Es geht auch ohne Sex

Über Asexualität in Gesellschaft und Medien

Wenn es um LGBTQIA-Thematiken geht, kommt der letzte Buchstabe, der für Asexualität steht, meist zu kurz. Dabei werden auch asexuelle Menschen marginalisiert und im Alltag wie in den Medien häufig missverstanden und pathologisiert. Es geht jedoch auch anders.

Eigentlich könnte Florence nicht glücklicher sein. Sie, die von einer großen Schauspielkarriere träumt, darf an ihrer Schule die weibliche Hauptrolle in einer Theateraufführung von Shakespeares Romeo und Julia spielen. Doch etwas belastet die junge Schülerin: Sie war davon ausgegangen, dass sich das Stück um Liebe dreht, merkte dann aber schnell, dass nicht alle das so sehen. „Anscheinend geht’s nur um Sex. Und jetzt denkt das ganze Ensemble unablässig an Sex“, so ihr Eindruck.

Warum Florence das stört? Sie selbst hatte noch nie das Bedürfnis, mit einer Person zu schlafen. Obwohl sie erst 17 ist, kann sie sich nicht vorstellen, dass sich daran irgendwann etwas ändern wird. Das stört sie nicht, und doch fühlt sie sich von ihrem Umfeld unter Druck gesetzt: „Manchmal denke ich, ich sollte es einfach tun, damit die anderen mich in Ruhe lassen und aufhören, mich wie einen Freak zu behandeln“. In ihrer Ratlosigkeit hat Florence Otis aufgesucht, einen gleichaltrigen, selbsterklärten Sex-Experten an ihrer Schule. Dieser rät ihr, sich nicht darum zu kümmern, was andere denken: „Wenn du die richtige Person kennenlernst, wirst du sicher bereit sein.“

Florence und Otis sind Figuren in der Netflix-Serie Sex Education, einer Produktion, die bereits durch ihren Titel deutlich werden lässt, worauf ihr Fokus liegt. Schauplatz ist ein britisches Gymnasium. Die Protagonist*innen sind größtenteils Schüler*innen, ihre Eltern und Lehrkräfte. Es geht um deren Beziehungen zueinander und die daraus entstehenden Freuden, Ängste und Unsicherheiten. Sex ist, wie könnte es anders sein, natürlich Thema Nummer Eins. Der 16-jährige Otis, der als Sohn einer Sexualtherapeutin überdurchschnittlich gut aufgeklärt ist, sieht darin eine potenzielle Geldquelle und gibt seinen Mitschüler*innen fortan auf Nachfrage Sex-Tipps. Otis’ Ratschläge betreffen längst nicht nur Sexualpraktiken und Beziehungsprobleme. Er ermuntert seine Mitschüler*innen, ihre sexuellen Vorlieben zu erkunden, die Grenzziehungen anderer zu respektieren und sich so zu akzeptieren, wie sie sind. Auf diese Weise zeigt Sex Education, dass Sexualerziehung viel weiter gefasst werden kann, als oft angenommen wird.

Sex als Norm

Doch so aufgeklärt Otis auch ist, kann er sich seiner Sozialisierung als heterosexuellem cis Mann nicht gänzlich entziehen. Manche seiner Ratschläge, wie etwa der, den er Florence erteilt, sind aus diesem Grund nicht wirklich hilfreich. In Otis’ Augen ist jede Person an Sex interessiert und wird früher oder später einen Menschen kennenlernen, mit dem sie dieses Bedürfnis ausleben will. Für ihn und sein Umfeld dreht sich dermaßen viel um das „Wie“, „Wann“ und „Wie oft“, dass sie die Möglichkeit, nicht daran interessiert zu sein, gar nicht als Option wahrnehmen. In einer Gesellschaft, die dermaßen auf Geschlechtsverkehr „trainiert“ wird, bleibt kaum Platz für Personen, die sagen: „Ich kann mit dieser Diskussion rein gar nichts anfangen und das ist in Ordnung“.

Die Art und Weise, wie das Gespräch zwischen Otis und Florence verläuft, bildet innerhalb der Serienlandschaft keine Ausnahme. Desinteresse an Sex wird als – lösbares – Problem dargestellt. Die betroffene Person braucht nur einen Menschen kennenzulernen, zu dem sie sich sexuell hingezogen fühlt, und schon ist alles wieder im Lot. In den seltenen Fällen, in denen eine Figur gezeigt wird, die sich längerfristig nicht für Sex interessiert, wird dies meist entweder als absurd und komisch dargestellt – wie etwa im Fall von Sheldon Cooper in The Big Bang Theory –, oder das Desinteresse wird gar mit Pathologie und Unmenschlichkeit in Zusammenhang gebracht. Der Serienmörder Dexter Morgan aus Dexter stellt ein Beispiel hierfür dar.

Auf diese Weise wird wiederum etabliert, dass Sex zu wollen eine Norm ist, von der kein „normaler“ Mensch abweichen würde. Asexualität wird nur selten als der Hetero-, Homo- und Bisexualität ebenbürtige Identität dargestellt.

Die unsichtbare Orientierung

Dass Asexualität mittlerweile als sexuelle Orientierung gilt, mag auf den ersten Blick verwirren. Denn was hat die Abwesenheit von sexuellem Begehren noch mit Sex zu tun? Und woher kommt das Bedürfnis, diese Abwesenheit zu benennen? Im Grunde verhält es sich nicht anders als mit anderen marginalisierten Identitäten auch: Um sie sichtbar zu machen, müssen sie erst einmal benannt werden können.

Mit anderen nicht-normativen Sexualitäten hat Asexualität gemein, dass ihre Unsichtbarkeit der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Heteronormativität geschuldet ist. Unter letzterer ist die Vorstellung zu verstehen, dass es ausschließlich zwei Geschlechter gibt, nämlich Männer und Frauen, und dass diese sich sexuell aufeinander beziehen. Männer, die nicht ausschließlich Frauen, und Frauen, die nicht ausschließlich Männer begehren, fallen in einer heteronormativen Gesellschaft aus der Norm heraus. Ihre sexuelle Orientierung entspricht nicht der „Norm“ und folglich ist ein Coming-out nötig, um Klarheit zu schaffen.

Bei Asexualität geht das Coming-out noch darüber hinaus: Nicht das Objekt des Begehrens weicht von der Norm ab, sondern die gänzliche Abwesenheit eines solchen Begehrens. Hier kommt also neben der Heteronormativität noch ein weiterer Faktor ins Spiel, der zu einer Unsichtbarkeit führt, nämlich Sexnormativität: die Vorstellung, dass, falls nicht anders behauptet, alle Menschen sexuell begehren und dieses Begehren auch ausleben wollen.

Doch wie ist diese Norm entstanden? Eine zentrale Annahme sexualwissenschaft­licher und psychiatrischer Forschung rund um die menschliche Sexualität besteht darin, dass ein gewisses Maß an sexuellen Bedürfnissen normativ sei. Auch in psychiatrischen Diskursen wird sexuelles Begehren als instinktiv und als Bedingung sexueller Gesundheit erachtet. Diese Annahmen gründen in einem essentialistischen Verständnis von Sexualität, nach welchem diese – äußeren Einflüssen zum Trotz – stabil und unveränderbar ist. Auf diese Weise wurde und wird Sexualität durch Diskurse und Institutionen als notwendiges Attribut der menschlichen Existenz etabliert.

Die negativen Konsequenzen dieser Essentialisierung reichen jedoch über wissenschaftliche Kontexte hinaus. So basiert etwa der Diskurs der sexuellen Befreiung auf einem sogenannten „maturity narrative“: Es wird erwartet, dass Individuen eine Entwicklung durchleben, an deren Ende sexuelle Selbstermächtigung steht. Asexuelle Personen werden nach dieser Logik stets als potenziell-sexuell wahrgenommen. In sex-positiven Kontexten wird Asexualität teilweise nicht anerkannt, weil sie als Zeichen von Repression, Unreife, „Sex-Negativität“ und Konservatismus betrachtet wird. Asexualität wird darüber hinaus oft mit sexuellem Trauma, Missbrauch und hormonellem Ungleichgewicht in Zusammenhang gebracht. Erst im Jahre 2001 wurde mit der Gründung des Asexual Visibility and Education Network (AVEN) der Grundstein für eine asexuelle Bewegung gelegt, deren Hauptanliegen darin bestand, Asexualität von Pathologisierungen zu trennen und als legitime Orientierung zu etablieren.1

Breites Spektrum

In Sex Education ist Otis’ Leben von der Allgegenwärtigkeit von Sex geprägt. Jene Praktiken, Repräsentationen, Zwänge und Wiederholungen, denen er täglich begegnet, führen dazu, dass er Sex wie einen angeborenen menschlichen Trieb wahrnimmt. Wie zahlreiche andere Serienfiguren vor ihm, geht auch er automatisch davon aus, dass ein Desinteresse an Sex ein vorübergehendes Phänomen ist und durch die Unerfahrenheit der betroffenen Person erklärt werden kann.

In ihrer Hilflosigkeit sucht Florence indes eine Sexualtherapeutin auf. „Ich habe keinerlei Bezug zu Sex. Es ist so, als stünde ich vor einem großen Festmahl, mit allem, was ich mir wünschen könnte, aber ich bin einfach nicht hungrig. Ich glaube, ich bin defekt“, sagt sie, den Tränen nahe. Die Therapeutin lächelt kurz auf: „Sex repariert uns nicht. Wie könnte es also sein, dass Sie deswegen defekt sind? Wissen Sie, was Asexualität ist?“. Das Konzept war Florence bis dahin unbekannt. Als sie erklärt, dass sie jedoch Interesse daran habe, sich zu verlieben, präzisiert die Therapeutin, manche asexuellen Menschen seien an romantischen Beziehungen interessiert, andere wiederum nicht. Florence ist erleichtert. Es ist das erste Mal, dass sie eine Erklärung für ihr Empfinden hört, mit der sie sich gänzlich identifizieren kann.

Die Art und Weise, wie die Serien-Figur Florence sich hier beschreibt, spiegelt tatsächlich nur eine Ausprägung von Asexualität wider. Manche Menschen, die sich mit dem Label identifizieren, können unter bestimmten Umständen durchaus das Bedürfnis nach Sex haben. Statt in Form einer starren Kategorie, ist es sinnvoller, sich das Bedürfnis nach Sex als ein Spektrum vorzustellen, das von „gar nicht sexuell“ bis hin zu „sehr sexuell“ reicht. Die meisten Menschen verorten sich irgendwo dazwischen. Manche verwenden Begriffe wie „demi-sexuell“ oder „grey-sexuell“, um auszudrücken, wie schwach oder stark sie sexuelle Anziehung verspüren. Die Gruppe der Asexuellen ist also sehr heterogen: manche masturbieren, andere nicht; manche haben ab und zu Sex, andere nie; manche praktizieren BDSM, andere nicht; manche haben trotz einem Desinteresse an Sex das Bedürfnis nach intimem Körperkontakt, andere wiederum nicht.

Sexualität queeren

Asexualität wird oft nicht als queere Sexualität verstanden – zu Unrecht, kann sie doch dabei helfen, gesellschaftliche Vorstellungen dessen, was romantische Beziehungen sind und Erwachsenwerden bedeutet, zu queeren. Durch Asexualität werden nämlich sowohl hetero- als auch sexnormative Vorstellungen ins Wanken gebracht. Das gleiche gilt für das Ideal, sich innerhalb einer Beziehung sowohl romantisch wie auch sexuell zueinander hingezogen zu fühlen.

Davon abgesehen, dass die Unterscheidung zwischen romantischer und sexueller Orientierung es ermöglicht, der Fixierung auf Sexualität innerhalb von Beziehungen etwas entgegenzusetzen, trägt sie auch dazu bei, den übergeordneten Stellenwert romantischer Beziehungen in Frage zu stellen: Asexualität und Aromantik führen uns vor Augen, dass es auch ohne sexuelles und romantisches Interesse möglich ist, erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen zu haben.

Doch auch in puncto Geschlecht gibt Asexualität interessante Denkanstöße, da sie Annahmen einer Übereinstimmung zwischen Geschlechtsausdruck und sexuellem Begehren völlig aufbricht. Sex-positive Ansätze müssen also auch Asexualität mit einbeziehen, auch wenn dies auf den ersten Blick paradox wirkt. Ebenso ist ein Sprachgebrauch nur dann inklusiv, wenn er Sex nicht als Norm propagiert.

Auch wenn das Hauptanliegen von Fernseh- und Streaming-Serien meist nicht Aufklärung, sondern Unterhaltung und Sensationalisierung ist, so sind unsere Vorstellungen normaler und anormaler Sexualitäten doch wesentlich dadurch geprägt, was uns in diesen Produktionen wie präsentiert wird. Subjekte evaluieren die Angemessenheit und Normalität ihres Verhaltens vornehmlich anhand von Vergleichen mit anderen. Aus Mangel an diesbezüglichen Informationen im Bereich der Sexualität, wird sich nicht selten an medialen Darstellungen orientiert.

Sex Education setzt ein wichtiges Zeichen, wird doch selbst in Serien, denen es ein Anliegen ist, sämtliche Aspekte von Sexualität abzudecken, selten mitbedacht, dass es sich auch bei Asexualität um eine sexuelle Orientierung handelt, und dass auch Menschen, die sich dementsprechend identifizieren, Sichtbarkeit verdienen. In dieser Hinsicht liefert diese Darstellung einen wichtigen Beitrag zur Normalisierung und Depathologisierung dieser unterrepräsentierten Identität. Dennoch ist auch bei Sex Education noch viel Luft nach oben: Es kann gespannt darauf gewartet werden, ob und wie sich die Figur Florence in den kommenden Staffeln weiterentwickeln wird.

  1. Für weitere Informationen bezüglich Asexualität als sexueller Orientierung siehe auch Julia Maria Zimmermann, „Von Vögeln, Bienen und Amöben“, in: forum 374, Juni 2017, S. 54-57.

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