Ein Schritt vor und zwei zurück

Vom Känguru und Herrn Kartheiser

Nicht Beckenbauer, nicht einmal Messi: Niemand käme auf die Idee, mitten in einem laufenden Fußballspiel die Regeln zu ändern. Beim gesellschaftlichen Zusammenleben und den Gesetzen, die dieses regeln, scheint das anders zu sein. Immer wieder kommen Mitspieler auf die Idee, Erreichtes in Frage zu stellen und das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Der Grund: Was dem einen als Fortschritt erscheint, ist dem anderen Ausdruck moralischen Verfalls. Weil so vieles im Leben aber eine Frage des Geschmacks ist, gibt es Gesetze, an die sich alle, gleich, welchen Wertehorizont sie als maßgeblich betrachten, zu halten haben. Aber trotz dieser Gesetze sind bestimmte Aspekte dessen, was viele Fortschritt nennen, nie gesichert. Fortschritt ist fragil.

Die Gefahr, einmal erreichte Ziele wieder zu verlieren, lässt sich rezent u.a. an Angriffen auf zwei Emanzipationsbewegungen beobachten: Sowohl Frauen als auch Homosexuelle stehen im Fadenkreuz. Figuren erscheinen auf dem Spielfeld, die unzufrieden mit den erreichten Zielen dieser Emanzipationsbewegungen sind. Und der liberale Beobachter denkt sich: „Wir waren schon mal weiter“.

Wir waren schon mal weiter

Weltweit lassen sich in den vergangenen Jahren immer wieder Debatten identifizieren, bei denen als bis dato gesicherte Erkenntnisse und erreichte Ziele wieder infrage gestellt werden. Und da müssen wir nicht nach Brasilien oder Ungarn blicken: In Frankreich, Deutschland und Luxemburg geschieht in dieser Hinsicht ebenso Alarmierendes. Das Recht auf Abtreibung und die Homo-Ehe werden kritisiert, antisemitische Übergriffe nehmen zu und die Prüderie greift um sich, wenn in sozialen Medien Nacktheit verteufelt wird, während die schlimmsten Gewaltexzesse für Kinder mit nur einem Klick zugänglich sind.

Vor zehn Jahren wäre der Jubel groß gewesen, wenn die Firma Gillette in einem Werbespot gezeigt hätte, dass es nicht richtig sei, Frauen an den Hintern zu fassen, ihnen blöde hinterher zu pfeifen oder sie zu bevormunden. Nun, 2019, gibt es diesen Werbespot wirklich. Auf YouTube hat er seit Mitte Januar dieses Jahres mehr als 20 Millionen Klicks erhalten, kommentiert wurde er über 413.000 Mal. Aber einhellig geliebt wird der Clip nicht.

Das Video zeigt ein Davor und ein Danach. Im Davor benehmen sich Männer so richtig daneben, dann erklingt die Stimme aus dem Off: „But something finally changed“. Bilder, die auf die #metoo-Debatte verweisen, werden präsentiert, und man hört: „There will be no going back.“ Im zweiten Teil des Videos, der eingeleitet wird mit den Worten „We believe in the best in men“ werden Männer gezeigt, die ihre Freunde darauf hinweisen, Frauen nicht zu belästigen, die Streit zwischen Männern, aber auch zwischen Kindern schlichten. Kurzum: Es werden zivilisierte und freundliche Männer in Szene gesetzt, die sich darum kümmern, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Am 17. Februar hatte das Video über 770 Tausend Likes. Gleichzeitig aber zeigten über 1,4 Millionen Daumen nach unten. „There will be no going back“? Vielleicht ja doch. Anscheinend stört es fast eineinhalb Millionen Menschen, einer Frau nicht mehr so einfach ans Hinterteil fassen zu dürfen. Warum ruft dieser Clip soviel Abneigung hervor? Diese Frage wird uns in diesem Jahr beschäftigen müssen.

Luxemburgs Point of no return?

In Zusammenhang steht diese Frage mit einem Fall aus Luxemburg, in dem es auch um unseren Umgang mit Männlichkeit(en) geht. Was das Großherzogtum betrifft, könnte man eigentlich annehmen, dass wir hier schon den „Point of no return“ überschritten haben sollten. Bei uns leben und arbeiten, um nur zwei Beispiele zu nennen, ein Staatsminister, der zugleich die Ministerien für Kommunikation und Medien, Kultusangelegenheiten, Digitalisierung und Verwaltungsreform innehat und mit einem Mann verheiratet ist; außerdem eine lesbische ehemalige luxemburgische Bürgermeisterin, DP-Generalsekretärin und -Präsidentin und auch Vize-Staatsministerin, die zugleich zahlreiche Ministerien leitete. Homosexualität sollte also zu Luxemburg gehören wie die Rieslings-Pastete, die Kniddelen oder Léa Linster. Und es sollte normal sein, Kindern beizubringen, homosexuelle Menschen nicht zu diskriminieren. So dachte man, bis ein Abgeordneter begann, auf ein schwules Känguru einzudreschen.

Ende letzten Jahres wurde in luxemburgischen Schulen angekündigt, dass es im Februar zu einer Aufführung des Theaterstücks „Ein Känguru wie du“ kommen würde. Premiere war vor einigen Wochen in der Abtei Neumünster. Im Stück geht es um zwei heterosexuelle Tiere, einen Tiger und einen Panther, die ein schwules Känguru kennenlernen. Ihre anfänglichen Zweifel überwinden sie, als sie merken, was für ein toller Typ dieses Känguru ist. Sie freunden sich mit ihm an und überwinden ihre Homophobie. Das ist die Moral vom Theaterstück, und hier könnte die Geschichte enden. Tut sie aber nicht.

Besorgte Eltern

Die Debatte begann mit einer parlamentarischen Anfrage des Abgeordneten Fernand Kartheiser (ADR) an Bildungsminister Claude Meisch (DP) vom 3. Dezember 2018. Kartheiser hatte, so schreibt er in seiner Anfrage, von „besorgten Eltern“ erfahren, dass Kinder aus der Klasse 4.2 verpflichtet würden, ein Theaterstück namens „Ein Känguru wie du“ anzuschauen, in dem es hauptsächlich um Homosexualität ginge. Nun wollte er u.a. wissen, ob es in der Unterrichtsplanung vorgesehen sei, dass Kinder Theaterstücke über Homosexualität sehen müssten. Er fragte, ob der Bildungsminister es als altersgerecht für Kinder des Cycle 4.2 empfinde, ein solches Stück anzuschauen. Schließlich wollte er wissen, ob es auch vorgesehen sei, den Kindern Stücke über heterosexuelle, traditionelle und „natierlech Familljen“ zu zeigen, in denen dieses Lebensmodell als positiv dargestellt werde?

Eine Woche später antwortete Meisch, der das Stück nach Luxemburg eingeladen hatte. Er bezog sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und zitierte: „All Mënsche gi fräi gebuer, mat gläicher Dignitéit a mat deene selwechte Rechter“. Er erinnerte an Artikel 3 des „Loi du 6 février 2009 sur l’obligation scolaire“, in dem stehe, dass sich die schulische Erziehung an den Werten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte orientiere. Auf das Theaterstück bezogen führte der Minister fort: „Et geet drëm, Viruerteeler, Klischeeën, Intoleranz an Ausgrenzung ze bekämpfen. An et geet drëm, d’Wäerter vun der Frendschaft héichzehalen, eng Frëndschaft, déi keng Grenze kennt, weder déi vun Reliounen, politeschen Iwwerzeergungen oder der sexueller Orientéierung.“

Eine Einladung, sich selbst ein Bild zu machen

Nach der Weihnachtspause ging die Debatte weiter, freundlich eröffnet durch einen Brief der jonk gréng vom 5. Februar. Sie schickten als Anlage zu ihrem Schreiben ein Ticket für die Premiere an Kartheiser und luden ihn ein, sich selbst ein Bild von der Vorstellung, gegen die er seine parlamentarische Anfrage gerichtet hatte, zu machen. Zur Erinnerung: Basis der Anfrage an den Minister waren Berichte besorgter Eltern, nicht die Lektüre des preisgekrönten Stückes und nicht der Besuch einer Inszenierung. Die jonk gréng schrieben, dass sie der Meinung seien, das Theaterstück habe das Potential, die Werte der luxemburgischen Verfassung, der EU, der universellen Menschenrechte zu diffundieren und dass niemand zu jung oder zu alt sein könne, mit diesen Werten konfrontiert zu werden. Abschließend fügten sie beruhigend hinzu: „Mir ënnerstëtzen all positiv Duerstellung vun natierlechen a normale Familljen, dorënner souguer déi mat heterosexuellen Elteren.“ Das hätte Herrn Kartheiser gefallen müssen. Tat es aber nicht. Kartheiser wies die Einladung zurück und reagierte mit einem Schreiben vom 7. Februar. Hierin gibt er viele Antworten, allerdings auf Fragen, die niemand gestellt hat.

Zähneknirschend bedankt er sich für die Einladung, um dann zu erklären, warum er ihr nicht folgen werde. Er interessiere sich weder künstlerisch noch inhaltlich für das Stück, so setzt er an. Man reibt sich die Augen und fragt sich: Warum hat Herr Kartheiser denn eine parlamentarische Anfrage gestellt, wenn ihn das Stück nicht interessiert? Er habe, so führt er fort, keine Vorurteile, er sei kein Känguru, er halte sich philosophisch und auch sonst für aufgeklärt, auch sei er zufrieden mit seinem Herz und seinem Verstand. Er wolle seine Zeit lieber anders investieren. Er wolle einer Diskussion jedoch nicht aus dem Weg gehen, worum es ihm gehe sei u.a. Folgendes.

Eine Art Diskursverschiebung

Er beklagt die Frühsexualisierung von Kindern. De facto geht es im Stück aber gar nicht um Sex, sondern darum, Kindern zu zeigen, dass man Homosexuelle nicht diskriminieren soll. Kartheiser beklagt weiter die einseitige Indoktrinierung von Kindern, während das Stück jedoch, in dem drei heterosexuelle und ein homosexueller Protagonist vorkommen, nur um Akzeptanz wirbt. Der Abgeordnete reklamiert die Bindung von Kindern an ein Konzept von Elternschaft, das die Kinder auch kennen. Er vergisst dabei, dass es viele Kinder gibt, die auch andere Konzepte von Elternschaft kennen, als die, die er selbst im Sinn hat. Und es gelingt ihm sogar noch, das Thema künstliche Befruchtung sowie Abtreibung in die Debatte um ein Theaterstück zu bringen, in dem es schlicht und einfach um die Akzeptanz von Homosexualität geht. Und um Freundschaft. Und um Toleranz. Und um Pizzen mit Ananas. Und auch darum, sich mal zuzuhören.

Alles, was die jonk gréng wollten, war eine auf Sachkenntnis basierte Auseinandersetzung eines Abgeordneten mit einem Theaterstück zu lancieren, welches dieser mittels parlamentarischer Anfrage infrage gestellt hatte. Was sie bekamen, war keine Auseinandersetzung, sondern eine Art Diskursverschiebung, Skandalisierung inklusive. Da es im Stück um Akzeptanz, Toleranz und Freundschaft und nicht um Frühsexualisierung, Indoktrinierung oder die Verächtlichmachung von Heterosexuellen geht, stellt sich die Frage: Was soll das alles? Wie kann man ernsthaft gegen ein Stück wettern, das man nicht gesehen hat und das für ein friedliches Miteinander wirbt?

Harmlos bis zum Anschlag

Die einzige Erklärung, die sich hier anbietet, ist die, dass es dem Abgeordneten darum geht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wenn in einem Land Homosexuelle leben, heiraten und regieren dürfen, dann kann es nicht sein, dass man Schüler*innen den Besuch eines Theaterstücks verbietet, das nicht mehr will, als Akzeptanz gegenüber Homosexuellen zu fördern. Aus einem Stück für Kinder, das harmlos bis zum Anschlag ist, macht Herr Kartheiser mit zwei Briefen einen Skandal und setzt nicht nur den Bildungsminister, sondern auch die an der künstlerischen Produktion beteiligten Personen unter Rechtfertigungsdruck. Indes, wer unter Berufung auf die Menschenrechte für Akzeptanz von Diversität wirbt, hat sich nicht zu rechtfertigen. Wer jedoch Zwietracht sät und Ressentiments bedient, der muss sich Fragen gefallen lassen.

Der Fall Gillette und der Fall Kartheiser zeigen, dass es auch in Demokratien unter einigen Mitspielern*innen ein Unbehagen gibt, wenn in der Öffentlichkeit ein nicht-toxisches, freundliches oder homosexuelles Männlichkeitsbild gezeigt wird. Das Absurde daran ist, dass Kritiker einer Frauen- oder Homosexuellenemanzipation eigentlich nichts abgeben müssen. Alles, was heterosexuelle Männer durch emanzipatorische Entwicklungen verlieren, sind Privilegien. Genau dies aber scheint viele zu stören. Wenn wir unsere demokratischen Spielregeln ernst nehmen, dann kann ein Theaterstück über ein schwules Känguru kein Skandal sein. Dann ist die Infragestellung dieses Stücks der Skandal.

 

Quellen:

Parlamentarische Anfrage von F. Kartheiser an C. Meisch vom 3.12.2018 und dessen Antwort vom 10.12.2018
https://chd.lu/wps/portal/public/Accueil/TravailALaChambre/Recherche/RoleDesAffaires?action=doQuestpaDetails&id=16693&backto=p0/IZ7_28HHANET20F2A0A91N6L0M0CE3=CZ6_D2DVRI420G7Q402JEJ7USN3851=M//%3E

Öffentlicher Brief der jonk gréng an F. Kartheiser vom 5.2.2019
http://www.jonkgreng.lu/breif-un-den-kartheiser-mit-herz-und-hirn-gegen-vorurteile/

Seine Antwort vom 7.2.2019
https://adr.lu/wp-content/uploads/2019/02/bréif_déi-jonk-gréng_invit_känguru_fk_äntwert.pdf

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