- Politik
Die Selbstgerechten
Über die bürgerliche Ablasspartei Déi Gréng
Im Herbst 2019 endete mit der Traversini-Affäre jäh die Erfolgssträhne der luxemburgischen Grünen. Der populäre Differdinger Député-maire, der zudem im Gespräch stand, wegen der schweren Erkrankung des grünen Vizepremiers und Justizministers Félix Braz in die Regierung nachzurücken, fiel über die sogenannte Gartenhäuschen-Affäre. Das erste Mal in ihrer Geschichte wurden Déi Gréng mit dem Vorwurf konfrontiert, dass einer ihrer wichtigsten politischen Vertreter ausgerechnet gegen das Naturschutzgesetz verstoßen und öffentliche Mittel für Privatzwecke missbraucht haben könnte. Das vor dem Hintergrund, dass die Partei innerhalb eines Jahres zwei ihrer Spitzenpolitiker verloren hatte: Camille Gira durch seinen plötzlichen Tod, dann Félix Braz wegen der gesundheitlichen Folgen eines Herzinfarkts. Zudem geriet die grüne Umweltministerin Carole Dieschbourg ins Fahrwasser der Affäre, weil ihre Verwaltung Roberto Traversini nachträglich Genehmigungen erteilt hatte. Das hatte die Opposition schnell als eine Gefälligkeit gegenüber dem bedrängten Parteifreund ausgelegt. Die Grünen, selbst stets schnell zugegen, um dem Gegner politische, moralische und rechtliche Verfehlungen vorzuwerfen, hatten ihre institutionelle Unschuld verloren. Sie reagierten allerdings schnell, entzogen ihrem Député-maire die Unterstützung, legten ihm den Rücktritt von all seinen Ämtern nahe und leisteten genug Überzeugungsarbeit, sodass die Integrität der angeschlagenen Ministerin Dieschbourg bald nicht mehr zur Debatte stand.
1000 Mitglieder und schlechte Umfragewerte
Parteipolitisch gesehen ist die Bilanz der Grünen jetzt, über ein Jahr später und nach mehr als sieben Jahren Regierungsbeteiligung, gemischt. Die Zahl der Parteimitglieder ist, und das war wohl nicht anders zu erwarten bei einer Regierungsbeteiligung, wo es auch Posten zu verteilen gibt, von ca. 600 im Jahr 2013 auf um die 1.000 Mitglieder 2019 gestiegen. Die Grünen sind mit neun Abgeordneten, drei mehr als bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung, die vierte Partei im Parlament. Sie besetzen fünf Ministerposten, davon drei – Justiz, Verteidigung und Innere Sicherheit –, die zu den hoheitlichen Kernaufgaben des Staates gehören, während die beiden größeren Koalitionspartner sich die beiden anderen teilen – die Finanzen für die DP, die Außenpolitik für die LSAP. Damit tragen sie eine besondere staatspolitische Verantwortung. Mit der Übernahme des Wohnungsbauministeriums 2018 sind sie zudem zuständig für die Lösung der Wohnungsnot, die das größte Problem fast aller jungen Haushalte ist und das der Klein- und Mittelverdiener aller Generationen.
Nun aber gibt es schlechte Umfragewerte. Konnten Déi Gréng im Dezember 2019 noch 15,9 % der Wahlabsichten auf sich verbuchen und damit die LSAP überholen, sank diese Zahl im Juni 2020 auf 13,4 % und im Dezember 2020 sogar auf 11,5 %. Die letzte Meinungsumfrage ließ auf den Verlust eines Sitzes schließen. Diese schlechten Werte sind nicht nur der Traversini-Affäre zuzurechnen, auch nicht den ständigen wüsten Anfeindungen aus den Bauern- und Jägerverbänden und -kreisen, denen die Umweltministerin ausgesetzt ist, oder der Stimmungsmache gegen die Justizministerin Sam Tanson in den sozialen Medien, die zuweilen strafrechtlich relevante Züge annimmt. Sie hängen vielmehr mit der Frage zusammen, ob Déi Gréng es in Zukunft noch schaffen werden, Menschen aus den neuen Milieus, die aus der Auflösung des traditionellen Arbeitermilieus und des traditionellen katholischen Milieus entstanden sind, darunter besonders jene Teile des bürgerlichen Mittelstands, die bis in die 1980er diesen sich auflösenden Milieus zur Seite standen, weiterhin an sich zu binden. Denn das war bis dahin das soziologische Erfolgsrezept der Grünen.
Grüne Durchbrüche vor 2013
Félix Braz war der erste, dem es nach den Gemeindewahlen 1999 gelang, in einer großen Gemeinde, Esch-sur-Alzette, über eine rot-grüne Koalition in den Schöffenrat vorzudringen. Damals stand die Partei eher links und hatte viel Wählerzulauf aus Kreisen von Akademikern, Lehrern, Kulturschaffenden, Sozialarbeitern und sozial engagierten Menschen, denen die Sozialisten nicht genügend Akzente auf Stadtplanung und Umwelt legten. Indem die Grünen diese Koalition eingingen, ermöglichten sie es zwar den angeschlagenen Sozialisten und der Escher Linken insgesamt, ihre Hegemonie bis ins Jahr 2017 zu bewahren, doch gelang es ihnen, auch ihr eigenes Profil zu schärfen, das zunehmend liberaler bis bürgerlicher wurde.
Die Gemeindewahlen von 2005 brachten dann ein weiteres Novum. Den Grünen gelang der Sprung in den Schöffenrat der Hauptstadt, aber nicht mit einer linksstehenden Partei, sondern mit der rechtsliberalen DP, die mit nur ganz kurzen Unterbrechungen die Hauptstadt seit Ende des Ersten Weltkriegs fest im Griff hielt. Auch hier hatten die Grünen es unter François Bausch fertiggebracht, Stimmen aus Kreisen an sich zu ziehen, die weit über die traditionelle Wählerschaft der im Zentrum eher als Protestpartei wahrgenommenen Déi Gréng hinausreichten. Dass sie die Sozialisten einige Stimmen gekostet hatten, war nicht neu, aber diesmal gab es auch viele Wähler aus dem früheren katholischen Milieu, die aus Sorge um die Schöpfung, die historische Bausubstanz und die steigende soziale Not nicht mehr schwarz, auf keinen Fall blau, und daher eher grün als rot gestimmt hatten. Auch hier waren es wieder Akademiker, Lehrer, Sozialarbeiter, Kulturschaffende und sozial engagierte Kreise, die die Grünen stärkten, auch wenn deren kulturelle Prägung in der Hauptstadt nicht so stark von der politischen Linken bestimmt war wie in Esch.
Ein anderer Faktor spielte eine Rolle. Das grüne Milieu im Bezirk Zentrum wird seit den 1980er Jahren von der Umweltorganisation Mouvement écologique geprägt. Der Méco, obschon stark staatlich über seine Stiftung subventioniert, lehnt jegliche organische Verquickung mit politischen Parteien ab. Sein Ziel: als Pressuregroup auf die umweltpolitische Agenda von Staat, Gemeinden und Betrieben Einfluss nehmen, die dann Studienbüros mit weiteren Untersuchungen beauftragen. Zur Galaxie der politischen grünen Mandatsträger im Zentrum gehören daher seit der Jahrhundertwende zunehmend auch die Berater- und Studienbüros, die – direkt oder indirekt aus der Matrix Méco hervorgegangen – Staat, Gemeinden und Wirtschaft im Kontext unterschiedlicher Umweltproblematiken ihre Dienste anbieten und sich ihren Lebensunterhalt mit öffentlichen Aufträgen zur Entwicklung von Strategien, die abwechselnd zwischen Protestkampagnen und lang- bis mittelfristiger Lösungssuche anzusiedeln sind, verdienen. In anderen Worten: Im Zentrumsbezirk gibt es stärker als anderswo eine Art grünen Wirtschaftszweig, der eng mit umweltpolitischen Prozessen verbunden ist.
Bei den Lokalwahlen 2011 wurden die Koalitionen, die die Grünen in Luxemburg und Esch eingegangen waren, bestätigt. Insgesamt gewannen sie 72 Sitze, ein Plus von 31 Sitzen. Dieses Resultat legte einen neuen Trend zugunsten der Gréng als Hauptnutztragende der Auflösung der traditionellen Milieus offen. Zudem war es ihnen im Südwesten des Landes über die Jahre auch gelungen, Persönlichkeiten und Kreise anzuziehen, die weniger aus dem Dunstkreis enttäuschter Sympathisanten linker Parteien stammten, sondern linksliberal und ökologisch geprägt, dazu stark im Vereins- und Sportleben der dortigen Gemeinden engagiert, noch ohne politische Heimat waren, was sich jetzt auszahlte. Dazu zählen z. B. der Differdinger Schöffe Paulo Aguiar, der Mitte der 1990er Jahre mit 16 Jahren ins Großherzogtum zog, oder aber der Apotheker Marc Hansen aus Bascharage, der 2011 dort in den Gemeinderat zog und 2019 für Roberto Traversini ins Parlament nachrückte.
Die Grünen 2013
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass den Grünen bei den vorgezogenen Wahlen vom Oktober 2013 trotz des Verlustes eines Sitzes im Zentrum der Sprung in die Regierung gelang, während die LSAP keinen Sitz verlor und die DP vier gewinnen konnte. Da sie aber auch über eine starke Verankerung in allen vier Bezirken verfügten, eröffnete sich damit ein Gelegenheitsfenster für sie und all die Kräfte, die in DP und LSAP der Vorherrschaft der CSV ein Ende setzen wollten.
Im Norden dominierte ein „rurbaner“ Flügel um den Député-maire von Beckerich Camille Gira, der aus seiner Gemeinde ein vielbeachtetes Laboratorium für grüne Politik in einem ländlichen Raum im Wandel gemacht hatte. Diese Politik brachte eine Reihe national und europäisch subventionierter Initiativen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung und des Naturschutzes hervor. Das schuf neue Arbeitsplätze, die wiederum z. T. von jungen Akademikern aus der Region besetzt wurden.
Im Osten waren zwei alteingesessene Familien tonangebend: der Clan um den damaligen Député-maire Henri Kox, eine alteingesessene Winzergroßfamilie, die sich während der politischen Auseinandersetzungen um den Bau eines Atommeilers in Remerschen in den 1970er Jahren von der CSV gelöst hatte, und die in der Agrarindustrie tätige Dieschbourg-Familie.
Im Süden hatten die Grünen mit dem als moderat geltenden Félix Braz ihre Basis über ihren historischen Kern hinaus erweitern können. Auch hatten sie mit Braz, dessen Eltern in den 1960er Jahren aus Portugal eingewandert waren, im luso-luxemburgischen Umfeld punkten können, wo man traditionell bisher eher in Richtung der Volksparteien CSV und LSAP geschaut hatte.
Im Zentrum blieben die Grünen trotz des Verlustes eines Restsitzes in diesem Bezirk stark verankert. Zudem verfügten sie nun über eine breite Erfahrung in der Zusammenarbeit mit der LSAP und der DP. In anderen Worten: Déi Gréng waren in den vier Wahlbezirken implantiert, koalitionserfahren, z. T. schon parlamentarische Veteranen und ausreichend fit, um 2013 in eine Regierungskoalition einzutreten.
Die Grünen nach 2018 und vor 2023
Obschon sie konsolidiert aus den Gemeindewahlen von 2017 und gestärkt aus den Parlamentswahlen von 2018 hervorgingen, sieht es im Jahre 2021 und im Hinblick auf das Superwahljahr 2023 nicht mehr so glorreich für die Grünen aus.
Im Norden des Landes konnte der 2018 nach dem Tod von Camille Gira in die Regierung berufene langjährige Europaparlamentarier Claude Turmes die schlechte Ausgangssituation seiner Partei im Nordbezirk auffangen. Er blieb Minister, und mit der 35-jährigen Kleinunternehmerin Stéphanie Empain rückte eine Exponentin der U-40-Generation ins Parlament nach.1 Turmes, der als Europaparlamentarier mit viel Charisma und gut dokumentiert die kompliziertesten Dossiers einem breiten Publikum nahezubringen vermochte, macht nun auf Landesebene eine eher triste, technokratisch verkrampfte Figur. In einem Interview, das im August 2020 im Tageblatt erschien, gab Fraktionschefin Josée Lorsché folgendes über ihren Parteifreund zum Besten: „Claude Turmes kam von einer anderen politischen Plattform nach Luxemburg zurück und ist nun auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Er hat erkannt, dass es komplexer ist, Teil der Luxemburger Regierung als Mitglied des Europaparlaments zu sein.“
In der Tat bringt Turmes es nicht fertig, seine Landesplanungspolitik und seine grenzübergreifende Regionalpolitik verständlich zu vermitteln. Obschon sein Ministerium sie ausführlich bis detailversessen dokumentiert, ist es für betroffene Bürger kaum möglich, sich diese Vorhaben anzueignen und in einen politischen Erwartungshorizont einzuordnen. Und sein fehlendes Gespür für das, was für die Menschen wirklich wichtig ist, zeigt sich in einem Gespräch mit dem Lëtzebuerger Land am 26. Februar 2021, in dem er, vielleicht unbeabsichtigt, wie ein von der Wohnungsnot vollkommen unberührter Manager spricht: „Wenn hier nicht jeder eine Wohnung finden kann, dann müssen wir ein Interesse daran haben, dass das im nahen Ausland klappt, aber ohne dass dies dort zu Verwerfungen führt.“
Turmes, ein Gegner des CETA-Handelsvertrags mit Kanada, musste mit ansehen, wie seine Listengefährtin und Nord-Abgeordnete Stéphanie Empain die Zustimmung der Grünen zu ebendiesem CETA-Vertrag im Parlament vortrug. Für den linken Flügel ein Sündenfall. „Le décrochage des écologistes de la société civile est désormais acté. Les Verts luxembourgeois ont assumé leur Bad Godesberg“, schrieb Luc Caregari im Mai 2020 in der woxx. Und Josée Lorsché meinte dazu, warnend auf Turmes gemünzt, in ihrem Tageblatt-August-Interview: „Was CETA anbelangt, haben wir ein Abkommen innerhalb der Regierung, dass der jeweils zuständige Minister die Priorität hat, Entscheidungen für sein Ressort vorschlagen zu können. Wenn wir uns permanent gegenseitig ein Bein stellen, können wir genauso gut aufhören.“ Während der Veteran Turmes Kröten schlucken und sich belehren lassen muss, hat Empain inzwischen ihre Karriere als Berufspolitikerin angeleiert. Sie ist Präsidentin des Luxemburgischen Leichtathletikverbands (FLA) geworden, und ihr Mann wurde im Transportministerium auf einen leitenden Posten befördert, was von der normalisierten Zielstrebigkeit des grünen Nachwuchses zeugt.
Im Osten des Landes ist die personenstarke Kox-Familie, beruflich sehr breit und hochqualifiziert aufgestellt, 2021 am präsentesten, der Dieschbourg-Clan hingegen angeschlagen. Die Koxens verfügen über weitverzweigte politische Zugänge in vielen Interessensbereichen, und dies nicht nur im Osten des Landes, sondern mit Jo Kox bis an die Verwaltungsspitze des Kulturministeriums. Henri Kox, der 2019 in die Regierung nachgerückt ist, erweist sich allerdings immer mehr als ein enttäuschender Wohnungsbauminister und ein schwacher Sicherheitsminister. Er ist unfähig, seiner zuweilen klaren Sprache zur Wohnungsnot, zu den illegalen Machenschaften oder dem Sicherheitsproblem in Luxemburg-Stadt Taten folgen zu lassen. Sein Bruder Martin Kox hat 2017 die Escher Koalition mit CSV und DP eingefädelt, aus der sich die piefige Schildatruppe zusammensetzt, die sich alle möglichen Pannen in Sachen Bebauungsplan, Wohngemeinschaften, Esch2022 usw. erlaubt hat. Stramm bürgerlich orientiert hat Martin Kox den Abgang der historischen Escher linken Grünen um Muck Huss in Kauf genommen. Für Henri Kox ins Parlament nachgerückt ist dessen Nichte Chantal Gary, die vorher in dem vom Transportministerium abhängigen Verkéiersverbond tätig war. Obschon sehr gut vernetzt in der Sport- und Vereinswelt, hat sie politisch noch nicht viel von sich verlauten lassen.
Im Zentrum wird die Situation für die Grünen komplizierter. 2017 nutzte die leicht angeschlagene DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer die Gemeindewahlen, um eine konservativ-bürgerliche Koalition mit der CSV einzugehen, die zwei Sitze zugelegt hatte. Sie war des Hangs der wahltechnisch stagnierenden Grünen müde geworden, fast alle Angelegenheiten zu problematisieren und sie daran zu hindern, (fast) alles selbst zu bestimmen.
Sam Tanson, frühere RTL-Journalistin und Anwältin, die nach François Bausch die Grünen in der Hauptstadt anführte, wechselte 2018 in die Regierung. Als Justizministerin muss sie die Reform der Verfassung bis zum Ende der Legislative mit dem Parlament, aber ohne das versprochene Referendum durchbringen. Der konsensfähige Verfassungsentwurf ist dabei in Sachen Unabhängigkeit der Justiz immer konservativer und trotz Beschneidung einiger Kompetenzen des Großherzogs immer monarchischer ausgefallen. Als Kulturministerin und vor der Pandemie auch als Hoffnungsträgerin der Kulturschaffenden hat sie nun den Schwarzen Peter gezogen, weil sie alle Mühe hat, dem wirtschaftlich gebeutelten Kulturmilieu, das für ihre Partei wichtig ist, konsequentere Unterstützung zukommen zu lassen.
Ihr Nachfolger an der Spitze der hauptstädtischen Gemeindefraktion, François Benoy, wurde ebenfalls Abgeordneter und gilt als potenzieller Spitzenkandidat für die Gemeindewahlen. Er war vorher Pfadfinder, wie Sam Tanson Ex-RTL-Journalist und Koordinator von natur&ëmwelt, eine der vielen subventionierten Brutstätten des grünen Nachwuchses. Seine Art ist es, harte Fragen wie z. B. die nach Armut und Sicherheit mit einem bestimmten Neusprech-Brei zu zerreden. Da ist von „Multikausalität“ die Rede, von „transversalen“ Lösungen, die nur durch ein agierendes Aufgebot von Experten, NGOs und Sozialarbeitern, also den Déi Gréng nahestehende Berufsgruppen – wenn möglich „partizipativ“ – herbeigeführt werden können. Am Ende gibt es keine Sicherheitsprobleme im Garer Viertel, sondern nur Opfer auf Seiten der Drogenabhängigen und Dealer. Von seiner Partei zum parlamentarischen Budgetberichterstatter für 2021 nach vorne gepusht, ist Benoy ein weiterer typischer Exponent der neuen Generation der Grünen: hohes soziales Kapital, höflich, moderat, kundenfreundlich gegenüber den grün-affinen Strukturen, nie daran zweifelnd, dass er zu den Guten gehört, und mit seinem Auftreten als idealer Schwiegersohn ein ausgesuchter Blickfang für die Bürgerlichen, die so doch noch der grünen Versuchung erliegen könnten.
Die andere Aufsteigerin des Bezirks Zentrum und jüngstes Mitglied der Chamber ist Djuna Bernard, ebenfalls Pfadfinderin, gut vernetzt, zudem Partei-Ko-Präsidentin. Sie verfügt nur über eine sehr kurze berufliche Erfahrung im Sozialarbeitermilieu. Sie will 2023, so hat es zumindest François Bausch schon im Oktober 2019 dem Tageblatt-Chefredakteur Dhiraj Sabharwal in Wuhan und Chengdu erzählt, mit ihrem Ko-Präsidenten Meris Sehovic, Turmes’ früherem Assistenten im EU-Parlament, die Liste im Süden anleiten. Der Wortlaut des Mentors dieser Nachwuchsgeneration offenbart zudem einen durchaus eigenen Ton, in dem die Grünen übereinander wie über Familienmitglieder plaudern: „Sie (Bernard) hat mir aber gesagt, dass sie sich jetzt eine Wohnung im Südbezirk gekauft hat. Sie will bei den nächsten Wahlen im Südbezirk kandidieren. Ich finde das eine sehr gute Sache und werde das voll unterstützen.“ Umgekehrt hat Bernard in dem legendären Paperjam-Interview vom 3. April 2019, in dem sie unaufgefordert erklärt, sie könne sich durchaus vorstellen, einmal Premierministerin zu werden, erzählt, wie Bausch sie für die Liste angeworben hatte und ihn als einen der Menschen erwähnt, die seit ihrem 16. Lebensjahr den größten Einfluss auf sie ausgeübt haben.2
Bausch selbst will 2023 nicht mehr auf die Regierungsbank, aber trotzdem noch einmal ins Parlament. Er ist der grüne Politiker, dessen Arbeit die größte Sichtbarkeit erlangt hat – insbesondere durch die Neuaufstellung des öffentlichen Personennahverkehrs: höhere Frequenzen der Linien, neue Verbindungen, Gratistransport, die Tram in der Hauptstadt und weitere Großprojekte in spe. Die Pandemie hat verhindert, dass diese ÖPNV-Maßnahmen ihre volle Wirkung auf die Entlastung der Straßen und die CO₂-Bilanz des Landes entfalten konnten. Als eine Entlastung der unter wachsendem Druck stehenden Normalverdiener wurden seine Maßnahmen auf jeden Fall von den sozial Schwächeren akzeptiert. Nur waren sie nicht nur so gedacht.
Die Affären um die geheimen Polizeidatenbanken und den militärischen Regierungssatelliten LUXEOSys mach(t)en Bausch als Verteidigungs- und Minister für innere Sicherheit ordentlich zu schaffen. Beide Affären hatte er von seinem Vorgänger Etienne Schneider (LSAP) geerbt. Er selbst und Henri Kox, seit Juli 2020 Minister für innere Sicherheit, versuchen, Ordnung in diese Dossiers zu bringen, haben aber mangels Affinität eine strukturelle Schwierigkeit mit den Milieus der Streit- und Sicherheitskräfte. Es gibt zudem Leute aus diesem Umfeld, die systematisch darauf hinarbeiten, die Fähigkeit der Grünen, sich in diesen hoheitlichen Bereichen zu behaupten, zu behindern. Unbedarfte Äußerungen einer Josée Lorsché3, die unverdaute Idee einer „parlamentarischen Armee“, die sich auf humanitäre Einsätze konzentrieren soll, sowie die Überlegung, die NATO solle die Entwicklungsarbeit bei der Berechnung von Luxemburgs Beitrag zur Lastenteilung in Sachen transatlantischer Sicherheit miteinbeziehen, machen es nicht besser.
Die politisch in eine schwierige Situation geratene Tanson als Spitzenkandidatin im Oktober 2023, Benoy in der Reserve für die Stadt bei den Kommunalwahlen vom Juni 2023, und sollte er dann in den Schöffenrat gelangen, nicht mehr ministrabel bei einem Erfolg der Gréng bei den Parlamentswahlen, Bausch als erschöpfter Mentor am Ende seiner Karriere angelangt, ähnlich wie die Abgeordneten Back und Margue, die im Wahljahr 71 respektive 67 Jahre alt sein werden und vielleicht nicht einmal mehr dabei sein werden, der putative Jugendmagnet Djuna Bernard in den wahlpolitisch schwierigen Süden abgewandert: Die Grünen werden es im Oktober 2023 im Zentrumsbezirk schwer haben, ihre Klientel bei der Stange zu halten.
Im Süden, dem größten Wahlbezirk, werden die Grünen es ähnlich schwer haben. Sie müssen zumindest ihre drei Sitze verteidigen, und dies ohne das Zugpferd Félix Braz, ohne weitere größere Affinitäten mit linker politischer Sensibilität, die in Esch und Differdingen verspielt wurden, und das mit den im Süden völlig unbekannten, lokal nicht implantierten und bis dato nicht so richtig gebrieften Bernard und Sehovic als Spitzenkandidaten. Davon zeugt ein Interview, das beide im Oktober 2020 mit Paperjam über die industrielle Zukunft Luxemburgs geführt haben, die für den Süden von besonderer Bedeutung ist. Völlig unbedacht wird in seelenlosem Managerslang drauf losgeredet: „En tant que Déi Gréng, notre vision de la politique industrielle est claire: faire avancer l’économie verte vers la neutralité climatique à l’horizon 2050.“ Oder: „Avec la stratégie Rifkin, nous avons mis la digitalisation et la durabilité au centre du développement économique du pays, et donc aussi au centre de la politique industrielle, avec l’ambition de faire du Luxembourg un centre industriel durable et digital d’excellence.“4 Da wird nicht hinterfragt, was für gesellschaftliche Auswirkungen diese auf Wasserstoff und Durchdigitalisierung des Alltags basierte Strategie haben könnte, u. a. auf die Umwelt, die wachsenden Ungleichheiten und die Teilhabe an diesem Modell. Uberisierung der Wirtschaft, Arbeitnehmerrechte, Instrumentalisierung und Verdinglichung der Personen, Beschleunigung, sind auch kein Thema. Bürgerlicher könnte die Orientierung der Grünen im Südbezirk nicht ausfallen.
Partei-Ko-Vorsitzende Djuna Bernard hat diese Art zu funktionieren einmal im Paperjam aus ihrer persönlichen Perspektive ganz unbefangen und authentisch beschrieben.5 Sie erklärt dort dem Journalisten, dass weite Reisen ihr péché mignon sind. Sie wisse zwar, dass das nicht sehr ökologisch sei. Und dann kommt es, wie es von jedem Luxemburger Mittelständler, SUV-Fahrer, Globetrotter und Vielflieger mit residualem schlechtem Gewissen kommen könnte: „Mais il y a différentes manières de voyager, il faut le faire à bon escient. Je pense aussi que nous pouvons agir pour l’environnement chacun à notre échelle, par des voies différentes. Personnellement, je vais chez Naturata plutôt que dans d’autres magasins quand cela est possible, je prône les circuits courts […]. Cela compense un peu les voyages.“
Im Land, das einen der größten ökologischen Fußabdrücke der Welt hat und schon Mitte Februar den Overshoot Day erreicht, sind die Grünen im Jahre 2021 keine ökologische Protestpartei mehr, aber doch mehr als eine banale Regierungspartei. Sie sind eine bürgerliche Ablasspartei, und Naturata ist ihre Kirche, und jeder von ihnen ein kleiner Tetzel, bei dem sich die Wähler von ihrer Schuld freikaufen können. In dem Sinne ist im Marienland der Apfel direkt unter den Baum gefallen. Ob die Gréng gegen Schismen gefeit sind, ist demnach sehr unwahrscheinlich.
- Fünf von neun Mitgliedern der Grünen-Fraktion sind inzwischen jünger als 40 Jahre, während die anderen, mit 53, 60, 65 und 69 Jahren deutlich älter sind, und die mittlere und unterbesetzte Generation der vierzigjährigen Ministerinnen mit Dieschbourg und Tanson sitzt neben den Veteranen Bausch, Turmes und Kox in der Regierung, was 2023 zu einer Art Generationsbruch führen könnte.
- https://paperjam.lu/article/jai-senti-que-je-devais-y-alle (letzter Aufruf: 23. März 2021).
- Wie unbedarft sich Josée Lorsché äußern kann, zeigt ihr Interview mit dem Tageblatt vom 10. August 2020 mit Luc Laboulle: „François Bausch hat in den vergangenen Jahren unheimlich viel im Bereich der Mobilität geleistet. Wenn wir in dieser Koalition das Verteidigungsressort übernommen haben, zeigt das vor allem, dass François Bausch ein Realpolitiker ist, der die Verantwortung nicht scheut. Sein Ziel ist es ja nicht, Krieg zu führen, sondern ethische Kriterien einzuführen, um zu zeigen, dass Polizei und Armee demokratische Werte vertreten und unsere Grundrechte schützen.“
- https://paperjam.lu/article/politique-et-industrie-dei-gre (letzter Aufruf: 23. März 2021).
- https://paperjam.lu/article/jai-senti-que-je-devais-y-alle (letzter Aufruf: 23. März 2021).
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