Verbieten (und belohnen) gehört von Beginn an zur Geschichte der Menschheit. Gemeinschaften und Gesellschaften, seien sie Indianerstämme im Amazonas oder komplexe Verwaltungsstaaten, verhindern Konflikte und sichern Hierarchien über Tabus, Regeln, Riten und Gesetze. Auch die individuelle Anpassung jedes Kindes an die Vorstellungswelt der Erwachsenen findet über eine Vielzahl von kleinen Repressionsmaßnahmen statt, Erziehung genannt, die sich aus praktischen Erwägungen, moralischen Leitsätzen oder religiösen Überzeugungen nähren. Wie viel Repression braucht eine Gesellschaft? fragte einer unserer Gesprächspartner provokativ bei der Vorbereitung dieses Dossiers.

Für Claude Lévi-Strauss, den großen französischen Anthropologen, steht das Inzest-Verbot in allen Gesellschaften an vorderster Stelle.1 Dieses sozusagen erste Gesetz der Menschheit sei nicht aus biologischer Notwendigkeit entstanden (etwa zur Verhinderung von Erbschäden), sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen: Die Kernfamilie musste sich zu ihrem Überleben mit anderen Familien verschwägern und verbinden. Das Inzest-Verbot als Gesetz und Tabu beruhe so nicht auf einem biologischen Instinkt, sondern zwinge den Menschen in die Kultur, indem es Partnertausch und eine geordnete Ehe zur Notwendigkeit erhebt.

Die Ur-Horde dürfte noch andere Gebote gehabt haben, um Konflikten und Notsituationen aus dem Wege zu gehen. Die Verteilung der Nahrung war kaum dem Zufallsprinzip unterworfen. Autorität sollte auch wirken (und Nahrung und Behausung gewährleistet sein), wenn körperliche Kraft und die damit einhergehende Durchsetzungskraft nachließ – das Gebot „Du sollst Deine Eltern ehren“ ist sicherlich vor diesem Hintergrund entstanden. Unter Nomaden waren Viehdiebstahl und Mord (außerhalb des Stammes bzw. außerhalb von kollektiven Kampfhandlungen) geächtet, als Sühne diente häufig „Vergeltung“, d.h. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Das Konzept des geschriebenen, verläss-lichen Rechtes verdanken wir wie viele andere Innovationen den Städten Mesopotamiens. Der Codex Ur-Nammu wurde etwa 2100 v. Chr. im Auftrag eines Königs der Stadt Ur niedergeschrieben. Er regelte die Strafen für Raub, Mord, Vergewaltigung und ähnliche Verbrechen in peinlich genauen Abstufungen. In insgesamt 57 Gesetzen wird nicht nur einfache Vergeltung angeordnet, sondern auch Geldstrafen verfügt entsprechend eines genau festgelegten Schadenswertes. Zwei Jahrhunderte später zeigt uns der nur lückenhaft überlieferte Codex Lipit-Ischtar (etwa 1900 v. Chr.), dass die Stellung der Frau von einem Zustand der rechtlichen Gleichstellung zu einem Gesellschaftsmitglied von minderem Wert gesunken ist (was man an den Strafen für Mord, Vergewaltigung und Ehebruch ablesen kann). Als dritter juristischer Text Mesopotamiens gilt der Codex Hammurapi (18. Jhd. v. Chr.), der neben der göttlichen Legitimation des Herrschers 282 Rechtssätze enthält, die große Teile des damaligen gesellschaftlichen Lebens regelten.

Erst danach folgt in der Zeitschiene der berühmte Dekalog des Alten Testaments, der in 7 Gesetzen die Grundlagen des sozialen Zusammenlebens für die jüdische und später christliche Welt formuliert (die 3 ersten Gebote beziehen sich auf das Verhältnis zu Jhwh).2 In direkter Rede verlangt Gott hier von seinem Volk, einen Ruhetag einzuhalten und die Eltern zu ehren, nicht zu töten, nicht ehezubrechen, nicht zu stehlen und zu lügen, sowie Weib, Hab und Gut seines Nächsten nicht zu begehren! Als Nomadengesetz dürften die Zehn Gebote in unterschiedlichen Ausformungen seit dem 15. Jhd. v. Chr. bestanden haben, in seiner heutigen Form wurde der Dekalog wie die größten Teile der Bibel zwischen 100 v. und 100 n. Chr niedergeschrieben.

Die Römer erkannten schon im 5 Jhd. v. Chr., dass ihr Erfolg nicht nur auf militärischer Sicherheit, einem Straßennetz und gemeinsamem Handel beruhte, sondern auch auf einem gemeinsamen Rechtsrahmen, der insbesondere Eigentum garantierte. Das römische Recht ist Grundlage aller modernen europäischen Rechtssysteme und erfuhr nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance über Napoleons Code Civil und Code Pénal und (die in halb Europa – und in Luxemburg – Verbreitung fanden) seine nachhaltigste Modernisierung. Heutige Rechtssysteme sind komplex und verworren (das französische Arbeitsrecht umfasst z.B. mehr als 1000 Seiten) und sie sind natürlich auslegebedürftig. Gemeinsam ist ihnen der Umstand, dass ihre Bestimmungen unablässig an die gesellschaftlichen Ansprüche und die wirtschaftlichen Bedingungen angepasst werden. Verbot und Strafe sind gerade nicht in Stein gemeißelt, Veränderungen im Recht sind das Ergebnis meistens langwieriger Verhandlungen und selten beherzter Eingriffe.

So waren im 19. Jahrhundert die Gefängnisse und Arbeitshäuser gefüllt mit Armen – wer nicht arbeitete, sollte auch nicht essen. Nicht geächtet war dagegen der Handel mit Drogen: Die Regierung Großbritanniens führte in China Krieg, um den lukrativen Opiumhandel gegen den Willen der chinesischen Regierung durchzusetzen. Hundertfünfzig Jahre später sieht die Situation umgekehrt aus: Die Armen werden mit einer Vielzahl von Sozialleistungen verwaltet und eine ausdrückliche Bestrafung ist nicht mehr vorgesehen. Demgegenüber scheinen die Gefängnisse der westlichen Welt vornehmlich dazu zu dienen, Menschen aus der Gesellschaft zu nehmen, die Drogen konsumieren, besitzen, anbauen oder handeln. Dass auch hier die Dinge immer noch in Bewegung sind, zeigt die Einstellung zum Tabakkonsum. Noch vor 20 Jahren gehörte Rauchen zum guten Ton und war gesellschaftlich akzeptiert. Der Werbeindustrie war es während Jahrzehnten sogar gelungen, die Zigarette zu einem Symbol von Erfolg und Individualität zu verklären. Seit wenigen Jahren und ohne großen Übergang gilt Rauchen nun als eine der schlimmsten möglichen Verfehlungen, Rauchen wurde in allen öffentlichen Räumen verboten und Zuwiderhandlungen werden geahndet. Der Konsum von Cannabis-Produkten wird demgegenüber kaum mehr ernsthaft verfolgt, obwohl sich die Gesetzgebung keineswegs verändert hat. Während wir gleichzeitig eine immer weitere Verschärfung der Gesetze im Hinblick auf Geschwindigkeitsüberschreitungen und Alkoholkonsum im Straßenverkehr erleben.

Dass Gesellschaft, öffentliche Meinung und Institutionen in beständiger Verhandlung über das stehen, was als unerwünscht gilt und durch Repression oder gesellschaftliche Ächtung verhindert werden soll, zeigen einige aktuelle Beispiele, die wir zur Illustration in diesem Heft zusammengetragen haben. Im Interview reagiert Justizminister Felix Braz (ab Seite 21) auf die zurzeit weitgehend imaginierte Störung des gesellschaftlichen Lebens durch religiös motivierte Gesichtsverschleierung und zeigt, welche Bemühungen die Regierung unternommen hat, um eine nuancierte Antwort auf diese Frage zu finden. Romain Kohn beleuchtet (ab Seite 25) die aktuelle, politisch motivierte Auseinandersetzung um die Grenzen der Meinungsfreiheit und die strafrechtliche Bekämpfung der Hassrede. Auf die durch Studien etablierte Wirkungslosigkeit von Radaranlagen zur Repression von Geschwindigkeitsüberschreitungen im Straßenverkehr weist Georges Steffgen hin, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Luxemburg (Seite 37). Der Politologe und Direktionsrat im Ministerium für Chancengleichheit Ralph Kass (S. 40) zeigt, wie die Suche nach einem neuen Prostitutionsgesetz in den letzten Jahren zu einem breiten Austausch im Rahmen einer Plattform geführt hat. Obwohl sich in Luxemburg Menschenrechts- und Frauenorganisationen, Politik, Justiz und Polizei ziemlich einig sind, dass Prostitution eigentlich ein zu verhinderndes Übel darstellt, ist das Ergebnis dieser Verhandlungen ein Kompromiss, der Pragmatismus vor Prinzipien stellt. Yannick Lambert beschreibt, wie Repression und Anpassungsdruck im Schulsystem funktionieren bzw. auch nicht funktionieren, und ein Text von Johnny Theisen dokumentiert eindrücklich, welche psychologischen Folgen die Repressionspolitik des Staates auf Drogenkonsumenten haben kann. Schließlich erläutert der beigeordnete Staatsanwalt Georges Oswald in einem aufschlussreichen Interview am Beispiel der Syrien-Rückkehrer, wie die Justiz neuerdings mit Straftaten umgehen muss, die eventuell drohen aber noch gar nicht begangen wurden. Gerade das Thema der Überwachung als Grundmotiv der Terrorismusabwehr steht auch im Zentrum des Beitrages von Clémentine Boulanger. Die Doktorandin der Universität Luxemburg nimmt die Gedanken von Michel Foucault als Ausgangspunkt einer Analyse des luxemburgischen Repressions- und Überwachungsapparates. Foucault sah die moderne, kapitalistische Gesellschaft schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf dem Weg zu einem Kontroll- und Überwachungssystem, das einem Panoptikum gleicht.3 Eine Überwachung, die allgegenwärtig ist, in der der Einzelne sich ständig beobachtet fühlt, muss jedoch zu einer Gesellschaft führen, in der Anpassung und Risikovermeidung die Regel wird.

In der Überwachungsgesellschaft muss der Staat nicht mehr direkt Repression ausüben, es kann ihm weitgehend genügen, Verbote und Gebote anzudeuten – und die meisten Menschen werden sich übervorsichtig und vorauseilend soweit anpassen, dass sie jedem Problem aus dem Wege gehen. Doch die Frage stellt sich heute, ob der Nationalstaat überhaupt noch Akteur und Auftraggeber dieser Überwachung ist. Seine Fähigkeiten, dem Einzelnen einen repressiven Bezugsrahmen zu geben, sind erodiert. An seine Stelle treten die sozialen Netzwerke, die die Gesellschaft unverbindlich strukturieren, Unternehmen, die nicht mehr geographisch zu verorten sind, und transnational operierende Geheimdienste. Totale Transparenz auf der einen Seite und öffentliche Empörung auf der anderen Seite schaffen so einen politischen Zustand, in dem der Einzelne sich abwendet und nur noch seinen Konsum-Interessen nachgeht.4 Um das Funktionieren des Ganzen sollen sich dann andere kümmern. Spätestens wenn das Ereignis, der Zufall und die souveräne Entscheidung unter dem Einfluss von Big Data aus dem normalen Leben verschwunden sind, wird die Regelverletzung, der Ausbruch aus dem System, zu einem poetischen oder gar terroristischen Akt.5

1. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Paris 1948; Frankfurt am Main 1981
2. Matthias Köckert: Die Zehn Gebote. C. H. Beck, München 2007
3. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Paris 1975 ; Frankfurt am Main 1976
4. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne. Cambridge 2000 ; Frankfurt am Main 2003
5. Hans-Christian Dany : Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft. Hamburg 2013

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