Die amerikanische Regisseurin Jenji Kohan hat das Bestseller-Sachbuch Worn Stories der New York Times Kolumnistin Emily Spivack verfilmt. Das Resultat ist eine achtteilige Netflix-Miniserie, die einem soziokulturellen Flickenteppich gleichkommt, dessen nähere Betrachtung höchstwahrscheinlich gerade jenen gefallen könnte, die behaupten, sie hätten herzlich wenig mit dem Thema Mode am Hut.

Haben Sie sich selbst schon einmal gefragt, welcher Diskussionstyp Sie sind, wenn es um Gespräche über Kleidung geht? Mit wem reden Sie wann und vor allem aus welchem Grund darüber? Können Sie stundenlang über die neuste Kollektion einer Modeschöpferin schwadronieren, oder sind Plaudereien über Shopping Ihrer Auffassung nach ein oberflächlicher Zeitvertreib, der zudem auf einem Materialismus basiert, der sich heutzutage nun wirklich nicht mehr ziemt? Nehmen Sie lieber Gottfried Kellers Kleider machen Leute zur Hand, oder schweift ihr Blick eher über den Handybildschirm und lässt sich von Influencer:innen leiten? Wie Menschen sich über ihre äußeren Hüllen unterhalten, sagt weit mehr über eine Gesellschaft aus, als man vielleicht annehmen könnte. Deswegen lohnt es sich durchaus, das ein oder andere Mal genau hinzuhören, wenn Gesprächsfäden verloren gehen, wieder aufgenommen oder auf eine ungewöhnliche Art und Weise miteinander verknüpft werden. Worn Stories (deutscher Titel: Kleidergeschichten) scheint hierfür besonders geeignet zu sein.

Während bei zahlreichen anderen Netflix-­Produktionen zum Thema der Fokus auf einer Person liegt – so zum Beispiel bei den Dokumentationen über Designer:innen wie den britischen Melancholiker Alexander McQueen (äußerst empfehlenswert!) oder die mittlerweile 100-jährige Modeikone Iris Apfel – , setzt Spivack auf Multiperspektivität. Gemeinsam mit ihren außerordentlich diversen Gesprächspartner:innen widmet sie sich einer Art Realienkunde und betreibt ein Stück weit populärwissenschaftliche Forschung auf der Ebene der Sachkultur sowie der Sozialgeschichte. Überschrieben sind die Folgen mit Begriffen wie „Gemeinschaft“, „Anfänge“, „Erwachsen werden“, „Überleben“, „Chancen“ und „Liebe“, die je nach Person mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen bestückt werden. Jede:r erzählt auf seine:ihre Art, welche Geschichte ein Kleidungsstück in sich trägt. Da wäre beispielsweise eine ältere Dame aus Korea, bei der ein flauschiger knallgelber Pulli einen Teil ihrer Migrationsgeschichte darstellt. Oder auch eine afroamerikanische Mutter aus Philadelphia, für die das Tragen eines ganz bestimmten T-Shirts zu einem Akt des Gedenkens wird. Den Brustteil schmücken nämlich Fotos ihres Sohnes, der bereits mit 18 Jahren einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Ebenso kommt ein in einem Nudistencamp lebendes Pärchen zu Wort, dessen gemeinsame textile Vorliebe sich auf bequemes Schuhwerk beschränkt. Man müsse ja schließlich was an den Füßen haben, wenn man nackt in der Werkstatt schreinere, sind beide sich einig.

Durch die Vielfalt der Menschen vor der Kamera ist Spivack ein facettenreicher Rundumschlag gelungen, der mehr bietet als nostalgische Gefühlsduselei über x-beliebige Stofffetzen. Unter anderem kommt eine junge nicht-binäre Person jüdischen Glaubens zu Wort, welche die erste queere B’nai Mizwa – dieser Begriff ist im Gegensatz zu einer Bar bzw. Bat Mizwa genderneutral – in Amerika feierte; oder auch ein Ex-Häftling, der nach mehr als 40 Jahren (nicht nur bekleidungstechnischer) Entpersonalisierung im Gefängnis den Weg zu einer individuellen Ausdrucksform wieder beschreitet. Die Kongressabgeordnete Frederica Wilson liefert ihre einzigartige Definition des Ausdrucks „ein Amt bekleiden“ – pailettenbestückte Cowgirlhüte dürfen beim Kampf um Visibilität für die Belange von people of color in Amerika nämlich nicht fehlen. Eine Person mit Gehbehinderung, der aus fadenscheinigen Gründen ein Arbeitsplatz verwehrt wurde, erzählt vor der Kamera, wie sie über mehrere Jahre nicht lockerließ und sich in den Job hineinklagte. Ihre Schullots:innen-Uniform ist nun ihr ganzer Stolz und symbolisiert für sie eine Siegesetappe im Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Manche Stories wirken etwas „abgetragen“ und überzeugen weniger als andere – gerade die Folgen zu „Fundsachen“ und „Liebe“ schwächeln diesbezüglich am meisten. Zudem wird die Schilderung des ein oder anderen Erlebnisses unnötig in die Länge gezogen, obwohl es eigentlich nach wenigen Minuten auserzählt gewesen wäre. Trotzdem findet sich kaum ein Erzählstrang, der nicht doch in einem weiteren Sinne aufzeigt, auf wie vielen verschiedenen Ebenen Textilien menschliche Identitäten (mit)prägen und umgekehrt. Die Biografien der Sprechenden sowie ihrer Stöckelschuhe, Leggins, Krawatten und Ledertangas sind gespickt mit sozialen Phänomenen sowie Problematiken und weltweiten Ereignissen, die weit über das individuelle Schicksal hinausreichen. Es geht unter anderem um Klimakatastrophen, die Aids-Pandemie und die Frage, wie viel individuelle Persönlichkeit Menschen am Ende ihres Lebens noch zugestanden wird. Auffällig ist indes, dass die persönlichen Chroniken immer erst dann anfangen, wenn ein Objekt in den Besitz einer Person übergeht; der Zeitraum davor wird gänzlich ausgeblendet. Dies bedeutet, dass die Geschichten jener Produzent:innen von Kleidungsstücken, die nicht selten unter besonders widrigen Bedingungen entstehen, ungehört bleiben. Da die Serie zugegebenermaßen ab und an auf die Tränendrüse drückt, ist man geneigt, sich zu fragen, ob seitens der Macher:innen befürchtet wurde, eine gewisse Tiefe oder explizite politische Statements würden das Publikum dann doch zu schnell vergraulen.

Nun mag Kenji Kohan, auf die bekannte Serien wie Weeds oder Orange is the New Black zurückgehen, bisher nicht unbedingt durch eine etwaig herausragende Bildsprache aufgefallen sein, jedoch zeugt zum Beispiel die Machart der Rückblenden zu den unterschiedlichen Geschichten von Einfallsreichtum und der Bereitschaft, pluridisziplinär zu arbeiten. Diese Szenen werden nicht mit Schauspieler:innen nachgestellt, sondern Kohan bedient sich auf eine spielerische Art verschiedener Stoffe und Materialien, um die jeweiligen Situationen darzustellen. So werden beispielsweise bereits verstorbene nähende Großmütter mithilfe von Filzfiguren wieder zum Leben erweckt und Verfolgungsjagden von vermeintlichen Mäntel-Dieben anhand von Collagen nacherlebbar gemacht. Wenn man so will, huldigt sie hiermit auch bestimmten handwerklichen Techniken, die im Zeitalter industrieller Massenproduktion von Kleidern allzu schnell in Vergessenheit geraten.

Kleidung berührt nicht nur unsere Haut, sondern tangiert auch zahlreiche Lebensbereiche. Wenngleich sie oft nicht im Zentrum von existenziellen Entscheidungen steht, so begleitet sie diese häufig, ummantelt eine Persönlichkeit zu einem bestimmten Moment, trägt zu einem Gefühl von Geborgenheit bei oder unterstreicht ein Anderssein. Worn Stories ist weit davon entfernt, als Meisterwerk gelten zu dürfen, und die Serie enthält auch keine tiefschürfenden Offenbarungen. Nichtsdestotrotz beweist sie, dass es erzählerische Alternativen gibt zu verstaubten hypermoralisierenden Literaturkanon-Beiträgen und fälschlicherweise nicht als Werbung gekennzeichneten Videos von content creators, die in Luxusartikeln posieren, die sie nicht selbst bezahlt haben und die sich sonst auch fast niemand leisten kann. Jenseits von Moralpredigt und Konsumaffirmation schafft es diese Serie, genau eine solche narrative Alternative anzubieten.   

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code