„Eaten Alive“
Eine Typologie filmischer Kannibalismus-Darstellungen
Ein menschenleeres Dorf im karibischen Dschungel. Bedrohlich langsam schiebt sich die Kamera durch die flirrende Hitze, nimmt zunächst Totenschädel in den Blick, dann vor sich hingammelndes Fleisch, das von den Hüttendecken herunterhängt. Wenig später betreten die ersten Spanier die Siedlung – und müssen sich augenblicklich wegen des Gestanks und der Fliegen übergeben. Das anschließende Gefecht zwischen Einheimischen und Fremden endet damit, dass der Entdecker Christoph Kolumbus (Gérard Depardieu) einen Angreifer mit seinem Speer durchbohrt, woraufhin dieser in Zeitlupe, unter animalischen Lauten und mit reichlich Schaum vor dem Mund (!), zu Boden geht. In dieser Schlüsselszene aus dem Historienfilm 1492 – Conquest of Paradise (1992) zieht Regisseur Ridley Scott alle filmischen Register, um zu verdeutlichen: Hier wohnen Menschenfresser, Kannibalen, und sie sind gefährlich.
Kannibalismus1, sei es als tatsächlich praktizierter oder anderen Kulturen lediglich unterstellter Brauch, berührt ein zentrales Thema der Menschheit: Ernährung und Esskultur. Die Zubereitung und Aufnahme von Speisen erfüllt stets gesellschaftlich-kulturelle Funktionen, die über den rein biologischen Aspekt, also die ausreichende Versorgung des Körpers mit Nährstoffen, hinausgeht. Wie sich eine Gruppe selbst sieht, ist auch darüber definiert, wie sie sich ernährt. Durch die Ernährungspraxis werden demnach nicht nur gastronomische, sondern auch kulturelle, ethische und symbolische Normen mitverhandelt, die für die Eigenidentität einer Gesellschaft prägend sind. Sie dient aber auch als Mittel zur Abgrenzung von anderen Kulturen, denn über kulinarische Sitten und Gebräuche wird ebenfalls geregelt, wer als normal oder anormal angesehen wird. Eine Ernährungspraxis, die den menschlichen Körper auf den bloßen Fleischkonsum reduziert und ihm dabei jegliche Wertigkeit und Heiligkeit abspricht, dürfte vielerorts auf Ablehnung stoßen oder, in historischer Perspektive, gestoßen sein. Davon abgesehen fanden kannibalistische Riten nachweislich statt, wenn diesen Handlungen eine tiefere Bedeutung zugeschrieben wurde, wie beispielsweise im Kontext spiritueller und magischer Zeremonien oder in spezifischen Notsituationen wie einer Hungersnot, Katastrophen oder einer Belagerung.
Die Anthropologin Peggy Reeves Sanday hat in ihrer 1986 veröffentlichten Studie Divine Hunger: Cannibalism as a Cultural System drei Motive für kannibalistische Handlungen herausgearbeitet, deren filmische Repräsentationen im Folgenden untersucht werden sollen:
- Die kulturalistische These sieht Kannibalismus bzw. kannibalistische Handlungen als Ausdruck höherer Reflexionen über Spiritualität, Leben, Tod, das Jenseits, den Umgang mit Trauer sowie Reproduktion;
- Die materialistische These versteht Kannibalismus als überlebensnotwendige Reaktion auf eine Notsituation;
- Die psychogene These deutet Kannibalismus als Mittel zum Ausleben psychosexueller Neigungen, wie beispielsweise das Bedürfnis, vollständige Kontrolle über einen Menschen ausüben zu wollen.
Im Zuge der Conquista, der schrittweisen europäischen Kolonisierung Mittel- und Südamerikas seit dem 15. Jahrhundert, sowie der späteren kolonialen Inbesitznahme Afrikas im 19. Jahrhundert, entwickelte sich (der Vorwurf des) Kannibalismus zu einem wirkmächtigen Diskurs, mit dem sich indigene Völker unter den Verdacht der Primitivität und Barbarei stellen, und sie als Antithese zum zivilisierten weißen Mann markieren ließen. Diese Strategie der Entmenschlichung, die auf einer realen oder bloß imaginierten Furcht vor Kannibalismus beruhen konnte, diente nicht nur der Ausformung von Identität und Alterität, sondern erlaubte es auch, das eigene brutale Vorgehen in den kolonisierten Gebieten, sowie die koloniale Gewalt, die diesen Spannungen entwuchs, zu legitimieren.
Im Laufe der Jahrhunderte führten diese kannibalistischen Mythen, die nicht selten auf Falschinformationen oder der bewussten Zuspitzung indigener kultureller Praktiken beruhten, zur Entstehung langlebiger rassistischer Stereotypen, die ihren Weg auch in Literatur und Film fanden und dort fortgeschrieben wurden. Dieser Beitrag analysiert am Beispiel ausgewählter Filmproduktionen, auf welche Weise verschiedene Formen von Kannibalismus filmisch aufbereitet und dargestellt wurden und dabei, zwischen Schrecken und Faszination pendelnd, auch bestimmte Vorstellungen von (Un-)Zivilisiertheit vermittelten.
Das monströse Andere
Zu den beliebtesten und beständigsten Topoi aus dem Imaginationsreservoir von Abenteuerfilmen und -romanen gehört die Vorstellung, dass an der „Peripherie“, also in den (aus europäischer Sicht) entlegenen Regionen dieser Erde – wie etwa im südamerikanischen und afrikanischen Dschungel, oder im Südpazifik – „primitive“ und „unzivilisierte“ Naturvölker leben, bei denen Kannibalismus wie selbstverständlich ein fester Bestandteil der kulturellen Praxis ist. Diese Tradition, die ihren Ursprung u. a. in der britischen Kolonialliteratur des späten 19. Jahrhunderts hat (z. B. King Solomon’s Mines von Henry Rider Haggard, 1885), fand ihren Weg in den Film, nachdem Hollywood damit begann, diese Erzählungen für die große Leinwand zu adaptieren. Neben wilden Tieren, Dschungeln und anderen exotischen Landschaften, Edelsteinen und Frauen in Notlagen, gehörte alsbald auch das Klischee der menschenfressenden Eingeborenen zum Standardrepertoire von Abenteuerfilmen, und konnte dort nach Belieben reaktiviert und fortgeschrieben werden – auch im Zuge des Postkolonialismus, wie eine späte filmische Adaptation von King Solomon’s Mines aus dem Jahr 1985 (nach 1937/1950) unter Beweis stellt.
Unter der Regie von J. Lee Thompson übernahm Richard Chamberlain die Rolle des Abenteurers und „Afrika-Kenners“ Allan Quatermain, der die amerikanische Studentin Jessie (Sharon Stone) bei der Suche nach ihrem Vater und den Diamanten von König Salomon unterstützt; da die Geschichte in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg übertragen wurde, dürfen auch ein paar böse Kolonialdeutsche ein Wort mitreden. Neben den erwarteten kulturellen Stereotypen und der impliziten Fremdenfeindlichkeit, die der Film billigend in Kauf nimmt, reproduziert King Solomon’s Mines aber auch recht sorglos die Trope der rückständigen und kannibalischen Ureinwohner, die Quatermain und Jessie auf der Flucht gefangen nehmen, um sie anschließend in einem überdimensionierten Kochtopf mit reichlich Gemüse zum Garen zu bringen, während die Dorfgemeinschaft um sie herumtanzt – zwar heiter gemeint, aber in Anbetracht des Produktionsjahres eine fast schon revisionistische bis neokoloniale Botschaft.
Eine vergleichbare Sichtweise, aber in deutlich krasserer Ausprägung, findet sich im „Kannibalenfilm“ wieder, einem kurzlebigen Subgenre des Horror- und Exploitation-Kinos, das bis heute, selbst unter Horrorfans, auf wenig Akzeptanz stößt. Auch diese Produktionen, die seit Mitte der siebziger Jahre größtenteils in Italien gedreht wurden (z. B. Cannibal Ferox, 1981 und Eaten Alive, 1980, beide von Umberto Lenzi), postulierten mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, dass zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den Urwäldern des Amazonas oder Südpazifiks „primitive“, „rückständige“ und kannibalistische Naturvölker in völliger zivilisatorischer Abgeschiedenheit lebten. Die Konfrontation mit weltbürgerlichen und gebildeten, aber arroganten Weißen, die sich in diese Regionen begaben, löste für gewöhnlich eine Eskalationsspirale aus, die in einer Aneinanderreihung von Akten extremster Gewalt (Ausweiden, Pfählen) gipfelte. Auf Kritik und Ablehnung stießen nicht nur die kruden Splattereffekte, die scheinbar beliebig hineinmontierten Aufnahmen realer Tiertötungen, die für den Film durchgeführt wurden, und die infamen, frauenfeindlichen Erotikszenen, sondern auch die zutiefst menschenverachtenden und rassistischen Darstellungen der indigenen Bevölkerung, die sich ihrer kannibalistischen Triebe gewissermaßen nicht erwehren können.
Am interessantesten mag noch die Beschäftigung mit Cannibal Holocaust (Ruggero Deodato, 1980) erscheinen, den man mit viel gutem Willen als kritische Reflexion über die Lust an mediatisierter Gewalt deuten kann. Der New Yorker Anthropologe Monroe (Robert Kerman) reist an den Amazonas, um eine vermisste Gruppe von Dokumentarfilmern wiederzufinden, die dort eine Dokumentation über „Kannibalen“ drehten. Als er das Filmmaterial wiederfindet und sichtet, entdeckt er, dass sich die Filmcrew selbst an den Einheimischen verging, um möglichst spektakuläre Bilder zu bekommen; am Ende ist es die aufgebrachte Bevölkerung, die die Filmemacher ausweidet und tötet. „I wonder who the real cannibals are?“, fragt Monroe vieldeutig – doch der Film, der in „Found-Footage“-Ästhetik gedreht ist und sich damit der Erzählweise des Mockumentarys annähern will, scheitert an seinem eigenen Wohlgefallen an exploitativen Gewaltausbrüchen.
Dass auch Filme, die auf den ersten Blick seriöser wirken, kolonial-kannibalistische Mythen reproduzieren, und damit Teil eines politischen Diskurses werden können, zeigt eine Auseinandersetzung mit dem eingangs zitierten 1492 – Conquest of Paradise. Diese französisch-englisch-spanische Koproduktion, die 1992 anlässlich der umstrittenen 500-Jahrfeiern der europäischen „Entdeckung“ Amerikas in die Kinos kam, versteht sich als filmische Rehabilitierung Kolumbus’. Sie greift damit eine von mehreren konkurrierenden Lesarten auf, die den Entdecker als tragische Figur der Geschichte interpretiert, die, allen Anstrengungen zum Trotz, ihrer historischen Anerkennung beraubt wurde. Ridley Scott inszeniert Kolumbus in 1492 konsequent als mutige und progressistische, gleichzeitig fast kindlich-naive Lichtgestalt mit visionärem Weitblick, deren hehre Absichten von der Schaffung einer neuen, paradiesischen Welt an den finsteren Mächten ihrer Zeit – der intrigante spanische Hof, die Kirche, der blutdürstige Adel – scheitert. Ein wichtiger Teil dieser simplen, aber filmisch wirkungsvollen Hell-Dunkel-Dichotomie ist auch die Unterscheidung zwischen „guten“ Ureinwohnern, die Kolumbus mit offenen Armen empfangen und somit der Schaffung einer neuen Welt quasi implizit zustimmen, und „bösen“ – weil kannibalistischen – Völkern, die den Entdecker und seine Arbeiter töten wollen und deshalb zivilisiert werden müssen. Dadurch, dass der Film Kolumbus’ Annahme, manche Bewohner der Karibischen Inseln seien Kannibalen, als Fakt inszeniert, und die daraus resultierende Gewalt als notwendiges Übel präsentiert, entlastet er nicht nur den umstrittenen Entdecker, sondern schreibt auch jenen jahrhundertealten politischen Diskurs fort, der zur Legitimierung der Conquista diente. Auch rezentere Filme, wie z. B. Pirates of the Caribbean: Dead Man’s Chest (Gore Verbinski, 2006) griffen weiterhin auf das Klischee menschenfressender Ureinwohner zurück, oft zu komödiantischen Zwecken.
Jennifer Brown (2013) hat nachgezeichnet, wie „der Kannibale“ im US-Kino seit den siebziger Jahren – auch unter dem Einfluss innergesellschaftlicher Spannungen, die die Suche nach neuen filmischen Feindbildern erforderte – variabler wurde, und von der „Peripherie“, den tropischen Regenwäldern, seinen Weg ins „Zentrum“, also die USA, fand, um dort, in der Figur des (i. d. R. weißen) Hinterwäldlers – wirtschaftlich abgehängt, ungebildet, inzestuös und rassistisch – das Verständnis dessen, was zivilisiert und unzivilisiert ist, zu erschüttern.
Bereits Deliverance (John Boorman, 1972) war wegweisend in der Art, wie er die ruralen Hillbillys in den Appalachen als gefährliche, dysfunktionale Elemente der amerikanischen Gesellschaft imaginierte. Tobe Hooper erweiterte dieses Bedrohungsszenario in The Texas Chain Saw Massacre (1974) um den Aspekt des Kannibalismus. Inspiriert von den Taten des Serienmörders Ed Gein, zeigt er fünf junge Leute, die zusammen im ländlichen Texas unterwegs sind. Als die Gruppe einen Anhalter mitnimmt, gerät sie an eine Familie ehemaliger Schlachter – von denen der Kettensägen schwingende und eine Maske aus Menschenhaut tragende Hüne „Leatherface“ (Gunnar Hansen) den größten Bekanntheitsgrad erreichte –, die einen nach dem anderen umbringen, um sie zu verwerten. Nur das Final Girl Sally (Marilyn Burns) darf in einer reichlich surrealen Sequenz im Haus dieser Familie, das mit menschlichen und tierischen Körperteilen dekoriert ist, an einem Abendessen teilnehmen. Ihr gelingt schließlich die Flucht, und der Film endet, ohne weitere Erklärungen, mit einer Aufnahme von „Leatherface“, der wütend seine Säge schwingt. Was The Texas Chain Saw Massacre, der zum Kultfilm avancierte und sich heute in der Sammlung des MoMA befindet, so schockierend machte, war seine Banalität: Kannibalen lebten auf einmal nicht mehr an exotischen, fernen Orten, sondern waren Teil der eigenen Gesellschaft – und versinnbildlichten die Ängste vor ihrer Spaltung.
Überleben
Mehrere Filmproduktionen haben reale Notsituationen, in denen Menschen zu Überlebenszwecken kannibalische Handlungen begingen, filmisch verarbeitet. In dem Katastrophenfilm Alive! (1993) erzählt Frank Marshall, basierend auf dem Tatsachenroman Alive: The Story of the Andes Survivors von Piers Paul Read, den Überlebenskampf einer uruguayischen Rugby-Mannschaft, deren Flugzeug 1973 auf dem Weg nach Chile in den Anden abstürzte. Zwölf Passagiere, darunter auch Freunde und Familienmitglieder, sterben beim Absturz, die verbleibenden etwa dreißig Personen (u. a. Ethan Hawke) richten sich im vorderen Teil des Rumpfs ein und versuchen, der arktischen Kälte zu trotzen. Als sie über Radio erfahren, dass die Suche nach ihnen eingestellt wurde, und gleichzeitig ihre wenigen Lebensmittelvorräte zur Neige gehen, geraten sie in ein moralisches Dilemma. Ohne Aussicht auf Rettung, und um nicht zu verhungern, ringen sie sich schließlich dazu durch, die körperlichen Überreste der Toten in rohem Zustand zu essen. Gemäß den Gepflogenheiten des Hollywood-Katastrophenfilms konzentriert sich Marshall allerdings lieber auf die klassischen Tugenden dieses Genres: Glaube, Willenskraft, Ausdauer, Zusammenhalt. Er umschifft die Fragen nach der moralischen Ambiguität, die sich beim Verzehr von Menschenfleisch stellen könnten (vor allem, da es sich hier um persönliche Bekannte handelt, also doppelt heilige Körper), um sie schließlich in einem eher vagen spirituellen Kontext abzuhandeln; die wenigen Szenen, die die kannibalistischen Handlungen andeuten, verzichten auf Voyeurismus.
Eine deutlich freiere Interpretation eines anderen historisch belegten Falls von Kannibalismus, der Donner-Party-Katastrophe (bei der ein Siedlertreck, der 1846 im Westen der USA unterwegs war, in der Sierra Nevada vom Winter überrascht wurde und durch Kannibalismus überlebte), findet sich in der Western-/Horrorgroteske Ravenous (Antonia Bird, 1999). Der Film nutzt diesen Vorfall allerdings mehr als Grundlage für ein fantastisch-mythologisch überhöhtes, um Elemente des Vampirismus und indigener Folklore angereichertes Duell zwischen Kannibalen. Der Lieutenant Boyd (Guy Pearce) wird 1847 in ein kalifornisches Fort strafversetzt, wo nach kurzer Zeit ein Fremder namens Colqhoun (Robert Carlyle) eintrifft. Dieser erzählt eine grausige Geschichte: Mit anderen Siedlern verirrte er sich auf dem Weg zum Pazifik, und als die Nahrung knapp wurde, verfielen einige, darunter der von Colqhoun als blutrünstig beschriebene Colonel Ives, dem Kannibalismus. Später stellt sich heraus, dass Colqhoun und Ives die gleiche Person sind, der es, in der Tradition von Vampirerzählungen, nach dem ersten Verzehr von Menschenfleisch stets nach mehr gelüstet. Boyd hingegen, der während des amerikanisch-mexikanischen Krieges ebenfalls kannibalische Neigungen entwickelte, hat moralische Bedenken. Ravenous erweitert seine Survival-Kannibalismus-Motive um kulturalistische Elemente (der Glaube an die Übertragung von körperlichen Eigenschaften wie beispielsweise Kraft) und lotet gleichzeitig das allegorische Potenzial der Thematik aus, indem Colqhouns/Ives’ aggressiv-expansiver Kannibalismus mit der ebenfalls kaum zu sättigenden Landnahme Nordamerikas in Verbindung gebracht wird: „Wendigo eats. Must eat more, more. Never enough“, mahnt die Ureinwohnerin Martha (Sheila Tousey).
Auch andere Filme haben das metaphorische Potenzial der Kannibalismus-Thematik ergründet: In Delicatessen (Jean-Pierre Jeunet/Marc Caro, 1991) und The Road (John Hillcoat, 2009) fungiert sie als Sinnbild für gesellschaftliche Zusammenbrüche, in Grave (Julia Ducournau, 2016) als Chiffre für sexuellen Appetit.
Abgründe
Der Psychothriller The Silence of the Lambs (Jonathan Demme, 1991) dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, Kannibalismus auch im Mainstream-Kino zu popularisieren. Obwohl der Serienmörder mit kannibalistischen Zügen gar nicht im Zentrum der Handlung steht, fokussierte sich die Rezeption des Films nahezu vollständig auf Hannibal Lecter (Anthony Hopkins), der die unerfahrene FBI-Anwärterin Clarice Starling (Jodie Foster) bei der Suche nach dem Mörder „Buffalo Bill“ (Ted Levine) unterstützt – als Gegenleistung lässt sie ihn in ihre Seelenwelt eintauchen. Die Faszination und Akzeptanz für Lecter – eine Figur, die immerhin die Innereien ihrer Opfer am liebsten mit Ackerbohnen und Chianti zu sich nimmt, um völlige Kontrolle über sie auszuüben – erklärt sich auch dadurch, dass er in vielerlei Hinsicht in starkem Kontrast dazu stand, wie man sich „Kannibalen“ bis dato vorstellte: kultiviert, unauffällig, aus der Mitte der Gesellschaft. Lecter vereint nichtsdestotrotz mehrere Extreme in sich. Seine Funktion als Psychiater (der psychopathische Störungen aber eher therapieren müsste, als sie selbst auszuleben), sein überlegener Intellekt und seine gehobenen gastronomischen Ansprüche kennzeichnen ihn einerseits als zivilisierten und fortschrittlichen Menschen. Die abgründigen kannibalistischen Handlungen, die er vollzieht, wecken hingegen Assoziationen an eine (wenngleich imaginäre) Menschheit in ihrem rohen „Urzustand“ im Hobbesschen Sinn.
Weniger allegorisch wagt sich der letzte hier besprochene Film an die Darstellung von Kannibalismus als Folge psychosexueller Neigungen heran, Rohtenburg (Martin Weisz, 2006), der auf einem realen Verbrechen basiert. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1999 suchte der Computertechniker Armin Meiwes im Internet nach Menschen, die bereit wären, sich für kannibalistische Handlungen zur Verfügung zu stellen. Sein späteres Opfer, Bernd Jürgen Brandes, willigte im März 2001 ein. In Meiwes’ Haus im hessischen Rotenburg vollzogen beide ihr Vorhaben in gegenseitigem Einverständnis; Meiwes dokumentierte die Tat filmisch, zerlegte Brandes’ Leiche und fror sie ein, um sich später davon zu ernähren. 2003 wurde er des Mordes angeklagt und 2006, nach mehreren Instanzen, zu lebenslanger Haft verurteilt.
In Deutschland sorgte die Tat für großes Aufsehen und wurde vielfach künstlerisch verarbeitet. Die Band Rammstein etwa, seit jeher nicht für ihren geschmackssicheren Umgang mit delikaten Themen bekannt, textete in dem Lied Mein Teil: „Denn Du bist, was Du isst“. Weniger voyeuristisch und sensationslüstern als man annehmen könnte, versucht sich Rohtenburg an einem Porträt von zwei psychisch kranken Menschen, sucht nach Erklärungen für ihre Motivationen und verzichtet auf eine allzu simple Stigmatisierung der Figuren als Psychopath(en). Letztlich trägt der Film jedoch wenig Neues zum Verständnis der Tat bei – und reflektiert damit eher die Fassungslosigkeit und das Unbehagen gegenüber einem Verbrechen, das (nicht nur damals) jegliche Vorstellungskraft sprengte, weil es sich eben nicht, wie gewohnt, auf der großen Leinwand abspielte, sondern in der Realität: Das Medium Film stieß hier an seine Grenzen.2
- Während in der Anthropologie die Bezeichnung „Anthropophagie“, aus dem Griechischen anthropos (Mensch) und phagein (essen), bevorzugt wird, setzte sich im allgemeinen Sprachgebrauch „Kannibalismus“ als Oberbegriff für jegliche Formen (und Motivationen) des Verzehrs von menschlichem Fleisch durch. Seinen historischen Ursprung hat dieser Begriff bei Kolumbus, der in seinen Bordbüchern bestimmte Einwohner der Karibischen Inseln, die Kariben, der Anthropophagie bezichtigte, dabei aber die Wörter „Cariba“ und „Caniba“ verwechselte.
- Literatur:
1. Jennifer Brown, Cannibalism in Literature and Film, London, Palgrave Macmillan, 2013.
2. Ute Fendler/Monika Wehrheim (Hg.), Entdeckung, Eroberung, Inszenierung. Filmische Versionen der Kolonialgeschichte Lateinamerikas und Afrikas, München, Martin Meidenbauer, 2007.
3. Daniel Kofahl/Gerrit Fröhlich/Lars Alberth (Hg.), Kulinarisches Kino. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film, Bielefeld, Transcript, 2013.
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