Die Presse und ihre Kampagnen
Wie die Medien Konferenzen beeinflussen und Kampagnen initiieren, illustriert mit Beispielen aus Großbritannien, Deutschland und den USA
In den 1970er Jahren, noch vor der Ära Murdoch, setzte ein Journalist der Lon- doner Sunday Times, der zu den bedeu- tendsten Journalisten Großbritanniens werden sollte, alles daran, den Opfern von Thalidomid zu helfen. Das Medikament, das in Deutschland unter dem Namen Contergan vermarktet wurde, hat weltweit tausenden Kindern die Chance auf ein sorgenfreies Leben genommen, weil viele schwange … Mütter sich der Schädlichkeit des Arzneimittels nicht bewusst waren. Harold Evans deckte den Skandal um Thalidomid auf und beschritt als Chef- redakteur den Weg hin zu einer jahre- langen Kampagne gegen den Hersteller Distillers. Zudem setzte er sich für ein Mi- nimum an Gerechtigkeit für die Kinder und Eltern, die dem Medikament zu Op- fer fielen, ein.
Diese Kampagne ist ein Paradebeispiel für das, was ein Redakteur mit seinem Team erreichen kann, wenn er sich eines Anlie- gens von öffentlichem Interesse annimmt. Die Presse hat das Potenzial, sowohl In- dustrie als auch Politik unter Druck zu setzen. Doch wann ist der richtige Zeit- punkt, um die Menschen auf bestimmte Missstände und notwendige Entwick-lungen aufmerksam zu machen? Im Fall Sunday Times gegen Distillers war es schon fast zu spät; erst über zehn Jahre nachdem das Medikament vom Markt genommen war, konnten sie schrittweise Erfolge er- zielen. Es war nicht nur der große Wi- derstand des Herstellers, gegen den die Sunday Times ankämpfen musste, son- dern auch gegen die britische Regierung. Bis heute haben nicht alle Thalidomid- Opfer Entschädigungen erhalten, obwohl Harold Evans sich noch immer für sie einsetzt. Es gibt natürlich auch Beispiele von ne- gativen Pressekampagnen. Allen voran können hier die Kampagnen der Bild- Zeitung genannt werden, die beispiels- weise dieses Jahr gegen die „Pleite-Grie- chen“ Stimmung machte. Über Wochen hinweg verfasste die Zeitung populisti- sche Kommentare, die die Meinung vie- ler Menschen formte. Als meistgelesene Zeitung Deutschlands hat sie bedauer- licherweise auch das Potenzial, dass ihre provokativen Ansichten von den Lesern
unreflektiert übernommen werden. Die- ses Problem rührt unter anderem daher, dass die meisten Menschen ihre Infor- mationen aus nur einer Quelle beziehen, sprich nur eine Tageszeitung lesen. Be- gleitend zu den aktuellen Entwicklun- gen kann die Presse so den Lesern jeden Tag ihre subjektive Meinung hinter ei- nem dünnen Vorhang der Objektivität unterjubeln.
Selbstverständlich variiert die persönliche Agenda von Zeitung zu Zeitung. Beim Thema Flüchtlinge schlugen die Wellen auch schon vor der sogenannten Krise die- ses Jahres hoch. Konservative Zeitungen, die oftmals keinen Unterschied zwischen Flüchtlingen und Migranten machen, und denen zufolge selbst das Konzept des Schengenraums die nationale Sicherheit in Gefahr bringt, haben dieses Thema auch schon früher genutzt, um ihre Mei- nungen zu propagieren. Ein unrühmliches Beispiel ist die britische Zeitung Daily Mail und Schlagzeilen wie „The ,swarm‘ on our streets“.
Aber selbst die Daily Mail hat ange- sichts der Tragödie im Mittelmeer ihren Ton verändert und wechselte in ihrer Rhetorik vom „swarm“ zu „human ca- tastrophe“. Das Bild des toten Kindes Aylan Kurdi, angeschwemmt an einem türkischen Strand, das Menschen auf der ganzenWeltberührte,bewegtedieZeitung zu Empathie. In einem ungewohnt fried- fertigen Ton hatte auch die Bild-Zeitung sich schon von Anfang an der Flüch- tenden angenommen und sich für die Aufnahme der Menschen in Europa und Deutschland ausgesprochen. Dass eine häufig populistische Zeitung sich hier für Flüchtlinge einsetzt, sendet ein po- sitives Signal an ihre sonst eher konserva- tive Leserschaft.
Gemeinsam Botschaften in die Welt tragen
Häufig gehen verschiedene Zeitungen und Medien auch Kollaborationen ein, um Politik und Gesellschaft zum Handeln aufzurufen. Zusammen können sie nicht nur ihre Recherche breiter ausdehnen, sondern sie erreichen auch eine größere Leserschaft. Im Jahr 2013 haben Medien aus aller Welt die Informationen von Edward Snowden veröffentlicht. Enthül- lungen, die die Fantasie George Orwells in den Schatten stellen, haben die Welt in ihren Bann gezogen. Es war, als ob die Gesellschaft aus einem tiefen Schlaf auf- wachte und die Privatsphäre wieder ent-
decken würde. Die Auswirkungen dieser Enthüllungen werden noch lange Zeit zu spüren sein; nicht zuletzt weil immer noch neues Material verarbeitet und in die Öf- fentlichkeit getragen wird. Die Washington Post und The Guardian haben für ihre Ar- beit den Pulitzer Preis erhalten; ihre Arbeit hat unsere Gesellschaft beeinflusst und wird sie nachhaltig verändern.
Auch beim Thema Flüchtlinge meldeten sich einige europäische Zeitungen gemein- sam zu Wort. Einige Tage vor dem Flücht- lingsgipfel am 14. September in Brüssel riefen 15 Chefredakteure aus ganz Europa, darunter Bernd Ulrich von der Zeit, Amol Rajan vom Independent und Johan Hufna- gel und Laurent Joffrin von LibeÌration, die Regierungsvertreter zu konkreten Plänen auf, um den vielen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, zu helfen.
Solche Kooperationen vereinen verschie- dene europäische Öffentlichkeiten oftmals genau da, wo die Politik dies nicht zulässt. Die ungarische Zeitung NeÌpszabadsaÌg, deren Redakteur den Aufruf mit unter- schrieben hat, spiegelt sicherlich nicht die Meinung der OrbaÌn-Regierung wi-
der. Selbst wenn ein solcher Aufruf keine ernsthaften Konsequenzen mit sich bringt, kann er doch über die Grenzen der Verhandlungsräume hinaus eine Bot- schaft vermitteln, die sonst nicht in der Form möglich gewesen wäre. Der unga- rische Redakteur hat uns gezeigt, dass in seinem Heimatland nicht nur Menschen wie OrbaÌn eine Meinung haben und sie aussprechen.
Und selbst wenn die Minister und Prä- sidenten nicht vermögen, dem Aufruf nachzukommen, zeigt sich die Zivilbe- völkerung solidarisch. Die große Welle an Empathie, die vielen Flüchtlingen an Orten wie dem Münchner Hauptbahnhof entgegenschlug, ist auch eine Reaktion auf die Medien; sowohl auf diejenigen, die zum Aufstand der Anständigen aufrufen als auch auf jene, die Stimmung gegen Flüchtlinge machen.
Es gibt jedoch auch Kampagnen, die nicht nur die Gesellschaft wachrütteln, sondern auch jene schockieren, die für die katastro- phale Situation verantwortlich sind, und sie geradezu zum Handeln zwingen. Dazu zählt die detaillierte Arbeit, die verschie-dene Zeitungen zu den in den USA viel zu häufigen Morden durch Polizeibeamte lei- sten. Das Projekt „The Counted“ von The Guardian beispielsweise trägt die Zahlen des ganzen Landes zusammen und deckt auf, wie viele Menschen wirklich durch Po- lizeigewalt sterben. Sogar der Chef des FBI hält es für inakzeptabel, dass The Guardian und die Washington Post bessere Zahlen ha- ben als seine Behörde, was ihm zu Recht zu denken gibt. Die Diskussion zu Waffen- gewalt in den USA und der Gewalt gegen Afro-Amerikaner durch die Polizei wurde allgemein ebenfalls sehr stark von den Me- dien geprägt. Ein Republikaner, der sich ausschließlich die Nachrichten auf Fox an- sieht, hat mit großer Wahrscheinlichkeit ein ganz anderes Bild von der Situation als ein Demokrat, der die Berichte der New York Times liest. Viele Zeitungen leisten in diesem Sinne unverzichtbare Arbeit um den institutionellen Rassismus, der in den Stoff der Gesellschaft eingewoben ist, zu bekämpfen.
Sehr spannend zu verfolgen ist auch die Berichterstattung rund um die Freihan- delsabkommen, insbesondere TTIP. Das Abkommen zwischen den USA und der EU, das diesen Oktober in der 11. Ver- handlungsrunde war, generiert aufgrund mangelnder Transparenz viel Kritik in der Presse. Das Recherchebüro für in- vestigativen Journalismus „Correct!v“ wurde gar Teil der Verhandlungen, weil es nicht-öffentliche Dokumente geleakt hatte, was die USA scharf kritisierten. Die amerikanischen Unterhändler bestehen auf Geheimhaltung der Verhandlungsa- genda, während in ganz Europa Politiker zu mehr Transparenz aufrufen.
Amerikanische Medien schenken den Verhandlungen weit weniger Aufmerk- samkeit, als europäische dies tun. In den USA wird eher über Unstimmigkeiten zwischen den Verhandlungspartnern be- richtet, als über die Konsequenzen, die einzelne Verhandlungspunkte auf die Bevölkerung haben könnten. In Europa wird zwar auch über diese Streitpunkte berichtet, jedoch mehr über die negativen Auswirkungen, die das Abkommen haben könnte. Diese Betonung der möglichen negativen Konsequenzen führt dazu, dass in Europa die Verhandlungen generell skeptisch gesehen werden.
COP21: der Medienrummel schürt Erwartungen
Selten hat eine internationale Konferenz so viel Aufmerksamkeit in der Presse ge- habt wie die UN-Klimakonferenz, die vom 30. November bis 11. Dezember alle Blicke auf Paris lenken wird. Seit Mona- ten wird über diese Konferenz als letzte Hoffnung berichtet, womit der Druck auf diejenigen, die am Verhandlungstisch Platz nehmen werden, ins Unermessliche steigt.
Bereits im März hat die britische Tageszei- tung The Guardian ihre Kampagne „Keep it in the ground“ gestartet. Sie verbindet hunderttausende Unterstützer aus Wis- senschaft, Industrie, Politik und Zivilge- sellschaft. Neben dem Aufruf an Stiftun- gen und Investmentfonds, ihre Anlagen in fossile Brennstoffe abzustoßen, informiert diese Kampagne über verschiedene Aspekte des Klimawandels. Von Innovationen im Bereich erneuerbare Energien, über Ana- lysen, welche Konsequenzen die Erd- erwärmung mit sich bringt, bis zu den Entwicklungen der Klimapolitik der ver- schiedenen Länder trägt sie Erfahrungen aus aller Welt zusammen und beschreibt wie die Menschen vor Ort gegen den Klimawandel handeln. Diese Kampagne erreicht Millionen Menschen mit optimis- tischen Botschaften und ruft dazu auf, selbst zu handeln, um das Ziel zu errei- chen, die Erderwärmung unter 2 °C zu halten (wobei Christiana Figueres, Gene- ralsekretärin der UN-Klimarahmenkon- vention, schon davor warnt, dass mit den derzeitigen Länderbeiträgen die Tempera- tur im Erdmittel um 2,7 °C steigen wird).
Wie bereits vor Kopenhagen 2009 sind die Erwartungen jetzt hochgeschraubt. Der katastrophale Ausgang der damaligen Verhandlungen zeigt, dass derjenige, der hohe Erwartungen schürt, auch tief fallen kann. „Keep it in the ground“ hebt sich jedoch gerade dadurch von anderen Kam-
Klimaverhandlungen November 2015 51 pagnen ab, dass sie unabhängig von Politik
und vom Ausgang der Verhandlungen in Paris weiterhin die Grassroots Bewegung motivieren will, unmittelbar gegen den Klimawandel zu handeln. Selbstverständ- lich wird The Guardian Kritik ausüben, sollte es nicht zu einem befriedigenden Abschluss der Verhandlungen kommen, doch konzentriert sich die Kampagne in- teressanterweise auf die Dynamik in der Zivilbevölkerung. Die Redakteure wissen, dass das Momentum bei den Menschen liegt. Sie sind es, die sich für den Plane- ten einsetzen, sie sind es, die Transition zu erneuerbaren Energien anregen, und sie sind es, die Investoren dazu bewegen können, ihr Geld aus dem Geschäft mit fossilen Brennstoffen zu nehmen.
Auch die Zeitschrift The New Yorker be- schäftigt sich intensiv mit dem Thema, und gibt sogar Akteuren wie dem Papst eine Plattform. Franziskus ist wahrschein- lich nicht die Person, die die etablierte Leserschaft des Blattes sonderlich beein- flusst, und doch ist seine Stimme wichtig im Kampf gegen die Erderwärmung. Man mag von der katholischen Kirche halten was man will, aber sein rezenter Besuch in den USA hat illustriert, wie viel Macht er hat, und wie viel Gehör er sich verschaffen kann.
Obschon seit Jahren der Untergang der Presse und generell der Medien voraus- gesagt wird, haben sie doch immer noch einen großen Einfluss auf die Meinungs- bildung der Leser. Dies vielleicht umso mehr, seitdem wir dank sozialer Medien ununterbrochen mit Berichten versorgt werden. Problematisch kann das werden, wenn wir uns, was den Medienkonsum angeht, sehr einseitig ernähren. Dann le- ben wir in unserer individuellen Medien- blase, in der uns nur der Inhalt erreicht, dem wir ohnehin politisch zustimmen.
Es bleibt zu hoffen, dass die monatelange Arbeit der Medien — und selbstverständ- lich die der Verhandlungspartner — im Vorfeld der Pariser Konferenz Früchte tra- gen wird.
Doch nach COP21 ist vor COP22.
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