Mit Xavier Bettels Auftritt bei seiner Rede zur Lage der Nation am 12. Oktober 2021 wurde offenbar, dass aus dem begeisterten Brückenbauer, der die Luxemburger Gesellschaft nach lustbetontem und fluidem Muster verändern wollte und dabei von zahlreichen jüngeren Mittelschichtlern getragen wurde, die sich mit ihm und seinen Verbündeten identifizieren konnten, ein verhaltener, sachlich sich an die Eingaben seiner Kabinettsmitglieder haltender, emotional gedämpfter, ja fast amtsmüde scheinender Premier geworden ist, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist.
Dabei war diese Rede mehr als ein „3 Suisses-Katalog“, wie so viele andere ihrer Art. Wenn auch vom Wesen her betont innenpolitisch ausgerichtet, blendete sie keine der großen Herausforderungen unserer Zeit und deren Folgen für das Land aus. Die Klimakrise, die Sozialkrise und ihre Folgen für die Demokratie, die Krise innerhalb der EU, ausgelöst durch Mitgliedsstaaten, die immer weniger im Einklang mit den verpflichtenden Rechtsnormen des Staatenbundes regiert werden, die strategische Katastrophe in Afghanistan und ihre Folgen für die Sicherheit und Verteidigung in Europa – alles wurde in der Rede unter dem Titel „Eise Wee. Eist Zil“ entweder durchdekliniert oder zumindest erwähnt. Nun ist es an den Fachministern, die nur angesprochenen Themen zu gegebener Zeit weiter zu vertiefen.
Und dennoch hatte man den Eindruck, dass Bettel eine Rede vortrug, die ihm nicht ganz geheuer war, die er amtshalber halten musste, die ihn, wie seit Beginn der Corona-Pandemie, in eine Rolle versetzte, mit der er sich schwertut. Der Premier ist zu sehr ein verspielter und zuweilen sorgloser Narziss, wie es im Sommer seine Ansteckung mit COVID-19 (vermutlich nach einem Besuch in einem Garer Nightclub) oder seine – wenn auch private, so doch politisch mehr als anfechtbare – Teilnahme an der Hochzeit eines Mitglieds der Romanow-Dynastie Anfang Oktober in Moskau dokumentieren, als dass sein Auftreten ein Zeichen staatsmännischer Zurückhaltung gewesen wäre, ein gewolltes Verschwinden hinter dem kollektiven Wort seiner Regierung. Sein, wie Raymond Klein in der woxx schrieb, lustloses Vortragen hat eher etwas mit dem Prinzip Realität und den sich daraus ergebenden Problematiken zu tun, über die er sprechen musste und die ihm zutiefst widerstreben. Denn sie erfordern so komplexe Lösungen, dass diese die Lust am Regieren abtöten, und lassen eine gesellschaftliche Lebensart für Bettels Wählerschaft vorausahnen, mit der diese und er selbst nichts anzufangen wissen. Narziss’ Spiegel ist zerbrochen.
Als Bettel vor acht Jahren angetreten war, konnte er auf eine eher jüngere Wählerbasis bauen, bei der die Überzeugung vorherrschte, dass es noch viel zu holen gebe, dass ein Individuum es in Luxemburg alleine schaffen und man auch ohne höhere Begabungen unter Gambia schnell über sich hinauswachsen könne. Die rasante, durchaus vorhersehbare Verteuerung auf dem Wohnungsmarkt, die Bettels Elektorat im Kern trifft, und jetzt die Pandemie mit ihren Folgen für junge Familien, die Klimakrise und die einsetzende Inflation haben diesen himmelsstürmenden Illusionen ein jähes Ende gesetzt. Noch im Juni 2020 hatte Bettel vor seiner Partei erklärt, er wolle Premierminister eines Landes sein, „wo wir den Leuten sagen: hier ist ein Trampolin, und jetzt springst du wieder, und jetzt springst du höher.“ Da stimmten Ton und Inhalt seiner Erklärung noch überein. In seiner Rede zur Lage der Nation von 2021 sprach er die Klimakrise frontal an, erstaunlich für einen Liberalen. Aber sein Aufruf zum Thema – „Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen, vor denen die Menschheit je stand. Aber gemeinsam schaffen wir es.“ – klang, so wie er ihn konkret vortrug, hohl, ohne Elan: kein Wechsel in der Tonlage, keine Beschleunigung des Redetempos, keine Atemlosigkeit, kein Tremolo, nur ein fahles Aussprechen.
Der Schlüssel zu all dem liegt in einem Detail, das sehr aussagekräftig ist. Im Rahmen einer Serie von Maßnahmen zur „Unterstützung für sozial schwache Haushalte“ kündigte Bettel nämlich an, dass „wir in Zukunft Kindern aus Familien mit geringem oder mittlerem Einkommen kostenlose Mahlzeiten in der Grundschule und im Gymnasium anbieten“. Welche Spannbreite von Haushalten damit gemeint war, erfuhr die Öffentlichkeit am nächsten Tag durch Claude Meisch (DP), Minister für Bildung, Kinder und Jugend: „In der Grundschule betrifft das Haushalte, die weniger als viermal den Mindestlohn verdienen“. Seit dem 1. Oktober dieses Jahres liegt die Obergrenze für solch ein Angebot bei 9.000 Euro Bruttolohn: in der EU und dem nahen Ausland ein hohes Einkommen, das aber in Luxemburg nicht mehr viel bedeutet. Was Bettel im Namen der Regierung eigentlich vortrug, war eine prospektive, nur von wenigen als solche wahrgenommene Grabrede auf ein Luxemburg, in dem den Mittelschichten ein üppiges, vergleichsweise unbeschwertes Leben bis jetzt beschert oder versprochen war. Das sind tempi passati! Wer unter 9.000 Euro in Luxemburg verdient, gilt nun offiziell als sozial schwach und braucht Unterstützung. Da kommt auf Dauer mehr als nur Statusdünkel ins Wanken. Da stellt sich die Frage, wer ist „Wir“, mit denen der von den Plagiatsvorwürfen der Kollegen von Reporter.lu nun auch in seiner Reputation angeschlagene Premier „es“ schaffen will.
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