Medienerziehung sei einer der Schlüssel, um demokratische Gesellschaften vor den Risiken durch deepfakes und Desinformation zu schützen, unterstrich Tom Van de Weghe, belgischer TV-Journalist und Experte für Desinformation und Künstliche Intelligenz (KI) während einer Konferenz im Rahmen der World Press Photo Ausstellung 2020, die im Februar in der Abtei Neimënster gastierte.

Deepfakes sind computergenerierte, täuschend echt gefälschte Ton- und Bildaufnahmen, auch synthetische Medien genannt, die in den vergangenen Jahren immer populärer und dank KI immer besser werden. „Bald wird eine Zeit kommen, in der wir Fälschungen und Manipulationen mit bloßem Auge nicht mehr erkennen werden“, warnte der KI-Spezialist, der im Rahmen eines Medienprojekts mit der Stanford University umfassend zu Künstlicher Intelligenz und deepfakes geforscht hat. In nur drei Jahren sei deren Zahl von knapp tausend auf über 65.000 gefälschte Videos im Internet angestiegen. „Da rollt etwas auf uns zu“, so Tom Van de Weghe. Früher konnten gefälschte Videos, in denen Gesichter ausgetauscht wurden, nur mit viel Arbeit und fachlichem Wissen generiert werden. Für deepfakes ist das nicht notwendig, denn die Manipulationen erstellt der Computer mit Hilfe von KI weitgehend automatisch.

Es war die erste Konferenz in Luxemburg, die sich ausführlich mit den Folgen von deepfakes für die Berichterstattung der klassischen Medien beschäftigte und trotz Ausgangsbeschränkungen waren allerlei Leute gekommen (wenngleich nur wenige Journalist*innen). Die meisten, die zur anschließenden Diskussion blieben, einte ein Gefühl: ein Unbehagen und die Ahnung, dass die rasante Digitalisierung und die Informationsberge uns vielleicht bald über den Kopf zu wachsen drohen.

Zum Status quo der Medienerziehung

Kann Medienerziehung etwas ausrichten gegen Manipulation, Missbrauch und Meinungsmache? Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürger*innen zu erziehen, die so aufgeklärt sind, dass sie sich selbst eine Meinung bilden können, ist die Prämisse nahezu aller medienerzieherischen Projekte, die zurzeit an Luxemburgs Schulen stattfinden und die vom Bildungs­ministerium mit einigem finanziellen und personellen Aufwand unterstützt werden. Seitdem Desinformation und Propaganda durch soziale Netzwerke ungeahnte Verstärkereffekte erfahren, wird die Medienerziehung als Zauberformel ins Spiel gebracht, um das dichter und unübersichtlicher werdende Dickicht aus Täuschungen und Lügen zu beleuchten und zu hinterfragen. Nur: Kann unsere Medienerziehung das leisten?

Zweifel sind angebracht. Zum einen mutet es merkwürdig an, dass diejenigen, die über digitale Medien und Massenmedien aufklären (wollen), in der Regel Erwachsene – also Eltern, Dozent*innen, Lehrer*innen – sind, die nicht selten von ihren Schüler*innen in Sachen Mediennutzung übertroffen werden. Während die einen vor nicht allzu langer Zeit Facebook und Instagram entdeckt haben, nutzen Digital Natives deepfake-Technologien spielerisch für Tiktok-Videos oder installieren deep­fake-Voice-Apps auf ihrem Smartphone, um ihre Freund*innen zu beeindrucken (eine Software, die mit Stimmaufnahmen trainiert wird und anschließend die jeweilige Stimme nachahmen und sie Wörter sagen lassen kann). Trotzdem werden Lehrpläne fast gänzlich unter Ausschluss der betroffenen Jugendlichen erstellt. Das Coronavirus mag die Digitalisierung in den Schulen beschleunigt haben, doch Fakt ist, dass viele Lehrkräfte vergleichsweise wenig Erfahrungen in der didaktischen Einbindung und Anwendung von digitalen Medien im Unterricht haben und oft nicht auf dem neusten Stand der technologischen Entwicklungen sind, von den Spezialist*innen der IT-Fächer und den Mediensektionen einmal abgesehen.

Auch ist die Medienerziehung in Luxemburg vergleichsweise jung. Verleger und Medienorganisationen verlangen seit fast drei Jahrzehnten, dass Kinder und Jugendliche die Herstellung von professionell produzierten Nachrichten und den Umgang mit ihnen verpflichtend und landesweit kennenlernen sollten, fast ebenso lange forderten sie eine staatliche Unterstützung dafür. Erste Initiativen wie die „Presse à l’école“ oder die „Semaine de la presse“ hingen vom Engagement Einzelner ab. Es sollte Jahre dauern, bis medienpädagogische Posten im Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) geschaffen wurden. Unterstützt werden die Script-Mitarbeiter*innen von den IT-Expert*innen der staatlich finanzierten Beratungsstelle für Internet-Sicherheit BEE SECURE oder durch das Zentrum fir politesch Bildung.

Quo vadis, Medienerziehung?

Seit einem Jahr gibt es den Medien­kompass, ein Rahmenplan für schulische Medienerziehung, der Medienkompetenzen definiert und Lehrkräften Anleitung sein soll für „die sichere, kritische und verantwortungsvolle Nutzung von und Auseinandersetzung mit Medien und digitalen Technologien. Sie erstreckt sich dabei auf Informations- und Daten­kompetenz, Kommunikation und Zusammen­arbeit, Sicherheit, Urheberrechtsfragen, Problemlösung und kritisches Denken“. Nur: Wozu einen Kompass, wenn nicht einmal über die Richtung Einigkeit besteht? Die Verlagshäuser und herkömmlichen Medien waren wohl zur üppig inszenierten Vorstellung des Plans eingeladen worden, aber in die Entwicklung waren sie nicht eingebunden, was viel aussagt über den Stellenwert der Medienprofis im Bildungsministerium. Nur Tage nach der Vorstellung des Kompasses sollten die Schulen im landesweiten Corona-Lockdown für mehrere Wochen ihre Türen schließen.

Einige Schulen waren ohne Medienplan fleißig; zu den medienpädagogischen Pionierinnen hierzulande zählen etwa das Lycée Aline Mayrisch in der Hauptstadt, das Lycée des Arts et Métiers in Limpertsberg oder das Diekircher Gymnasium. Eine Direktion, die früh auf Medienkompetenz setzte, die Laptop- und Tablet-Klassen förderte, bevor es modern wurde, und vor allem engagierte Lehrkräfte (manche mit journalistischem Hintergrund) machen es möglich, dass Jugendliche sich in Medienlabs versiert mit den Funktionsweisen von Radio, Fernsehen und Internet auseinandersetzen, eigene Beiträge produzieren und sogar Apps entwickeln. Kinder jeglichen Alters werden dieses Jahr mit dem in siebter Auflage stattfindenden Wettbewerb „Jeune Journaliste“, eine Initiative von Script, Presserat und Zentrum fir politesch Bildung, an journalistische Techniken wie Recherche, Quellenanalyse und Interviews herangeführt.

Bloß reicht das aus, um auf die medialen Herausforderungen unseres Informations­zeitalters vorzubereiten? Danah Boyd, Medienforscherin in den USA, ist skeptisch: Der kritische Blick, der in der klassischen Medienerziehung im Mittelpunkt steht, untergrabe das ohnehin erschütterte Vertrauen in herkömmliche Medien weiter und wirke somit kontraproduktiv, so ihre These in einem viel diskutierten Vortrag von vor drei Jahren. Der Trend ist nicht auf die USA beschränkt: Traditionelle Medien verlieren an Publikum und Reichweite, sie bekommen Konkurrenz durch (kostenlose) soziale Netzwerke, in denen Nutzer*innen Nachrichten nach Gusto zusammenstellen können. Corona bedeutet eine kleine Gnadenfrist, in dem Sinne, dass die Suche nach verlässlichen Informationen den klassischen Medien kurzfristig eine Renaissance bescherte. Zugleich erklingen Rufe gegen „die Lügenpresse“ lauter als je zuvor, und Querdenker*innen und Verschwörungstheoretiker*innen erfahren enormen Zulauf. Die mühselige Suche nach „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ scheint immer breitere Bevölkerungskreise zu überfordern.

Zeichen der Infokalypse

Hinter dem Ideal kritischer Medien­konsument*­innen steht, wie Boyd meint, die trügerische Hoffnung, dass diese quasi automatisch gegen Manipulation und Missbrauch gefeit seien, wenn sie die Funktionsweisen der Medien kennengelernt hätten. Diese Sichtweise unterschätzt zum einen den rasanten technischen Fortschritt. Die Manipulationen werden immer besser und sind selbst für Expert*innen kaum mehr zu erkennen. Prüf-Software, in Medienlabors an Universitäten entwickelt, soll helfen, Fälschungen aufzudecken. Das Katz- und Maus-Spiel funktioniert aber nur so lange, wie sich Medien die teure Aufrüstung leisten können. Paradoxerweise steigert das erst recht die Abhängigkeit der Branche von KI-gesteuerten Lösungen.

Wenn sich zum anderen aber öffentliche Diskurse immer stärker polarisieren, wenn Internetfirmen sich weigern, Fake News umgehend zu filtern, weil sie ihnen Klicks bringen, wenn der eigenen Echokammer eher geglaubt wird als den Medienprofis, oder wenn sich Chatrooms wie Clubhouse in elitären Zirkeln der journalistischen Kontrolle entziehen, ist es nicht mehr weit zur Infokalypse. Irgendwann könnte die Flut an Desinformationen dazu führen, dass Nutzer*innen überwältigt sind und aufgeben. Dass sie mit Desinteresse und Lähmung auf die Kakophonie aus falschen und richtigen Informationen reagieren – „reality apathy“ nennt der US-­amerikanische KI-Forscher Aviv Ovadya den gefährlichen Zustand. Ist erst die Wahrheit egal, haben unehrliche Profiteure leichtes Spiel: Einen Vorgeschmack davon hat der abgewählte US-Präsident Donald Trump gegeben.

Danah Boyd und Tom Van den Weghe plädieren deshalb beide für einen verantwortungsvollen Umgang mit Algorithmen und KI. Und sie wollen früher ansetzen: bei den Entwickler*innen der Plattformen und der Software. Sie fordern sozusagen eine Ethik by design: dass die Risiken von KI-getriebener Technologie vor der Herstellung mitgedacht werden. Mindestens ebenso wichtig wie eine Debatte über eine zeitgemäße Medienerziehung wäre dann auch eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Verantwortung und die Werte aller beteiligten Akteure; auch der Produzent*innen. Das sind Unternehmen und Universitäten, das ist aber dank der Demokratisierung der Technologien auch jede*r Einzelne vor dem Bildschirm. Außer dem allgemein gehaltenen, nicht näher präzisierten Lernziel, dass Schüler*innen „verantwortungsvoll“ mit Medien umgehen lernen sollen und in ihrer Online-Kommunikation „ethische Grundsätze“ beachten sollen, kommen die Begriffe „Ethik“, „Werte“ oder „Medien­ethik“ übrigens kein einziges Mal im Luxemburger Medienkompass vor.

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