„Die Psychiatrie ist immer ein Spiegel der Gesellschaft“

Ein Gespräch mit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Raymonde Schmitz und dem Psychiater Paul Hédo

Ab wann gilt ein Mensch als psychisch gesund? 

Raymonde Schmitz: In Bezug auf Kinder existieren zahlreiche Faktoren, die bei der Differenzierung zwischen krank und gesund berücksichtigt werden müssen. Zumal die Kinder sich häufig nicht selbst äußern, dafür aber ihre Eltern. Dann muss man erst einmal klären, wem es denn nun eigentlich schlecht geht – den Kindern oder den Eltern. In der Kinder-Psychiatrie geht man dabei sowohl von subjektiven als auch von objektiven Faktoren aus. Es wird nachgefragt, wie das Kind sich fühlt, ob es den Eindruck hat, krank zu sein, sehr traurig, ganz aufgedreht oder extrem ängstlich ist. Von Relevanz ist, ob der Zustand des Kindes eine Teilhabe am normalen Leben verhindert. Demnach wird es genau dann problematisch, wenn die psychische Verfassung verunmöglicht, dass es beispielsweise zur Schule gehen oder sich auf einem Spielplatz austoben kann. Die zweite essenzielle Frage bei Kindern ist, ob sie noch spielen können. Auch wenn es viele Beschwerden über ein Kind gibt, dieses aber noch allein kreativ spielen kann, ist das eigentlich eher ein Zeichen von Gesundheit als von Krankheit. Wenn eine Diagnose bei Kindern gestellt wird, wird dieser Befund in der Regel zunächst auf drei Monate begrenzt, weil man das Kind bewusst nicht dauerhaft mit dem Etikett der Krankheit versehen und dem Umstand Rechnung tragen will, dass es sich noch in der Entwicklung befindet. Psychisch gesund zu sein schließt im Übrigen einen gewissen Leidensdruck nicht aus. Man kann in Situationen, wie der, die wir gerade durchleben, einen starken Leidensdruck empfinden und trotzdem als gesund gelten. 

Paul Hédo: Der Ansatz, tatsächlich erst nach der Gesundheit statt nach der Krankheit zu fragen, ist gut. Wenn Sie sich die Definition von Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anschauen, merken Sie, dass dabei sehr hohe Ansprüche an den Menschen gestellt werden. Da heißt es nämlich: „La santé est un état de complet bien-être physique, mental et social, et ne consiste pas seulement en une absence de maladie ou d’infirmité“. Denn es geht um weit mehr, als nur darum, nicht krank zu sein. Wenn wir umgekehrt fragen, wer die benannten Bedingungen erfüllt, dann hätten wir auf einmal ganz viele Kranke um uns herum. Wenn ich jetzt aus einer rein psychiatrischen und nicht philosophischen Perspektive auf die Frage antworte, dann braucht es den Verweis auf offizielle Diagnose­kriterien für Krankheiten. Gebräuchlich sind dabei jene der WHO sowie die der American Psychiatric Association (APA). Prinzipiell versuchen Psychiater, sich an diesen Kriterien zu orientieren, wohlwissend, dass wir eine gewisse kritische Distanz zu ihnen haben müssen und es sich dabei nicht um die letzte Wahrheit handelt. Diagnosen beschreiben lediglich den momentanen Ist-Zustand. Wie die Kinder sind auch Erwachsene entwicklungsfähig. Ich würde sagen, dass Psychiater für gewöhnlich von einem relativ engen Krankheitsbegriff ausgehen, während Psychologen diesen möglicherweise weiter fassen. Außerdem geht es ja auch um die Frage, was man als Normalität definiert. Wenn ich mir diese Frage jetzt bei typisch psychiatrischen Krankheitsbildern wie Schizophrenie oder einer manischen Phase stelle, dann liegen klar etablierte Krankheitskriterien vor. Es gibt jedoch auch andere Krankheitsfälle, bei denen die Fragestellung nicht mehr so einfach zu beantworten ist. Hierbei kommt es ebenfalls auf die theoretische Ausrichtung an. Systemiker gehen zum Beispiel davon aus, dass ein scheinbar krankes Verhalten als eine adäquate Reaktion auf ein krankes System interpretiert werden kann. 

R. S.: Außerdem stellt sich immer die Frage, zu welchem Zweck eine Diagnose gebraucht wird. Hinsichtlich dieses Punkts unterscheidet sich die Erwachsenen- von der Kinderpsychiatrie. Ein Kind erfragt seine Diagnose schließlich nicht selbst. Häufig sind es die Eltern. Bei den Kindern spielt die an Erziehung und Entwicklung gekoppelte Norm eine größere Rolle als bei den Erwachsenen. Manchen ist es scheinbar wichtig zu wissen, ob ihr Kind der Norm entspricht, sie erhoffen sich von Diagnosen, die Situation besser einordnen und anhand dieser entscheiden zu können, ob sie damit leben können oder nicht. Man kann beispielsweise feststellen, dass verschiedene Kulturkreise auf die Diagnosen, von denen Herr Hédo eben sprach, unterschiedlich reagieren, weil die subjektive Einschätzung von Normen und Normalität unterschiedlich sind. Das gilt übrigens auch für jeden Diagnostiker. Auch hier kann variieren, was der Einzelne selbst noch als normal einstuft und was nicht. 

In Luxemburg gilt die Familie nach wie vor als einer der wichtigsten Stützpfeiler. Hat sich diese kleine Einheit durch Corona nicht trotzdem zu einer Art (verkannten) Problemzone entwickelt? Wurde der Familien­segen durch die Restriktionen nicht auch zum Fluch, weil man quasi gezwungen war, sich ausschließlich innerhalb der Kernfamilie zu bewegen?

P. H.: Es ist klar, dass die Situation zu eskalieren droht, wenn man sich nicht mehr aus dem Weg gehen kann, jeder angespannt ist und möglicherweise auch noch ein Suchtproblem hinzukommt. Es gibt einige Studien und Befunde, die darauf hinweisen, dass es in verschiedenen Familien zu mehr Gewalt gekommen ist. Ebenfalls vermerken Notfallhotlines, dass die Zahl der Anrufer, die von Übergriffen berichten, hochschnellte. Gleichzeitig wird aber mancherorts auch ein Rückgang der Anrufe vermeldet. Hilfesuchende, darunter auch Kinder, melden sich auf einmal nicht mehr, verschwinden vom Radar und die Betreuer der Hotlines wissen nicht, wie es ihnen in der Folge erging. Eine andere Sache, die mir aufgefallen ist und über die eigentlich relativ wenig gesprochen wird, ist die Doppelbelastung der Mütter. Auch wenn Männer mittlerweile mehr Aufgaben zuhause übernehmen, glaube ich, dass Frauen stärker von der Doppelbelastung betroffen sind. Auf einmal waren die Eltern im Homeoffice – die Kinder ebenfalls, da sie nicht mehr zur Schule respektive in Internate oder sonstige Betreuungsstrukturen gehen konnten. Kinder mit besonderen Bedürfnissen oder Lernschwierigkeiten waren auf einmal nur noch bei ihren Eltern, die auch in vielen Fällen versucht haben, ihr Bestes zu geben, plötzlich aber auf sich allein gestellt waren. In solchen Momenten ist die Familie tatsächlich Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite ist es schön, dass die Familie präsent ist und nach jemandem sehen kann. Auf der anderen Seite stellte dies – gerade für Mütter – eine sehr starke Belastung dar, die öfters zu Depressionen führen kann, weil die Betroffenen einfach nicht mehr alles geschafft haben. Es gibt ja diesen afrikanischen Spruch „it takes a village to raise a child“, aber wegen Corona standen sie auf einmal allein da.

R. S.: Hierzulande waren die Schulen ja nur begrenzt zu, das hat definitiv geholfen, denn die ganze Zeit zusammen zu sein, und keinen anderen Raum zu haben, in dem man sich als Erwachsener oder als Kind zurückziehen kann, ist immer belastend. Zu enge Beziehungen, das kennen wir aus der Psychiatrie, machen krank. Der Mensch braucht Abgrenzung. Die Pandemie hat diese beiden Seiten der Familie, also Fluch und Segen, die der Familie inhärent sind, noch deutlicher hervorgehoben. Zum einen braucht man eine Familie. Zum anderen läuft aber gerade dort die größte emotionale Belastung zusammen. Auch ich habe das jetzt bei meinen kinderpsychiatrischen Konsultationen miterlebt. Es gibt allerdings auch Familien, die gerade durch diese Krise Zeit anders investieren und Positives daraus schöpfen konnten. Manche gewannen durch das Homeoffice Zeit. Zumal jene Familien, in denen beide Elternteile voll berufstätig sind. Dieser Umstand hat verschiedene Familien sogar gerettet. Unter anderem auch, weil sie endlich Zeit hatten, uns zu konsultieren und Termine bei uns wahrzunehmen, die sonst nicht in den überladenen Zeitplan gepasst hätten. 

Inwiefern hängt die Stabilität der Psyche mit jener der Wirtschaft zusammen? Bedeutet der Wohlstand in Luxemburg automatisch eine Unversehrtheit auf psychischer Ebene, oder sind Menschen in Luxemburg vielleicht im Gegenteil sogar besonders gefährdet?

P. H.: Es ist durchaus bekannt, dass es eine Verbindung zwischen der ökonomischen Situation und mentaler Gesundheit gibt. Arbeitslosigkeit geht zum Beispiel mit einem höheren Suizid-Risiko einher. Wenn Menschen existenziell bedroht sind, etwa in Finanzkrisen oder Pandemien, dann kann dieses Risiko hochschnellen. Auch Migration ist ein Risiko-Faktor für psychische Störungen. Eben weil die luxemburgische Bevölkerung migrantisch geprägt ist, sollte man diese spezifische Komponente genauer unter die Lupe nehmen. Sie stellen aber eigentlich eine Frage, die weit über Corona hinausreicht. Nämlich jene danach, ob unsere Lebensbedingungen noch gesund sind. Zu einem Teil denke ich – nein. Wir haben immer höhere Erwartungen an uns selbst und die anderen, es gibt immer mehr wirtschaftliche Zwänge, die Arbeitswelt wird kompetitiver. Wir leben in einer unruhigen Zeit, in der auch Kinder und Jugendliche oft zu kurz kommen. Wir müssen uns allmählich fragen, ob unser Gesellschaftsmodell nicht dazu führt, dass wir verpassen, glücklich zu sein, weil wir dem „Glück“ permanent hinterherrennen.

R. S.: Armut, und diese ist in Luxemburg ja durchaus existent, ist immer ein Risikofaktor für psychische und physische Krankheiten. Es gibt bereits Studien, die belegen, dass ärmere Bevölkerungsschichten stärker von COVID-19 betroffen sind. Hinsichtlich ihrer Fragestellung geht es weniger um den Wohlstand an sich, als vielmehr darum, was man macht, um zu Wohlstand zu gelangen – um die Zeit, die exklusiv investiert wird, um Wohlstand zu erhalten oder ihm nachzujagen, statt sie beispielsweise zur Beziehungspflege – unter anderem zu seinen Kindern – zu nutzen. Das macht krank. Bei Kindern merkt man das direkt. Wir treffen Kinder aus ärmeren Familien, die vernachlässigt werden, aber auch welche, bei denen die Vernachlässigung seitens der Eltern gerade von einem ausgeprägten Materialismus herrührt und einfach nicht mehr auf die emotionalen Bedürfnisse der Kleinen eingegangen wird. Meine persönliche Einschätzung ist, dass Familien, in denen großer Wohlstand vorherrscht, aktuell weniger stark gefährdet waren, psychisch krank zu werden, allerdings durch die Pandemie bei ihrem Wettlauf um immer mehr Wohlstand ausgebremst wurden. Wie es wirklich um Luxemburg bestellt ist, werden wir ohnehin erst später erfahren, da sich vieles erst zeigen wird, wenn Maßnahmen wie die Kurzarbeit aufgehoben und bestimmte finanzielle Hilfen ausgesetzt werden, durch die sich bestimmte Menschen aktuell noch über Wasser halten können. 

Resilienz: Nur ein Trendbegriff, der Menschen zu immer mehr Widerstandskraft auffordert, statt auch Schwächen zu tolerieren?

P. H.: Ich denke, dass wir uns eine Zeitlang in der Psychologie und Psychiatrie zu sehr auf Probleme fokussiert und den Aspekt der Resilienz dabei außer Acht gelassen haben. Dabei kann man Resi­lienz sinnvoll fördern. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob Eltern ihren Kindern vermitteln, dass es sehr schlimm sei, eine Maske zu tragen, oder ob sie ihnen sagen, das Virus sei nun mal da und man müsste gemeinsam versuchen, sich bestmöglich dagegen zu schützen und dürfe den Mundschutz zuhause ja wieder abnehmen. Schon allein wie das präsentiert wird, kann bei Kindern darüber entscheiden, wie gut sie damit klarkommen. 

Handelt es sich dabei nicht um einen zusätzlichen Auftrag, bei dem es wieder heißt: Du musst stark sein?

P. H.: Ja, aber das ist überall so. Wir leben in einer Gesellschaft, in der angeblich jeder seines eignen Glückes Schmied ist, man seine self performance mithilfe eines Coaches optimieren muss und auf der Arbeit Fortbildungen angeboten werden, die dabei helfen sollen, das eigene Potenzial auszuschöpfen. Es ist eine Gesellschaft, die im Allgemeinen suggeriert – und das geht mit der ultraliberalen Ideologie einher –, dass man alles können und hinkriegen muss. Es kann sein Gutes haben, wenn Menschen dazu ermuntert werden, weiterzukommen. Der Nachteil ist, dass Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, auf einmal im Regen stehen. Sie sind damit konfrontiert, dass man sie fragt, warum sie sich diesen Entwicklungen nicht anpassen können. Das schafft sehr viel Leid bei bestimmten Menschen. 

Aber wer sagt dann, dass man auch mal schwach sein darf?

R. S.: Als der Begriff der Resilienz aufkam, wurde festgestellt, dass verschiedene Menschen in ihrer Kindheit und im Laufe ihres Werdegangs ganz traumatische Situationen erlebt haben und trotzdem etwas aus ihnen geworden ist. Das wurde dann wiederum auf Resilienz zurückgeführt. Eigentlich ein positiver Befund, aber zeitweilig wird das dann tatsächlich zum Trend oder Allheilmittel hochstilisiert. Das heißt, man muss quasi schon präventiv Resilienz antrainieren, um alles zu schaffen. Da kann ein Ungleichgewicht entstehen, bei dem Resilienz kein Hilfsmittel mehr darstellt, sondern ein Druck entsteht, alles erlernen zu müssen, was es braucht, um ja nicht psychisch krank zu werden. Aber wenn es einem schlecht geht, dann geht es einem nun mal schlecht. Die moderne Leistungsgesellschaft hat sich auch in der modernen Psychotherapie ihren Weg gebahnt. Auf einmal muss jeder Techniken kennen, Schutzmechanismen griffbereit haben und Resilienzfaktoren aufzeigen, um kreativ seine eigenen Probleme zu lösen. Die erste Etappe ist jedoch im Grunde genommen, sich das anzuschauen, was da ist und es eben zum Ausdruck bringen zu können und sich dafür nicht schämen zu müssen. Das ist auch das Feedback der Jugendlichen, das ich so mitbekomme. Diese jungen Menschen wollen nicht die ganze Zeit resilient sein. Sie wollen nicht ständig hören, sie sollten sich hier anpassen und da kreativ nach Lösungen suchen. Sie wollen auch manchmal einfach loslassen. 

Paulette Lenert nahm sich rezent eine Auszeit und sprach öffentlich von Überarbeitung. Der Bürgermeister Felix Eischen ging offen mit seinem Burnout um. Im vergangenen Jahr verlor Luxemburg einen Politiker durch Suizid. All diese Fälle wurden nicht totgeschwiegen. Herrscht in Luxemburg mittlerweile eine andere Akzeptanz, wenn Personen des öffentlichen Lebens an ihre psychischen und physischen Grenzen stoßen und sich dazu äußern?

P. H.: Politiker zahlen einen hohen Preis. Man denke nur an Camille Gira oder Félix Braz. Politiker stehen unter permanentem Druck. Unsere Gesellschaft hat inzwischen ein anderes Zeitgefühl, es muss alles unglaublich schnell gehen. Wir merken das auch bei uns im Krankenhaus: Wenn du jemanden aufnimmst, sollst du sofort in die Akte schreiben, wie du ihn zu behandeln planst, obwohl du noch nicht einmal die Zeit hattest, herauszufinden, wo das Problem überhaupt liegt. Die Zeit läuft uns eigentlich permanent davon. Das führt dazu, dass außerordentlich selten Ruhe herrscht. Die Gesellschaft will immer schneller einfache Antworten auf komplexe Fragen. Das ist auch für Politiker und uns Psychiater ein Problem, weil es fast nie einfache Antworten gibt. 

Ja, aber ist es nicht neu, dass eine Gesundheitsministerin im Radio sagt, dass ihr Körper ihr ein Warnsignal gesendet hat, auf das sie hören muss?

P. H.: Möglicherweise schon. Auch Felix Eischen hat ja eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der er mitteilte, dass er wegen eines Burnouts einige Monate ausfällt. Das halte ich tatsächlich für ein wichtiges Zeichen. Und es gab auch mehrere Debatten in der Chamber zur mentalen Gesundheit, bei denen offen und verständlich kommuniziert und sich darauf geeinigt wurde, dass die Schamhaftigkeit, die dem Thema immer noch anhaftet, abgebaut werden müsse. Es wird nicht verschwiegen, dass es sich nun mal um Krankheiten handelt, die häufig sind und in quasi jeder Familie vorkommen. Es ist gut, wenn Menschen, die im öffentlichen Leben stehen, seien es nun Künstler, Sportler oder Politiker, dazu stehen können, wenn sie ein psychisches Problem haben oder hatten. In Ettelbrück gab es früher einen Friedhof, auf dessen Gräbern die Namen von Verstorbenen nicht vermerkt wurden, damit niemand nachschauen konnte, ob vielleicht jemand aus einer Familie einmal psychische Probleme hatte. Diesbezüglich hat sich viel verändert. Die Psychiatrie ist immer ein Spiegel der Gesellschaft.

R. S.: Ein österreichischer Minister ist ja ebenfalls zurückgetreten und nannte psychische Probleme als Gründe. Auf mich wirkte dies positiv, weil hier jemand die Notbremse gezogen hat, bevor möglicherweise ein Herzinfarkt oder ein Suizidversuch stattfindet. Früher kam es leider häufig erst dann zur Kommunikation über psychische Probleme, wenn bereits etwas Schlimmes passiert war, so zum Beispiel beim deutschen Fußballspieler Robert Enke. Grenzen zu setzen bleibt aber nach wie vor schwierig. Vielen fällt das beispielsweise auf der Arbeit sehr schwer. Es ist legitimiert, einen Krankenschein in Anspruch zu nehmen, wenn man bereits sehr krank ist, aber was ist mit dem Prozess davor? Wenn Personen des öffentlichen Lebens zeigen, dass es in Ordnung ist, Probleme auszusprechen, bevor ein Limit erreicht ist, ohne Angst haben zu müssen, abgesägt zu werden, könnte sich dies auch auf andere Bereiche auswirken.

P. H.: Hierbei muss man ehrlicherweise sagen, dass eine derart offene Kommunikation in manchen Arbeitsmilieus weit mehr akzeptiert wird als in anderen. Gerade in Luxemburg gibt es Wirtschaftszweige, die extrem kompetitiv sind.

In Luxemburg haben Professionelle aus dem Bereich der Psychiatrie eine Stimme in der Öffentlichkeit. Betroffene kommen indes weniger häufig zu Wort. Jedoch wird zusehends in zahlreichen Podcasts oder auf Instagram durch Accounts wie jenen mit dem Namen @mokuchsdag – Eng Plattform op lëtzebuergesch zum Thema psychesch Gesondheetsprobleemer auch diese Perspektive beleuchtet. Hat das nur Vorteile, oder kann diese rein subjektive Sicht auf Krankheiten auch Nachteile bergen? 

P. H.: Es gibt ja Menschen, die sagen, wir würden nicht mehr in einer Demokratie leben, sondern in einer Emokratie. Es seien demnach Emotionen, welche die Gesellschaft regulieren. Dazu gehört wohl auch, dass manche Einzelschicksale in der Öffentlichkeit breitgetreten werden. Ich denke, dass authentische persönliche Berichte ab und an sicher dabei helfen können, bestimmte Problematiken besser zu verstehen. 

R. S.: Es gilt verschiedene Punkte zu berücksichtigen: 1. Wie bringt man eine Gesellschaft dazu, sich mit etwas auseinanderzusetzen? Als Bürgerin, die sich ja auch mit der gesamten Gesellschaft auseinandersetzt, denke ich, dass es auch manchmal solche Schockmomente wie beispielsweise #metoo geben muss, damit es überhaupt zu Debatten kommt. Viele junge Frauen sowie eben auch betroffene Männer haben eine ungeheure Angst davor. Für die, die den Schritt wagen, stellt sich die Frage, wie sie es verarbeiten. Jeder hat da einen anderen Umgang. Es kann auch ein Schutzmechanismus sein, es nach außen zu tragen. Dann ist man eine öffentliche Person. Psychologisch gesehen ist es dennoch nicht ganz ungefährlich. Als Psychiaterin bin ich in einer solchen Situationen für meine Patienten da. Man muss mit Menschen, die solche Bekenntnisse in der Öffentlichkeit planen, schauen, welche Konsequenzen dies für sie hätte. Man muss mit ihnen eruieren, was es für sie bedeutet und welche Erwartungen sie daran knüpfen. Ob sie Kraft daraus schöpfen können, selbst Aufmerksamkeit generieren wollen oder sich quasi als Botschafter in sublimierter Form sehen. 

Journalisten müssen sich diese Fragen auch stellen, wenn sie eine Plattform bieten.

R. S.: Wenn sie es bei Youtube selbst veröffentlichen, gibt es ja keine Grenze, keine Schranke. Ich denke, dass es für Betroffenen durchaus eine interessante Erfahrung darstellen kann, Journalisten zu treffen, die vielleicht Grenzen benennen können. Es kommt sehr auf das Stadium der Verarbeitung an, in dem sie sich befinden. Es ist immer die Frage, ob es noch konstruktiv ist. Das Ideal wäre eigentlich, Betroffene zu finden, die in ihrem Verarbeitungsprozess schon fortgeschritten sind und sich mit einer gewissen Distanz äußern können. 

P. H.: Man muss bedenken, dass eine Entwicklung eben gerade dahin geht, solche Plattformen gezielt zu nutzen. Es ist auf jeden Fall ein Stück weit modern geworden. Meine Tochter ist 11 und berichtet mir permanent, was Billie Eilish alles so über ihre Krankheiten erzählt. Gehör zu bekommen, kann auch eine Form von Anerkennung sein, die diese Menschen bewusst suchen. 

Destination Post-Corona. Was werden wir brauchen?

P.H.: Es wäre definitiv wünschenswert, in den Krankenhäusern schnellstmöglich wieder zu den normalen Abläufen zurückkehren zu können. Ein Überdenken der Situation in den Notaufnahmen ist ebenfalls notwendig. Es muss reflektiert werden, wer aus psychiatrischer Sicht in eine Notaufnahme gehört und wer nicht. Wir haben außerdem bereits in mehreren Interviews betont, wie wichtig es ist, der Psychiater-Knappheit entgegenzuwirken. Natürlich wäre es gut, wenn die Psychotherapeuten und die Krankenkassen sich bald einigen könnten. Unsere Sorge ist, und da kommen wir gewissermaßen auf die Eingangsfrage zurück, dass in nächster Zeit sehr viel Geld in allgemeine mentale Gesundheit investiert werden wird, aber vielleicht, wenn der Begriff sehr weit gedehnt wird, das Risiko entsteht, dass die Personen, die den härteren psychiatrischen Krankheitsbildern entsprechen, auf einmal vergessen werden. Man muss aufpassen, dass schwer kranke Menschen nicht auf einmal durch ein allzu breit angelegtes Raster fallen.

R. S.: Wir sind alle während dieser Pandemie viel gerüttelt und erschreckt worden. Es geht nun zahlreichen Menschen sozusagen „normal schlecht“, ohne dass sie deswegen gleich als krank einzustufen wären. Deswegen wird es künftig auch darum gehen, Aufmerksamkeit und Akzeptanz gegenüber psychischem Leiden zu zeigen. Es ist sehr wichtig, dass das, was nun passiert ist, nicht zu schnell ad acta gelegt und vergessen wird. Menschen, denen es schlecht ging, gab es auch schon davor, es wurde sich nur weniger für sie interessiert. Jetzt, wo sich dies geändert hat, würde ich mir wünschen, dass das Interesse auch anhält, gerade weil es beispielsweise viele Kinder gibt, die wirklich unter schlechten Bedingungen aufwachsen. Sie werden groß, aber die sogenannte prévention spécifique, von der seit 30 Jahren die Rede ist und die eigentlich umgesetzt werden sollte, bleibt aus. Sie sollte nun endlich realisiert werden. Es sollen sozusagen nicht noch mehr Präventionsangebote für eine Klientel geschaffen werden, der es ohnehin besser geht, während dabei andere, stärker betroffene Gruppen, die mehr Risikofaktoren ausgesetzt sind, vergessen werden. Wir brauchen mehr Mittel, um uns um Letztere zu kümmern. Ich bin einfach der Überzeugung, dass menschliche Anteilnahme präventiv und entwicklungspädagogisch und -psychologisch bereits sehr wirksam sein kann.

Vielen Dank für das Gespräch! 

(Das Gespräch fand am 4. Mai 2021 statt, die Fragen stellte Anne Schaaf.)

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