Wir sind heute so weit, dass sich nicht das Ding als Ding, der Roboter als Roboter, sondern der Mensch als Mensch identifizieren muss – in unserer eigenen Welt sind wir es, die dem als Computer oder Smartphone getarnten Roboter stets und ständig beweisen müssen, dass wir keine Roboter sind. Können wir das nicht, dürfen wir nicht mitspielen.
Der Begriff Digitalisierung ist für mich das Unwort des Jahrzehnts. Die immensen technischen Errungenschaften und new gates, die unter der Schirmherrschaft der Digitalisierung entstanden sind und noch weiter entstehen werden, stellen uns menschlich vor mindestens ebenso zahlreiche, immense Probleme, die diese Technik nicht zu lösen vermag. Sie treffen auf analoges Denken, auf archaische Denk- und Verhaltensstrukturen, die tief in unserer jeweiligen Vergangenheit wurzeln, mit denen aber den logischen und überbordenden Konsequenzen der digitalen Revolution nicht beizukommen ist.
In Reaktion auf die erste industrielle Revolution und die beiden großen Kriege, die abgrundtiefe Inhumanität offenbarten und Millionen Menschen zuerst vernichteten, bevor die Verheißungen und Glückseligkeiten des Konsumzeitalters das Leben der überlebenden Menschen völlig neu konzipieren konnten, wurden unsere heutigen Werte – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Glück, das Recht auf Schutz allen menschlichen Lebens, auf freie Berufswahl, Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Nicht-Diskriminierung, Mitbestimmung, beschützte Kindheit, Bildung, soziale Sicherheit etc. – erfunden und als Menschenrechte in Verfassungen, Chartas, Gesetzen und Staatsformen verankert. Wer das Glück hatte, in den sogenannten industrialisierten Staaten zu leben, für den war es der Beginn eines goldenen Zeitalters.
Es entstanden jedoch in der Folge viele der globalen Probleme, die unseren Größenwahn mit unserer Kleinheit und Bedeutungslosigkeit im komplexen System unserer Erde, gar im Universum konfrontieren. Wir können forschen, entdecken, uns einmischen, ausbeuten, vernichten, aber letztlich wird sich die Erde auch ohne uns weiterdrehen, das Universum sich auch ohne uns in seiner ureigensten Geschwindigkeit ausdehnen. Die Digitalisierung kam um die Ecke geschossen und wird mit denselben Verheißungen und Glücksversprechen wie die Industrialisierung gelabelt. Im Schlepptau ebensolches Leid wie damals, Vernichtung tausender Arbeitsplätze, traditionsreicher Berufsbilder, Lebensentwürfe, Kompetenzen und Lebensformen. Die Menschen werden entwurzelt, ihrer Identitäten, ihres Selbstverständnisses beraubt. Suchtkrankheiten, Suchtverhalten treten an die Stelle von Sozialleben und Sozialverhalten. Die Nationen und Gesellschaften werden in Gewinner, Mitläufer und Verlierer gespalten; das sei der Preis des Fortschritts, sagen die, die sich als Sieger fühlen, und wenden sich achselzuckend ab. Die Menschen, die alles und sich selbst verlieren, sagen nichts, verstehen nichts, sind beschämt und, so die Hoffnung der Sieger, werden bald aussterben. Möglichst geräuschlos, das wäre doch nett. Einer von vielen Denkfehlern.
Der Technik Untertan
Der Begriff Digitalisierung ist hoch emotionalisiert. Man kann es kaum mehr in der überaus notwendigen Objektivität betrachten und debattieren, was weniger an den Emotionen liegt als an der Komplexität, die dieses Wort verdeckt. Es ist ein Wort, das heute zum allgemeinen Wortschatz gehört, wie Brot, Wasser, Sex und Habgier. Aber dieses Wort ist anders als alles, was wir bisher kannten, denn es ist kein Wort, das ein Ding, einen Zustand, eine Eigenschaft oder einen Menschen, ein Lebewesen beschreibt. Es betitelt den hyperkomplexen Prozess, der sich in den letzten 20 Jahren unsere Leben geschnappt und untertan gemacht hat. Jeden einzelnen Lebensbereich, in einer nie gekannten Konsequenz, mit einer bis dato unvorstellbaren Rücksichtlosigkeit. Es ist die technische Möglichkeit, die, wo immer wir uns heute – 2021 – auch hinwenden, uns unvermittelt anschreit: Ich bin schon da – identifiziere DICH als Mensch. Tun wir das dann, erhalten wir nicht immer, aber viel zu oft die Antwort – Ich – das Spracherkennungsprogramm! – kann Dich nicht verstehen, „ich“ schalte jetzt ab.
Der Mensch ist der Technik Untertan. Nur wenige beherrschen das Terrain, sie schreiben vor und machen die Regeln, die alle anderen zu befolgen haben. Demokratisch gewählt wurden sie nicht. Die Regeln werden beinah täglich geändert. Ernsthaft gefragt werden die Follower nicht, ob sie das wollen. Der Schein wird aufrechterhalten: Akzeptieren Sie Cookies? Nein? Dann öffnet sich die Website nicht oder das Programm verweigert den Zugriff. In der etwas derben Sprache meines Großvaters hieß das: Friss oder stirb. So nennt man das heute nicht mehr, aber es ist trotzdem so. Es ist der soziale Tod, der diejenigen ereilt, die sich – aus welchen Gründen auch immer – der digitalen Krake entgegen stellen und die Kooperation verweigern. Menschenrechte her oder hin. Dafür ist gerade keine Zeit. Zum Denken ist gerade keine Zeit.
Wenn es sich jetzt – wie der eine Begriff für diese allumfassende Revolution nahelegt – um nur einen Aspekt handeln würde, könnten wir vielleicht noch mithalten. Aber es ist eben immer etwas anderes, was sich als digitaler Fortschritt verkauft. Das Internet der Dinge, das Internet der sozialen Netzwerke und virtuellen Lebensformen, die Lieferdienste, die Smartphones, die selbstfahrenden Autos unten, die autonom kämpfenden Drohnen oben, die automatisierte Logistik in Megalagerhallen und Häfen, die sensorgesteuerten Kühe, die neuartigen Operationstechniken, die in Petrischalen isoliert wachsenden Organe (oder Babys), die Genomsequenzierung und -manipulationen, die robotergesteuerten Produktionsstraßen, die ISS und ihre kleinen Satellitenkumpels, die automatische Gesichtserkennung, online learning und space mining, die virtuelle Administration, virtuelles Geld und virtueller Diebstahl, die Sicherheits- und Vollüberwachungstechniken, die neuen Lebens- und Tötungsmittel und und und. Vom intelligenten Kühlschrank sollen wir träumen, der schon lange vor uns weiß, welches Ablaufdatum der nicht gegessene Käse hat und wann wir neues Gemüse bestellen müssen oder der das sogar für uns tut, wenn wir ihn mit dem Supermarkt unserer Wahl vernetzen und den Bestellvorgang auf „automatisch“ programmieren. Aber was in den Millionen von Containern tatsächlich drin ist, die unsere Lieferketten und damit unsere Versorgungssicherheit gewährleisten, das können wir nicht überprüfen. All das und vieles mehr ist Digitalisierung.
The point of no return
Das eine Digitalisierungs-Ding gibt es nicht. Es ist etwas, das sich quer über all unsere Lebensbereiche gelegt hat, all unsere Aktivitäten durchzieht und viele unserer Handlungsoptionen als individuelle Menschen bereits unwiderruflich gekapert hat. Aber die meisten von uns leben, denken, lernen und arbeiten noch so, wie sie das immer getan haben, nur mit ein wenig mehr Technikunterstützung, Komfort, glauben sie. Der Suchtfaktor und Abhängigkeitsquotient der neuen Techniken, der Ausschließlichkeitsanspruch, den sie im Handgepäck mit sich führen, der Allmachtgedanke, der ihnen zugrunde liegt, wird von den meisten Menschen ignoriert. Oder wenn wahrgenommen, dann als Begleiterscheinung deklariert und verharmlost, ein notwendiges Übel, wobei die Notwendigkeit das Übel schlägt. Die Entwicklung ist rasant, wird mit gigantischen finanziellen Mitteln weiter vorangetrieben und hat den point of no return längst überschritten. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Die Frage, wie wir damit leben können und wollen, die sich jedem Einzelnen in aller Härte stellt, hat das Kollektiv längst beantwortet.
Die Techniken, genauer: die digitalisierten technischen Möglichkeiten haben uns überrollt und längst die Führung übernommen. Wir als einzelne, individuelle Bürger hatten und haben kein Mitspracherecht, keinen Einfluss mehr auf die weitere Entwicklung. Die Entwicklung hat sich verselbständigt. Anfangs war sie von Menschen gemacht, aber jetzt wird sie von Computern vorangetrieben, deren Eigen- und Innenleben wir nicht mehr verstehen, die wir nicht einmal mehr abschalten können, um sie so handlungsunfähig zu machen, weil sie mit derart vielen anderen Computern vernetzt sind, dass bestimmte Funktionen einfach von anderen übernommen werden, wenn einer ausfällt. Wir haben das zugelassen, stoppen können wir das nicht mehr. Die Freiheit des Geistes und des Menschen, der Sinn des Lebens muss in der sogenannten Freien Welt völlig neu definiert werden. Wir stehen am Anfang.
Unsere intellektuellen, seelischen und sozialen Konzepte als Menschen sind nicht mitgewachsen. Und wenn wir auf unsere gesellschaftlichen Strukturen und Staatsformen schauen, dann ist es offensichtlich, dass hier eine abgrundtiefe Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft klafft. Unsere Grundgesetze und Verfassungen haben diese Digitalisierung unserer Welten und unseres Zusammenlebens nicht erfasst. Unsere Rechtssysteme, unsere Sozial- und Versicherungssysteme, unsere Moral, unsere Ethik werden von allen Seiten durch digitale Technik bombardiert und eine Entspannung der Situationen wird es nicht geben. Fahren auf Sicht, angesichts der weltweiten Krisen, die gerade den Erdball überziehen, die von allen denkbar schlechteste Regierungsform, erfährt gerade ungeahnte Popularität bei europäischen Politikern, ob bei COVID-19 oder Digitalisierung; die Bevölkerung mag sich Weitsicht wünschen, aber ihr bleibt nichts anderes übrig als dem Treiben zuzusehen. Das ist der Stoff, aus dem Revolutionen gemacht werden, nur wer soll sich dieses Mal gegen wen aufbäumen? Und wie? Auch die Art der Revolution muss neu erfunden werden. Der Humanismus sowieso.
Das Denken neu denken
Wir müssen unser Denken radikal neu aufbauen. Unsere Vorstellungen vom menschlichen Sein und Wirken, von freiem Willen und Verantwortung, vom Alleinleben, vom Familienleben, vom Zusammenleben in Dörfern, Städten und Megacities, von Staatsgebilden und Staatsfunktionen, von Demokratie und Rechtsordnung, von Schule, Beruf, Arbeit und Freizeit, von körperlicher und geistiger Nahrung, von Reichtum und Armut, von Einkommen und Steuern, von Gesundheit und Krankheit, von Zeugung, Leben und Sterben, sind überholt. Alles hat sich von Grund auf verändert und wird sich in rasender Geschwindigkeit weiter verändern. Und wir müssen begreifen, in der ganzen ungeheuerlichen Tragweite verstehen und begreifen, es muss uns vollkommen durchdringen, dass in diesem technischen, durchdigitalisisierten Zeitalter alles – außer dem Menschen an sich – vollkommen anders ist, dass Technik unser zweiter Vorname und dass sprechende Roboter und deren Eigentümer dennoch die denkbar schlechtesten Gesprächspartner sind, um darüber zu diskutieren, welche Rolle der Mensch in dieser Welt noch zu spielen hat. Wir müssen uns darauf einstellen, auch das Denken neu denken zu müssen. Wir können unsere Kinder nicht mit Tablets abspeisen und sagen, das sei Bildung 4.0, wenn ansonsten alles beim Alten bleibt. Und wir können die liebevolle Aufmerksamkeit von Eltern, Familie und Freunden nicht durch Smartphones und animierte Comicfiguren ersetzen, und erwarten, dass alles beim Alten bleibt.
Nichts bleibt so wie es ist. Alles muss neu gedacht werden, sonst werden die Computer die neuen Herren der Welt sein, ausgestattet mit den technologischen Maßstäben für Gut und Böse, Nützlichkeit und Effizienz versus Kosten und überraschender Unberechenbarkeit. Und was das bedeutet, wissen wir bereits. Was ist der Mensch angesichts all dessen? Und wie definieren wir die „Würde des Menschen“ in unserem Jahrhundert?
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