- Kultur
Eros oder Pragma?
Eine Kritik am Lob der Vernunftehe (Arnold Retzer) und Gedanken über den Glücksanspruch in der Liebe und Partnerschaft
Er will nicht so recht dazu passen. Zu Erich Fromm, Richard David Precht, Francesco Alberoni. Ja, im Bücherregal, zwischen Die Kunst des Liebens, Liebe und Le choc amoureux, fällt Arnold Retzers Anti-Romantik-Ratgeber auf. Diesen sollte man laut der FAZ „nach Möglichkeit vor der ersten (oder wenigstens nächsten) Hochzeit lesen und beherzigen“1. Er trägt den Titel Lob der Vernunft-ehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe. Fast 300 Seiten, mittlerweile in der 4. Auflage erschienen. Die Titelgebung soll anachronistisch und polemisch wirken, mit Lob der Räson seitens des Autors und seiner Forderung nach weniger Idealismus. Das hat auf den ersten Blick etwas von kategorischem Imperativ, preußischen Tugenden, Biedermeier.
Was ist los in unserer digitalisierten Gesellschaft, die sich durch Fortschrittsglauben und Innovationsfähigkeit innerhalb kürzester Zeit so radikal gewandelt hat, und der dann der Realismus im Intimen scheinbar abhandenkommt? Was ist passiert, dass wir mit einem Appell an die Vernunft zurechtgewiesen werden sollen?
Erfüllte Liebe im toten Winkel der Kunst
Arnold Retzer, Psychologe, Paarthera-peut, Gründer des Systemischen Instituts Heidelberg, beginnt sein Werk mit dem Ende der Liebesromane und -filme, welche meistens „dort enden, wo das Leben zu zweit beginnt. Dann ist die Luft raus und nun kommt der langweilige Teil, wenn denn überhaupt noch etwas kommt.“ Der Autor streicht zu Recht hervor, dass über Liebe selten glückliche Geschichten entstehen. Die glückliche Liebe ist wie ein blinder Fleck in der Kunst- und Kultur-geschichte. Bedrohte, verratene, scheiternde, unerfüllte Liebe, das ist der Stoff altertümlicher und neuzeitlicher Mythen sowie gegenwärtiger E- und U-Kultur. Eine zufriedene Julia oder einen glücklichen Tristan kann es nicht geben.
Von daher könnte es also schon Sinn machen, die Liebe zu entmystifizieren und aufzuräumen mit ihrer Repräsentation als Leiden oder Leidenschaft. Wir brauchen, zusätzlich zu der Erklärung der Emotion Liebe als Folge eines biochemischen Zustandes, mehr wissenschaftlich fundierte und in der therapeutischen Praxis bestätigte realistische Darstellungen der Liebe als Wert und Prozess. Nur so können wir die Gründe des Herzens, „die der Verstand nicht kennt“, besser verstehen.
Retzer stellt sich tatsächlich mit diesem Buch der Aufgabe, die Liebe zu „entzaubern“ und dadurch Beziehungen und Ehen von unrealistischen Erwartungen zu „befreien“. „Dauerhafte Beziehungen haben dauerhafte Probleme, Konflikte und Themen. Sich einen dauerhaften Partner aussuchen heißt, sich ein paar dauerhafte Probleme auszusuchen“, schreibt er gleich zu Beginn. Soweit, so gut. Dient abernicht jede problembehaftete Situation, in welche wir uns freiwillig begeben, der Erfüllung eines höheren Zieles?
Zudem vertritt der Autor die These, dass Liebe auf Dauer überhaupt nicht existiert, es somit auch keine „Liebesehe“ geben kann und der Glaube daran demnach unvernünftig ist: „Mit der Liebesehe wird etwas vermischt und zusammengedacht, was einfach nicht zusammengeht und zu unauflösbaren Problemen führt, wenn man beides zusammen haben will.“
Ehe als soziales und von der Liebe emanzipiertes Konstrukt
Und genau hier hakt die Sache mit der Vernunft und dem Realismus. Trotz der Absage an die langfristige Liebe will Retzer per force die Ehe (resp. die eheähnliche Gemeinschaft) „retten“. In der erfolgreichen Ehe, welche er skizziert, kann laut ihm Glück eintreten, muss jedoch nicht zwingend. Nicht nur eine glückliche Ehe sei eine gute Ehe. Ehen, die auf „etwas so Nebensächliches wie das Glück“ setzen, sind laut Retzer zum Scheitern verurteilt. „Das Geheimnis eines erfolgreichen, guten Ehelebens besteht darin, auf das Glück zu pfeifen“, meint er gar.
Interessant an diesem Konzept ist die scharfe Trennlinie zwischen ‚Liebe‘ und ‚Partnerschaft‘. Beides sind für Retzer voneinander unabhängige Systeme, welche auf unterschiedlichen Wertesystemen basieren. Gerechtigkeit sei zum Beispiel ein Wert in einer Partnerschaft, jedoch nicht zwingend ein Wert der Liebe.
Klar, gelingende Partnerschaft braucht mehr als Liebe, sie braucht Kompromissbereitschaft, Geduld und Bescheidenheit. Bedeutet das jedoch auch, dass die Liebe sich dem unterzuordnen hat? Ist gerade die Liebe nicht bloß die Voraussetzung von Partnerschaft, sondern gleichzeitig auch deren Wesen und Triebkraft? Schüttet man nicht das Kind mit dem Bade aus, wenn man den Glücksanspruch gleich ganz aufgibt und die Beziehung im Alltag nur noch als eine notwendige Teambuilding-Übung ansieht? Und ja, Beziehung ist nicht gleich Liebe. The map is not the territory. Das Modell ist nicht die Realität. Dennoch scheinen die besten Modelle immer jene zu sein, welche der Realität am nächsten kommen.
Resignation als Regression
Um trotzdem keine allzu große Frustration beim liebeshungrigen Leser aufkommen zu lassen, wenngleich dieser – wie oben beschrieben – keinen Anspruch auf Glück zu stellen hat, hält der Autor einen einfachen Lösungsvorschlag parat: Da man nicht auf die großen Gefühle und absolute Harmonie zu hoffen habe, solle man einfach die eigenen Erwartungen revidieren, den „Soll-Wert an den Ist-Wert“ angleichen. Habe man das erfolgreich gemeistert, habe man die „resignative Reife“ – „ein(en) vielleicht von Liebe, vielleicht von Zuneigung unterstützter (Reife)Prozess“ – erlangt. Es käme nicht so sehr darauf an, sich zu vertragen, „als vielmehr sich zu ertragen“.
Problematisch scheint hier, dass mit einer derartigen Argumentationslogik jede schlechte Situation und jedes ungerechte System gerechtfertigt werden kann und die Schuld und Verantwortung dafür an den Unzufriedenen und seine vermeintlich zu hohen Erwartungen abgewälzt werden. Erwartungen sind meist jedoch kein Zeichen von Unreife, sondern bilden sich erfahrungsgemäß erst mit zunehmendem Alter und Selbsterkenntnis.
Überspitzt formuliert scheint Retzer eher eine Art Stockholm-Syndrom, oder wenigstens eine opportunistische Wahrnehmungsverzerrung, die wohl kaum zur Achtung des Partners und zu einem authentischen Umgang miteinander beiträgt, zu befürworten.
Vernunft als „Vintage“-Gefühl
Die sture Verteidigung der Ehe als gesellschaftlichen Rahmen für intime Beziehungen hinterlässt einen faden Beigeschmack nach kuscheligem Kinder-Küche-Kirche-„Cocooning“ und man fragt sich, warum jemand sich mit dieser ggf. mittelmäßigen und anspruchslosen Gemütlichkeit zufriedengeben sollte. Warum sollte die Ehe eigentlich gerettet werden?
Retzers Antwort: Wir „sollten unsere Ehe weder als Himmel noch als Hölle ansehen, sondern als einen realistischen Versuch auf Erden begreifen, das an erfüllter Gemeinschaft zu erreichen, was uns vielleicht besser bekommt als das Alleinsein.“ Es ist also vor allem die Ablehnung des Alleinseins, welche zu einer Art von Kapitulation, unter dem Deckmantel von Beziehungsarbeit für Gutmenschen, verleitet.
Ja, wir sehnen uns nach Geborgenheit. Vielleicht wird besonders die heutige Retro-, Instagram-, Secondhand-, „Back to nature“-Generation in unserer Welt der nahezu endlosen Möglichkeiten, mit dem damit verbundenen Optimierungszwang, zu einer Nostalgie nach einer vergangenen vermeintlichen Idylle inspiriert.
Plädoyer für mehr Lebens- und Liebesqualität
Doch der Autor lässt unbeachtet, dass ein vernünftiges Leben heute ganz andere Gestaltungsformen als die Ehe annehmen kann. Sich eben gerade nicht mit einer Partnerschaft abzufinden, deren Qualität irgendwo zwischen „Himmel“ und „Hölle“ angesiedelt ist, scheint für ihn keine Möglichkeit zu sein. Obwohl es eine wichtige gesellschaftliche Errungenschaft ist – für beide Geschlechter!
Es darf außerdem bezweifelt werden, dass jede Form von ‚ertragbarer‘ Zweisamkeit uns unterm Strich besser bekommt als der Verzicht darauf. Ebenso darf bezweifelt werden, dass der Verzicht auf eine traditionelle Beziehung automatisch Einsamkeit oder Abwesenheit von Liebeserfahrungen zur Folge hat. Im Gegenteil: Beziehung als Pflichtübung und Fleißarbeit, Ertragen statt Ehren des Partners, Aufgeben der eigenen Ansprüche, all dies riskiert langfristig zu der Entfremdung beizutragen, die oft als Problem unserer automatisierten Welt beschrieben wird. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schreibt Adorno.
Wir brauchen die Vernunft. Bei US-Präsidentschaftswahlen, in der Wirtschaft, im Straßenverkehr. Aber zu Hause brauchen wir Liebe. Die echte, respektvolle, anspruchsvolle, leidenschaftliche, lebendige, und damit manchmal unvernünftige.
[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/arnold-retzer-lob-der-vernunftehe-was-heisst-in-der-ehe-schon-vernunft-1840848.html
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