Ein lyrisches Sprechen, das kritisiert und besticht
Ulrike Bails "statt einer ankunft"
2004 wurde die an der Ruhr-Universität Bochum habilitierte evangelische Theologin Ulrike Bail mit dem Henning-Schröer-Förderpreis für ihre wissenschaftlichen Publikationen ausgezeichnet. Den ersten Lyrikband publizierte sie 2011 unter dem Titel wundklee streut aus. 47 gedichte über theodora, dem fünf Jahre später ein zweiter folgte: sterbezettel. Mit die empfindlichkeit der libelle (2017), wie viele faden tief (2020) und statt einer ankunft (2021) erschienen drei weitere Lyrikbände. 2011 und 2015 wurde die Autorin beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet. Einige ihrer Gedichte wurden ins Französische, Englische und Arabische übersetzt. Für das noch unveröffentlichte Manuskript ihrer jüngsten Veröffentlichung statt einer ankunft wurde Ulrike Bail 2020 mit dem ersten Preis des Concours litteraire national ausgezeichnet. 2021 folgte der renommierte Prix Servais für wie viele faden tief.
Ulrike Bails Lyrik klingt und spricht, wenn sie gelesen wird. Sie hört sich nah und fern zugleich an; als würde eine Stimme durch die Worte hindurch sich selbst ertönen lassen, ohne zu laut oder zu leise zu werden. Ein wohltemperiertes und plätscherndes Sprechen, ein quasi parlando macht die Wörter flüssig und leicht. Die Lektüre stimmt es nachdenklich wie ein Flüstern zwischen den Buchseiten, das ein Echo verlangt.
Näh(t)e
In dem Buch wie viele faden tief1 ist Bails Sprache bildhaft. Das Nähen als Handlung und die damit verbundenen Wortfelder und Assoziationen des Zerreißens, Kettelns, Ausfransens, Säumens, Heftens und Fädelns werden räumlich über die Buchseiten gezogen, geplättelt, gedehnt und gestickt. Ein beinahe haptisches Auflesen der einzelnen Stich-Wörter mit den Augen geschieht. Auch darf beim genauen Lesen gesprungen werden, von oben nach unten, von rechts nach links und diagonal über die beiden aufgeschlagenen Buchseiten hinweg. So kommt in dem erfassenden Blick der Lektüre ein filament zustande, ein viele faden tief Gezwirntes und Geknotetes zum Erblühen. Die Collagen am Ende des Buches nehmen den räumlichen Aspekt der Gedichte auf und führen ihn weiter: Nähkästchen, Fingerhut, Kurzwaren, Zickzackstich, Überwendlingsstich usw. Das sind Wörter aus Gedichten, die unter Guckkästen stehen, die Näh(t)e zwischen Sprache und Kunst, Gedichten und Schaulust säumen. Es sind zusammen gesehen und gelesen auch Zitatkammern für die Gedichte im ersten und inneren Teil des Buches; besonders wenn vom öhr gesprochen wird, das den narrativen Faden erfasst und in die Textur sowie den Guckkasten überleitet.
Arrêts supprimés
Hören wir in Ulrike Bails statt einer ankunft2 hinein. Was geschieht hier? Welches Öhr nimmt den Faden für die Nadel auf?
Das Buch ist in vier Abschnitte unterteilt, die mit folgenden Überschriften versehen sind: 1 binnchen – parc de l’europe, 2 aéroport – val fleuri, 3 arrêts supprimés und 4 draußen. Der erste Abschnitt umfasst neunzehn Gedichte, der zweite fünfundzwanzig, der dritte vier und der letzte ein Gedicht. Im letzten Teil auf den Seiten 67-69 finden sich außerdem Zitatnachweise und wichtige Hinweise zu den einzelnen Haltestellen wie der folgende: „Der Gedichtband entstand größtenteils vor der Coronapandemie. Ihm liegt der Plan des Bus- und Tramnetzes der Stadt Luxemburg vom November 2019 zugrunde. Zu dieser Zeit wurden aufgrund von Bauarbeiten die Haltestellen, die unter arrêts supprimés genannt sind, nicht angefahren. Für die Drucklegung wurden die Hinweise auf die Wege von der einen zur anderen Haltestelle der beiden virtuellen Linien nach dem Plan vom 22. 12. 2020 aktualisiert. Sie sind als Möglichkeiten zu verstehen und unterliegen den Veränderungen des städtischen Plans des öffentlichen Verkehrs und den individuellen Wünschen der Leser*innen.“3
Transport bedeutet Beförderung, Versendung, in der Buchhaltung auch Übertrag. Es geht um Beweglichkeit und Tragbarkeit. In statt einer ankunft beschreibt Bail das urbane Luxemburg und zugleich dessen Virtualität anhand zweier Routen. Wir fahren lesend gemeinsam von den Haltestellen „binnchen“ zu „parc de l’europe“ und „aéroport“ zu „val fleuri“. Zwischendurch sind die möglichen Richtungswechsel durch die Angabe der Buslinien unten auf den Buchseiten verzeichnet wie zum Beispiel von „lavals park“ nach „parc de l’europe“ mit „bus 4 in richtung dommeldange parc de l’europe“4. Es gibt aber auch die „arrêts supprimés“. Sie lauten „martyrs, paris/zitha, pariser platz“ – und dann lesen wir „bergamo“. Diese Haltestelle gibt es in Luxemburg nicht. An der letzten Stelle des dritten Teils des Buches hält Bail sprachlich, gedanklich und hörend inne. Der ganze letzte Vers heißt „bergamo arrêt supprimé“5. Die drei Worte geben der Traurigkeit und dem Entsetzen über die europäische Flüchtlingspolitik und die COVID-19-Pandemie Raum. Von hier aus erschließt sich die ambivalente Logik des Buchtitels statt einer ankunft, der besagt, dass es in keiner Stadt Orte einer Ankunft gibt, die nur dies sind. Stattdessen gibt es ruhelose, bewegte, sich unaufhörlich verändernde Orte, die von uns passiert werden: urbane Zentren oder Randgebiete, die mit Geschichte aufgeladen sind, und die sich im Netz des öffentlichen Nahverkehrs sprachlich durch ein einziges Wort um unser Gedächtnis bemühen. Dass dies auch Orte sein können, die Ankunft verweigern und Menschen vergessen, denen extremes Leid zugefügt wurde, ist ebenso wahr. Das erste Gedicht von arrêts supprimés auf Seite 59 lautet:
die stimme zögerte nicht
martyrs anzukündigen
jene 5703 toten des krieges
denen rosenunterfüttert gedacht wird
hätten die busse hier nur eine minute
den fahrplan unterbrochen
wo kämen wir hin
wo wir jetzt sind6
Hier geschieht in den ersten sechs Versen etwas, das lyrisches Sprechen, Faktizität des Geschichtsverlaufs und abstumpfenden Sprachgebrauch kritisch ineinander blendet. Mit den letzten beiden Versen „wo kämen wir hin/wo wir jetzt sind“ werden wir an den eigentlichen Anfang des Buches zurückverwiesen; denn das vorangestellte Zitat von Michel de Certeau lautet: „Im heutigen Athen heißen die kommunalen Verkehrsmittel metaphoroi. Um zur Arbeit zu fahren oder nach Hause zurückzukehren, nimmt man eine ,Metapher‘ – einen Bus oder einen Zug.“ Der aus Kunst des Handelns von Certeau7 zitierte Satz ist ein Wink der Autorin, dass ihre Lyrik in diesem Buch auch eine Übersetzungsarbeit ist, an zentralen Stellen eine politisch motivierte. Was sprachlich wohin über-setzt wird, kann die genaue Lektüre im Abgleich der realen mit den lyrisch veränderten Worten erkennen. Es können einzelne Wörter sein wie die genannten Haltestellen, die in der Wirklichkeit Luxemburgs tatsächlich vorkommen, und die in die Lyrik Bails durch Kontextualisierung verändert eingehen. Und es können Sätze sein wie „ungedeckt standen wir vor dem theater“8, die ein Gefühl oder eine Stimmung beschreiben in einer konkreten Situation, eben vor dem Theater in Luxemburg, und die in das lyrische Sprechen weiter übersetzt so klingen: „ließen den tanz auf ausgestreckten händen / erinnern ein vorgelagerter schmerz was uns / zu umwachsen begann nervenbahnen aus lichten / bewegungen unter dem handrücken wuchs / ein toter raum keine nahm den bus zurück“9. Der Vers „Wo kämen wir hin / wo wir jetzt sind“ ist wiederum auf die Art und Technik des sprachlichen Übersetzens von Worten aus der Realität in das lyrische Sprechen zu verstehen, das heißt als Bewegung der Reflexion, als Rückwendung von einem räumlichen „wo“ zu einem zeitlichen „jetzt“, welches eben das Gedicht selbst ist. Dieses ist aber nicht Rückzugsort in dem Sinne, dass hier Schweigen oder Stille herrscht. Es soll vielmehr eine Stimme hörbar werden, die sich gegen humanitäres Leid erhebt, die nicht einfach verklingen darf, wenn die Gedichte gelesen und deren besondere Sprache womöglich wieder vergessen ist. Bail gelingt dieser Versuch aus unterschiedlichen Gründen und einem diese verbindenden Anspruch an sich selbst. Durch Zögern, Innehalten, Pausen, Verlangsamung und Brüche in der Textur der Sprache – und an pointierten Stellen durch Reflexion – vollzieht ihre Lyrik eine Gegenwehr zu dem Lärm, der Raserei, der Hybris und absoluten Unempfindlichkeit eines offiziellen Sprachgebrauchs und dessen Anwendung, wie dieser beispielhaft in dem Haltestellenwort martyrs zum Ausdruck kommt.
Dialog und Selbstbeschreibung
Auch in anderen Versen der Haltestellen-Gedichte richtet die Autorin ihre Sprache wie eine Speerspitze gegen Gleichgültigkeit und Selbstverdummung, die durch Vernutzung und Abstumpfung unserer alltäglichen Wahrnehmungseinstellung drohen. Präzise protokolliert sie die Spuren in der Stadt, die von Krieg, Flucht und Verfolgung zeugen, ohne dass sich falsches Pathos in die Worte mischt. Gedanken- und Assoziationsfetzen der historischen Gegenwart mischen sich in die Verse und politisieren die Sprache des Gedichts auf punktierende Weise. Ein Stakkato aus katastrophischer Realität und utopischen Momenten erzeugt Lücken und Atempausen zwischen den semantischen Verdichtungen.
an der endhaltestelle parc de l’europe
die omnibusse der stadt versammeln
routen und abfahrtszeiten entwerfen
für moria idlib cox’s bazaar
auf die flanken der busse fahrpläne
kratzen sie mit den im briefkasten
gefundenen magischen zetteln bekleben
die schutz versprechen gegen feinde und
gefahr gegen tränengas und den verlust
der humanität10
Es entsteht ein persönlicher Dialog mit der Geschichte der Stadt Luxemburg, ihrer Vorgeschichte und dem Jetzt bzw. der Selbstverortung eines sich als geschichtlich und verantwortungsbewusst wahrnehmenden Ich. Moria, Idlib und Cox’s bazaar sind große Flüchtlingslager auf Kreta, in Syrien und im Südosten von Bangladesch. Die Sinne kooperieren, das Auge, das Ohr, die Haut, Geschmack und Nase mit der Erinnerung. In Gedanken versunken unterwegs durch die Stadt als Teilnehmende des Nahverkehrs, bedeutet jedes Halten, Hinsehen, Aussteigen, Richtung wechseln, Einsteigen und Weiterfahren auch den Ebenenwechsel der beschreibenden Wahrnehmung. Aus dieser formen sich immer wieder neue Metaphern, die Sprache selbst an sich als Transportmittel offenlegen, als bewegliches Verkehrsnetz zwischen Menschen. Auf die Autorin bezogen könnte dies auch heißen, dass alle Gedichte in statt einer ankunft auf diese selbst sich zubewegende Texturen sind, Sprachkörper, deren Signifikanz sichtbar und spürbar wird durch den spezifischen Klang. Sehen wir uns die Verse der ersten Gedicht-Strecke binnchen – parc de l’europe genauer an. Behalten wir im Hinterkopf, dass die Strecke der Tram durch Luxemburg von einem Fahrgast beschrieben wird, der sich auch auf den Weg zu sich selbst macht.
im regenspiel der stadt
zerfällt mein gesicht in lichter
auftauchend verlöschend
glimmen satzteilchen auf
in unbekannten sprachen
fangen sich silbe um silbe
binn binnchen11
Im letzten der beiden homophon klingenden Worte des Gedichts steckt anagrammatisch der Satz Ich bin. Durch diesen beginnt das lyrische Ich im ersten gedichteten Schriftzug, indem es sich von der sich seiner selbst vergewissernden Selbstbeschreibung binnchen über die einzelnen Haltestellen der Zugstrecke bis parc de l’europe hinwegbewegt, mithilfe einer Metaphernübung, d. h. Übersetzungs-Arbeit der momenthaft wahrgenommenen Realität in die Schrift des Gedichts, selbst zu schreiben. Anders: Die Autorin übersetzt sprachlich als wirklich wahrgenommene Details oder Bruchstücke des realen Luxemburg in eine neue Sprache und wird dabei von dieser metaphorischen Übersetzungsarbeit zum schreibenden Ich eines so und so wahrgenommenen, neu und anders lesbaren Luxemburg. Binnchen ist eine Haltestelle in Luxemburg und zugleich ist es die durch Bails klingende Sprache vollzogene Geste des sich selbst sprechend-schreibenden und als solches benennenden Ich. Beginnt doch das erste Gedicht mit dem Blick auf die und durch die nicht genannte Glasscheibe der Tram hindurch, in der das Gesicht der Betrachterin sich spiegelnd im regenspiel zerfällt, in der aber auch Satzteilchen in unbekannten Sprachen glimmen, die sich Silbe um Silbe fangen, um aufgefangen und verwandelt zu werden in die Sprache des Gedichts; wie bin in binnchen eingeschrieben.
Stille und Klang
Springen wir von Seite 9 zu Seite 44 des Lyrikbandes, so befinden wir uns auf der zweiten Tramstrecke von „aéroport“ nach „val fleuri“. Die Haltestelle heißt hildegard von bingen. Binnchen und bingen, das klingt ähnlich und doch ganz anders. Als hätte sich die frühe Silbe bin in bing fortgesetzt oder auch weitertransportiert, worauf das Zitat Hildegards von Bingen fraglos und doch eine Frage aufwerfend in die letzten beiden Verse verweist: „wohin / werde ich gehen“. Das Enjambement nach nur einem Wort wohin reißt in die logische Syntax ein kleines Loch, sodass anschließend im letzten Vers das werde sich mit dem Personalpronomen ich auf zweifache Weise verknüpfen lässt; als offene Frage bezogen auf das wohin und als Zweifel bezogen auf das werde ich gehen.
in die straße hildegard von bingen
hineingehen zwei bahnen ein zelt aus
schnee vierundachtzig meter ahnung
brachland glas weiß überzogen
eine missliche situation
ich elende
leidvolle
wohin
werde ich gehen12
Die letzten Verse sind ein Zitat aus Hildegard von Bingens Liber Scivias.13 Die Sprache Ulrike Bails formt in diesen neun Versen auf eminente Weise Stille, weil und wie sie durch die einzelnen Worte „hineingehen zwei bahnen ein zelt aus / schnee vierundachtzig meter ahnung / brachland glas weiß überzogen / eine missliche Situation“ und das anschließende Zitat selbst eine Zeltbahn entstehen lässt, in die wir hineinhorchen, gedanklich gehend in Brachland, dessen Seiten wiederum weiß überzogen sind zwischen den Worten. In statt einer ankunft – vielleicht weil die räumliche Komponente eine so wichtige Rolle für den gesamten Aufbau des Buches spielt – wirkt sich die Beziehung zwischen Stille und Klang besonders stark auf die Lektüre aus. Fast könnte der Eindruck entstehen, die Worte seien ebenso der Vorstellung eines Tonsatzverfahrens entsprungen wie der einer semantischen Verknotungstechnik. Es ist keine Geheimsprache, die sich aufspielt, sondern Klangdichtung, die das Weiß der Buchseiten sehr fein austariert zwischen Erklingen- und Verklingenlassen. Die arrêts supprimés werden auf diese Weise als aufgehobene, im realen Raum Luxemburgs verschwundene Haltestellen zu Orten der Trauer.
- Ulrike Bail, wie viele faden tief. Gedichte, St. Ingbert, Conte Verlag, 2020.
- Dies., statt einer ankunft. Gedichte, St. Ingbert, Conte Verlag, 2021.
- Ebd. S. 67.
- Ebd. S. 26-27.
- Ebd. S. 62.
- Ebd. S. 59.
- Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin, Merve Verlag, 1988, S. 215.
- Ulrike Bail, statt einer Ankunft. Gedichte, St. Ingbert, Conte Verlag, 2021. S. 17.
- Ebd. S. 17
- Ebd. S. 27.
- Ebd. S. 9.
- Ebd. S. 44.
- Hildegard von Bingen, Werke. Band I. Wisse die Wege – Liber Scivias, übersetzt von Mechthild Heieck, eingeleitet von Sr. Maura Zátonyi OSB, Beuron, Beuroner Kunstverlag, 2010, I.4.8. (1151/52).
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