Die Zukunft der Globalisierung

Politische Kohärenz für mehr Resilienz

„If we shut down the cities… we will save [people] from corona at one end, but they will die from hunger.“
Imran Khan, Prime Minister of Pakistan1

Für viele Menschen im Globalen Süden ist diese Aussage in den letzten Monaten zur bitteren Realität geworden. Es sind andere Gründe als hier bei uns, die die Menschen dort dazu veranlassen, auf die Straße zu gehen: die Aussicht, nach dem Verlust ihrer Arbeit vielleicht doch noch irgendwo als Tagelöhner unterzukommen. Die Hoffnung, einen Platz in einem der wenigen hoffnungslos überfüllten Überlandbusse zu ergattern, um zur Familie im weit entfernten Heimatdorf zu kommen. Die Verzweiflung bei dem Versuch, auf dem Markt Essen zu besorgen und dort wegen Verletzung der Ausgangssperre verhaftet zu werden. Wie würden wir – wenn wir aktuell von Beraubung demokratischer Freiheiten sprechen – uns nach Zyklon Amphan wohl in einem Notlager in Indien fühlen, das mit einem halben Quadratmeter pro Person ungefähr dem Lebensgefühl eines Mastschweins im Kastenstand entspricht? Nun, COVID-19 führt uns gerade die menschen- und umweltverachtenden Auswirkungen von Neoliberalismus und Globalisierung vor Augen.

Immer deutlicher werden die gewaltigen globalen Aufgaben, die weit über die wirtschaftliche Sicherung und gesundheitliche Versorgung der lokalen Bevölkerung hinausgehen. Die COVID-19-Krise zeigt die Interdepenzen der Globalisierung deutlich auf, die vorher für viele Menschen nicht offensichtlich waren: einerseits die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen menschlicher Aktivität und der Natur und andererseits die engen wirtschaftlichen Verbindungen verschiedener Länder in einer globalisierten Welt.

Laut Untersuchungen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen sind Zoonosen wie COVID-19 und durch wirtschaftliche Aktivitäten verursachte Phänomene wie Entwaldung, Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt eng miteinander verknüpft2 und verletzen insbesondere die Grundrechte der Menschen in Entwicklungsländern. Das Auftreten und die Verbreitung von Viren und Krankheiten wird Experten zufolge von diesen Umweltauswirkungen begünstigt. Dies bedeutet aber auch, dass wir durch das Voranschreiten und das sich ständig vergrößernde Ausmaß dieser Auswirkungen – wie beispielsweise der Regenwaldabholzung in Brasilien unter Bolsonaro – wohl erst am Anfang einer ganzen Reihe von Pandemien stehen. Angesichts dieser Situation ist die Frage internationaler Solidarität von größter Bedeutung, insbesondere in Ländern, die ohnehin schon extremen Bedingungen ausgesetzt sind. Die COVID-19-Krise ist eine globale Krise, die globale Antworten erfordert.

In den letzten Monaten hat sich allerdings gezeigt, dass auch ein kleiner wohlhabender Staat wie Luxemburg von der Solidarität anderer Länder und ihrer Einwohner abhängig ist, insbesondere der der Nachbarländer, die sich für die Sicherung bestimmter Dienstleistungsbereiche des Landes als wesentlich erwiesen haben.

Welche Möglichkeiten gibt es konkret, um aus dieser Krise zu lernen? Die Chance ist historisch, aber die Ausgangslage könnte kaum ungünstiger sein: Die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur lähmt Staaten innenpolitisch, zunehmend entstehen nationalistische Tendenzen innerhalb der Bevölkerung, gefördert durch Grenzschließungen und Ausgangsbeschränkungen, und lenken so von den wahren Dramen ab, die sich nicht nur an den europäischen Grenzen abspielen.

Der Ausnahmezustand könnte zum Normalzustand werden, wenn die Reaktion auf die Krise weiterhin – in Luxemburg und weltweit – nur auf nationaler Ebene vorangetrieben wird. Viele Menschen sind sich einig, dass eine Rückkehr zur „Vor-COVID-Realität“ weder wünschenswert noch langfristig machbar sei. Stichwort: „Normal was the problem“. Die Krise aber als Anlass für eine konstruktive und positive Entwicklung hin zu mehr politischer Kohärenz zu nehmen, könnte langfristig zu einer resilienteren Gesellschaft führen, die ökologische und soziale Krisen besser bewältigen kann.

Vision statt Reaktion

Was derzeit jedoch in Luxemburg fehlt, ist eine Debatte über globale Entwicklungsfragen im Rahmen der Post-COVID-19-Reflexion. Die Diskussionen konzentrieren sich auf das Management des Gesundheitsnotstands, seiner Auswirkungen auf die luxemburgische Wirtschaft und die Gesellschaft. Kaum ein Blick richtet sich auf die offensichtlichen globalen Zusammenhänge oder eine systematische Aufarbeitung der Ursachen dieser globalen Krise. Diese lückenhafte Reaktion auf Symptome der Krise ist gleichzeitig auch Indikator bestimmter „Entwicklungs-Phänomene“ auf europäischer und weltweiter Ebene.

Oxfam International schätzt, dass nach der Coronakrise rund 500 Millionen Menschen mehr von Armut bedroht sind als davor – insgesamt die Hälfte der Weltbevölkerung könnte anschließend ohne sicheren Zugang zu den lebensnotwendigsten Gütern leben.3 In vielen Ländern würde dies den Kampf gegen die Armut um ein Jahrzehnt zurückwerfen, in der Sahelzone, im Mittleren Osten und in Nordafrika sogar um 30 Jahre.4

In Luxemburg kündigen sich derzeit Einschränkungen im Bereich der Kooperation an: Aufgrund der 1%-Kopplung an das Bruttonationaleinkommen ist ein erheblicher finanzieller Einbruch absehbar, der die in jahrelanger Arbeit vieler anerkannter NGOs erreichten strukturellen Verbesserungen im Globalen Süden gefährden könnte – dies ist nicht akzeptabel und auch keine reine Frage von Solidarität, sondern der Übernahme von Verantwortung für Fehlentwicklungen. Politische Kohärenz würde bedeuten, im Rahmen des wirtschaftlichen „Neustarts“ die systematischen Ursachen dieser Fehlentwicklung zu beseitigen und auf sozial nachhaltige Strukturen zu setzen, indem z. B. Neuabschlüsse von Kooperationsverträgen im Rahmen der 1%-Kopplung auf dem bisher erreichten Niveau fortgeschrieben werden, bis die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wieder besser sind.

Die Entwicklungsorganisation Action Solidarité Tiers Monde (ASTM) stellt in dem Dokument Après la crise5 eine Reihe von Fragen an luxemburgische Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kooperation zu Finanzhilfen für luxemburgische Unternehmen, der globalen Steuer(un)gerechtigkeit und einem möglichen „Global Debt Deal“, die exemplarisch für die COVID-19-Krise sind und damit auch in direktem Zusammenhang mit der Lebensrealität vieler Menschen im Globalen Süden stehen.

Verantwortung übernehmen in der gesamten Wertschöpfungskette

Die Vergabe wirtschaftlicher Hilfen für Unternehmen sollte unbedingt im globalen Kontext der Kooperation erfolgen – auch hier ist Kohärenz gefragt, insbesondere unter der neuen Konstellation von Wirtschafts- und Kooperationsministerium in Personalunion.

Als Gegenleistung für öffentliche Gelder sollten (transnationale) Konzerne eine größere soziale und ökologische Verantwortung übernehmen. So könnte sichergestellt werden, dass mit öffentlichen Geldern subventionierte Unternehmen zu einem wirtschaftlicheren Modell übergehen, das die Menschenrechte und die Umwelt in ihrer gesamten Wertschöpfungskette respektiert. Dies würde es luxemburgischen Unternehmen zudem ermöglichen, sich auf die Einführung künftiger Sorgfaltspflichten vorzubereiten.6 Dänemark beispielsweise verpflichtet Unternehmen, die eine Entschädigung im Rahmen der COVID-19-Krise beantragen, bereits dazu, die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte zu respektieren.7 Das Wirtschaftsministerium in Luxemburg könnte gemeinsam mit einigen Akteuren der privaten Wirtschaft auch einmal die Investitionspolitik der letzten Jahre überdenken und seine wirtschaftlichen Aktivitäten wieder auf die Erde konzentrieren, um die verfügbaren finanziellen Mittel für eine sozial und ökologisch gerechte Transition zu verwenden anstatt sie in den (Weltraum-)Sand zu setzen.

Besteuerung global gerecht gestalten

Stellt die COVID-19-Krise nicht die Gelegenheit dar, sich weltweit für mehr Steuergerechtigkeit einzusetzen? Noch einmal Dänemark: Dänemark und Polen haben beschlossen, Unternehmen, die in Offshore-Steueroasen registriert sind, keinen Zugang zu Finanzhilfen für ihre Rettungspläne im Rahmen der Coronakrise zu gewähren.8 Eine langfristige Herausforderung stellt sich auch mit der neuen Steuerreform multinationaler Unternehmen der OECD.9

Durch „Steuerumgehungspraktiken“ transnationaler Konzerne verlieren Entwicklungsländer Einnahmen in Milliardenhöhe, die sonst zur Stärkung öffentlicher Dienstleistungen verwendet werden könnten. Der IWF schätzt, dass den Ländern des Globalen Südens durch fehlende Unternehmenssteuer 200 Milliarden USD jährlich entgehen, verglichen mit 132 Milliarden USD, die sie an staatlicher Entwicklungshilfe erhalten. Die Problematik der Steueroasen ist in Luxemburg ja nun auch hinreichend bekannt – die Diskussion kann beginnen.

Auf dem Weg zu einem „Global Debt Deal“?

Allein aufgrund seiner großen Importabhängigkeit und dem sich daraus ergebenden Pro-Kopf-Verbrauch globaler Ressourcen, der mit zu den höchsten der Welt gehört, hat Luxemburg die – mehr als moralische – Pflicht, sich im Rahmen der langfristigen Reaktion auf die COVID-19-Krise und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen intensiv mit dem Vorschlag der Vereinten Nationen auseinanderzusetzen, ein globales Schuldenabkommen einzurichten.

Es ist offensichtlich, dass die Herausforderungen bezüglich der COVID-19-Krise in Entwicklungs- und Schwellenländern wesentlich größer sind als in fortgeschritteneren Volkswirtschaften, und das nicht nur aufgrund oftmals höherer Bevölkerungszahlen und enormer Anteile informeller Arbeit am Erwerbssektor. Infolge der Krise sind die Kreditkosten für arme Länder erheblich gestiegen, während Einkommen aus der Produktion von Grundnahrungsmitteln und Dienstleistungen drastisch gesunken sind. Im Klartext bedeutet COVID-19 für die betroffenen Staaten also sinkende öffentliche Einnahmen bei gleichzeitigem Schuldenzuwachs, bedingt durch vermehrte Kreditaufnahme zur Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems und relevanter öffentlicher Dienstleistungen. Dieser zusätzliche Schuldenzuwachs ist angesichts der schon bestehenden Verschuldung ohne globale Regulierung für die meisten Staaten nicht mehr zu schultern.

Einen ersten Schritt zur vorläufigen Entschuldung bildet die Mitte April getroffene Vereinbarung der G20 zur Umsetzung eines Schulden-Moratoriums insbesondere für die „least developed countries“. Doch diese bis maximal Ende 2021 vorgesehene Erleichterung allein wird nicht helfen, die strukturellen Probleme der Verschuldung der Entwicklungsländer zu lösen. Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) fordert einen zusätzlichen Schuldenerlass von einer Billion USD im Rahmen der COVID-19-Krise, rund ein Drittel der allein in 2020/21 fälligen Rückzahlungen.10 In dem im April 2020 vorgelegten „Global Debt Deal“ sieht sie zudem die Schaffung einer globalen Behörde zur Koordination und Überwachung der Umschuldung in Entwicklungsländern vor. Post-COVID-19 bedeutet in diesem Sinne vor allem auch die Stärkung der Binnenmärkte, um die globalen Abhängigkeiten zu verringern, deren Verlierer – wie am Beispiel vieler Freihandelsabkommen belegt – insbesondere die ohnehin schon marginalisierten Bevölkerungsgruppen sind.

Neben der Unterstützung durch Schuldenerlass auf UN-Ebene wären hier auch die vertraglichen Bedingungen staatlicher und privatwirtschaftlicher Kreditvergaben mögliche Stellschrauben, an denen es zu drehen gilt.

Lëtz’ make it happen

2019 hat Luxemburg die Konvention ILO 169 ratifiziert, das stärkste internationale Rechtsinstrument zum Schutz indigener Völker und ein weltweit respektierter Menschenrechtsstandard. Jedes Land, das diese Konvention ratifiziert und in seiner Innen- und Außenpolitik konsequent danach handelt, stärkt dadurch ihr internationales Gewicht. Es wäre daher auch politisch kohärent, als Staat zu versuchen, auf die Geschäftspraktiken inländischer Unternehmen einzuwirken. Die Beachtung solcher Verhaltenskodizes werden auch von Weltbank und OECD in ihren Leitsätzen für Auslandsinvestitionen verlangt.

Im Sinne der Ratifizierung wäre eine detaillierte Überprüfung staatlicher und privatwirtschaftlicher Beteiligungen an Fonds angebracht, um sicherzustellen, dass indigene Rechte, soziale Standards und Umweltauflagen als Auswahlkriterien angewendet werden. Als Land mit großen Wachstumszielen und einem ökologischen Fußabdruck, der um ein Vielfaches größer als die eigene Fläche ist, ist es umso wichtiger, eine alternative Rohstoff- und Energiepolitik anzustreben. Genau das Gegenteil geschieht aktuell immer noch bei dem im luxemburgischen Pensionsfonds gelisteten Bergbauunternehmen Newmont Mining, Betreiber der Yanacocha-Mine in Peru.11 Die globale Bergbauindustrie, eine der zerstörerischsten Industrien der Welt, profitiert aktuell von der Pandemie, indem sie mit allen verfügbaren Mitteln weiterarbeitet. Zudem nutzen Bergbauunternehmen und Regierungen die Krise, um regulatorische Änderungen auf Kosten von Mensch und Natur durchzusetzen.

Luxemburg hat sich für den Zeitraum 2022-2024 um einen Sitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen beworben – die politische Kohärenz in der Vorbereitung dieser Aufgabe könnte einen Beitrag zu mehr globaler Resilienz leisten. Lëtz’ make it happen.

  1. https://www.economist.com/leaders/2020/03/26/the-coronavirus-could-devastate-poor-countries (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 28. Mai 2020 aufgerufen).
  2. https://tinyurl.com/y9a6ocs7
  3. https://www.oxfam.org/en/research/dignity-not-destitution
  4. https://doi.org/10.35188/UNU-WIDER/2020/800-9
  5. https://actionsolidaritetiersmonde.org/wp-content/uploads/2020/05/Apre%CC%80s-la-crise.pdf
  6. https://tinyurl.com/ybdvytxb
  7. https://tinyurl.com/y9yx7wd2
  8. https://tinyurl.com/yd2wlqgz
  9. https://www.icrict.com/international-corporate-taxation-reform
  10. https://unctad.org/en/pages/PublicationWebflyer.aspx?publicationid=2710
  11. https://tinyurl.com/y9fttdlc

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code