt ausgeschlossen sind. Trotzdem gibt es keine Anzeichen für eine Immobilienblase.

Soziodemographische Untersuchungen zu den neuen Zuwanderern gibt es nicht. Ein Anhaltspunkt könnte jedoch sein, dass nicht mehr die Portugiesen, sondern die Franzosen den größten Zuwachs unter den Einwohnern in Luxemburg verzeichnen. Von etwas über 5% im Jahre 2011 stieg ihr Anteil an den Nicht-Luxemburgern auf heute über 15%. Handelt es sich um Grenzgänger, die näher an ihrem Arbeitsplatz leben wollen, oder stecken dahinter doch die steuerpolitischen Unwägbarkeiten unter François Hollande? Daneben haben Sicherheitserwägungen sicherlich dazu beigetragen, dass nicht mehr Brüssel die erste Wahl für einen aus Paris stammenden Unternehmer ist, der seine Familie erbschaftssteuerbefreit in einem sicheren Hafen unterbringen möchte. Eine ähnliche Wirkung auf die Bevölkerungsentwicklung übt zurzeit der Brexit aus.

Tröpfchenweise werden die Erfolge der diskreten luxemburgischen Anwerbepolitik in London bekannt gegeben: ein paar große amerikanische Versicherer hier, ein paar Fondsgesellschaften dort, dazu eine neue chinesische Bank, derweil hunderte SOPARFIS sich die Frage stellen, ob sie in den nächsten Jahren „Substanz“, d.h. Mitarbeiter, in Luxemburg aufbauen wollen. Der Justizminister freut sich derweil über den Zuschlag für Luxemburg als zukünftigen Sitz des Europäischen Staatsanwalts, einer Behörde, die mehr als hundert hochqualifizierte Personen beschäftigen wird. Der Finanzminister möchte da nicht zurückstecken und versucht, die Europäische Bankenaufsichtsbehörde mit ihren knapp 200 Mitarbeitern nach Luxemburg zu bringen. Währenddessen plant die Europäische Investitionsbank ihr drittes Verwaltungsgebäude, der Zuwachs an Arbeitsplätzen wird hier im vierstelligen Bereich zu kalkulieren sein.

Auch Zürich, Hamburg, Berlin, Paris oder London sind Opfer ihres Erfolges und verlieren ihre ursprünglichen Einwohner. An ihre Stelle treten die Reichen, Schönen, Jungen und Kreativen, die die Infrastrukturen, Annehmlichkeiten und Potentiale einer gepflegten Urbanität zu schätzen wissen und dafür zumindest solange zahlen können, wie sie in die globale Wertschöpfungskette integriert sind. Die anderen, die neuerdings „Globalisierungsverlierer“ genannten Normalverdiener müssen wegziehen – in Luxemburg heißt das: näher an die Landesgrenzen oder immer häufiger gleich über die Grenze. Im Süden wechseln jetzt zusehends jüngere, in Luxemburg aufgewachsene Portugiesen nach Frankreich, lassen aber ihre Kinder in Luxemburg eingeschult, damit diese trotzdem „dazu gehören“. Warum sollen sie es auch anders machen als die Luxemburger in Perl?

Städte wie Zürich, wo ein Drittel der Wohnungen im Besitz der Stadt und von Genossenschaften ist, können dem Trend Richtung soziale Segregation Widerstand leisten. Berlin hat Anfang der 2000er Jahre unter dem Druck einer vom Bund erzwungenen Sparpolitik seinen hohen Bestand an Sozialwohnungen verkauft und damit die Preisspirale in Gang gesetzt. Luxemburg war in dieser Hinsicht schon immer seiner Zeit voraus und hat erst gar keinen nennenswerten Bestand an Sozialwohnungen aufgebaut. Und selbst wenn jetzt durch politischen Druck endlich umgesteuert wird, dürfte es 20 Jahre dauern, bis die Zahlen in einem wahrnehmbaren Bereich angelangt sind. Bis dahin müsste jedoch alles getan werden, um gerade jungen Menschen das Leben in ihrer Stadt zu ermöglichen. Unkonventionelle, kreative oder sogar ephemere Lösungen könnten einen Teil der Lösung bieten, wie z.B. Kleinst- oder Containerhäuser, errichtet auf ungenutzten Baugrundstücken oder stadteigenen Brachflächen. Aktuelle Bauverordnungen, Hygienevorschriften, die sakrosankten Eigentumsrechte, die Verfassung und selbst die Schobermesse stehen natürlich auf ewige Zeiten dagegen – d.h. eigentlich nur solange bis jemand sich traut, sie zu ändern.

Doch nicht nur in sozialer Hinsicht müssen wir dafür sorgen, dass die Stadt ein offener Raum bleibt und Platz für die verschiedensten Menschen bietet und deren unterschiedliche Interessen berücksichtigt. Das Fremde und Fremdartige, das Unvollkommene und vermeintlich Missratene hat seine Berechtigung – nicht als pittoreskes oder „authentisches“ Beiwerk für das urbane Lebensgefühl, sondern weil Neues und Fremdes letztlich den eigentlichen Reichtum einer wirk-
lichen Stadt ausmacht.

Neben der Gelassenheit ist die Ruhestörung damit die zweite Bürgerpflicht, zumindest wenn sie als Kunst, Kultur oder politische Aktion daher kommt. Die Anklage und vorläufige Verurteilung einiger Kreidemaler, die vor zwei Jahren die Nationalhymne im Rahmen des Nationalfeiertages umgedichtet und auf einen öffentlichen (d.h. uns allen gehörenden) Platz schreiben wollten, ist eine Peinlichkeit sondergleichen – nicht für die Justiz, die einfach Texte anwendet, sondern für die Polizei, die nichts besseres zu tun wusste, als die Lage zu eskalieren und für den Staatsanwalt, der Anklage erhoben hat. Man stelle sich einen Moment vor, hunderte Menschen hätten vor der städtischen Hauptpost gegen die Privatisierung des Aldringer Platzes demonstriert (was in der Realität ja der Fall ist). Hätten wir dann Zustände wie in Istanbul oder wünschen wir uns vielleicht doch lieber eine inhaltliche Auseinandersetzung?

Keine Stadt lässt sich, wie auf unserem Cover dargestellt, mittels einer Glasglocke von der Außenwelt abschotten – Klimawandel, Hitze und Trockenheit lassen sich nicht draußen halten. Auch der Krieg nicht. Menschen kommen zu Hunderten und möchten als Flüchtlinge aufgenommen werden. Die ungesagte Strategie ist zurzeit, nicht zu freundlich zu sein, damit es sich nicht rumspricht und weitere nachkommen. Jeder soll sich bei uns ein bisschen sicher und wohlfühlen, auch dankbar sein, aber auf keinen Fall bei Verwandten und Freunden in der Türkei, Jordanien und Libanon für Luxemburg Werbung machen!

Bei Abendanbruch drängen noch ganz andere Gäste in unsere Städte – Füchse, Ratten, Marder, Nachtvögel, Kaninchen und Hasen, eine ganze Menagerie bevölkert unsere Vorgärten, sucht sich Essensreste auf unseren Straßen und streift nachts um drei mitten auf den Boulevards. Bienen, Schmetterlinge und andere Bestäuber finden in unserer unmittelbaren Nachbarschaft die letzten Rückzugsorte. Nachdem wir das Agrarland in eine Chemiefalle verwandelt haben, ist die Stadt der Raum, wo Natur in allerkleinsten Nischen noch einen Lebensraum findet. Die Stadt der Zukunft ist grün: offen und durchlässig für Pflanzen, Vögel, Insekten und Tiere. Denn tatsächlich verlassen ja nicht nur die Menschen in Scharen ihre Heimat, auch die Natur ist in Bewegung. Auf dem Weg in kühlere Gebiete braucht sie grüne Korridore, Schneisen für die große, in diesem Tempo noch nie dagewesene Wanderung nach Norden.

Wandel in Form von Verdrängung trifft auch altehrwürdige Bestandteile des städtischen Lebens. Nachdem zuerst die kleinen und größeren Handwerker die Städte aufgrund von Geräusch- und Geruchsbelästigungen verlassen mussten, ist es jetzt an den Einzelhandels- und Fachgeschäften, den Platz zu räumen. Die Höhe der Mieten in den Innenstadtlagen verbunden mit der Entvölkerung ganzer Stadtviertel und den neuen Einkaufsgewohnheiten der Expats und Digital Natives führt dazu, dass unsere Städte zum ersten Mal in ihrer Geschichte möglicherweise die Funktion als „Handelsplatz“ verlieren und damit auch eine ganz spezifische Form von Bürgertum. Die Städte werden stattdessen zu zentralen Event-, Erlebnis- und Unterhaltungsräumen, die marketingtechnisch inszeniert und bespielt werden. Einige von ihnen ersetzen jedoch geschickt das Verlorene durch das Neue. Kreativwerkstätten wie das 1535° in Differdange oder die Kulturstrategien von Esch und Dudelange machen vor, wie man eine Stadt für die Zukunft offen hält. Nach langem Zögern (und gedrängt von der Handelskammer) versucht jetzt auch die Hauptstadt nachzuziehen mit dem Aufbau eines ersten Start-up-Zentrums, das kreative Menschen und Unternehmen anziehen soll. Die bisherige Zurückhaltung lässt sich nur dadurch erklären, dass sie bislang mit ihrer Rolle als Verwaltungs- und Finanzstadt zufrieden war. Die politischen Mandatsträger müssen sich sowieso keine Sorgen machen: Mangels Wähler und Wählerinnen kann auf Kommunalwahlen in Zukunft getrost verzichtet werden.

Jürgen Stoldt

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