In einem exzellenten Beitrag im Luxemburger Wort (25. August) fasst Stefan Braum, Professor für Strafrecht an der Universität Luxemburg, die Krisen noch einmal zusammen, die Europa zerrütten und Recht und Demokratie in ernste Gefahr bringen: Da ist erst einmal die anti-demokratische Art und Weise, wie die europäischen Exekutiven die Finanz- und Eurokrise gelöst haben, und mit der jede Ansätze europäischer Solidarität erstickt wurden. Insbesondere bei der „Rettung“ Griechenlands sind elementarste demokratische und soziale Spielregeln verletzt worden. Da ist zum zweiten die Migrationskrise, die unsere Exekutiven dazu bringt, auf dem Altar der Staatsräson Grundrechte durch Sicherheitsregeln zu ersetzen, u.a. indem europäisches Asylrecht und internationales Meeresrecht zum Teil nicht mehr angewandt werden. Und da wäre die Schleifung unserer Rechtssysteme durch die ausufernde Terrorgesetzgebung: Polizeiliche und geheimdienstliche Ermittlungsbefugnisse verhindern oftmals faire Verfahren und richterliche Unabhängigkeit. Für Braum sind nicht die „Populisten“ am Ende verantwortlich für die Krise des europäischen Rechtsstaats, sondern die europäischen Exekutiven, d.h. unsere Regierungen, die sich nach und nach der lästigen Kontrolle der Parlamente und der Justiz entledigen.

Demgegenüber skizziert der französische Präsident Emmanuel Macron eine neue Architektur von Europa als gemeinsamen Sicherheits- und Solidarraum. Für Stefan Braum muss die bitter notwendige Ausweitung der europäischen Befugnisse mit einer Ausweitung der Volkssouveränität einhergehen, mithin mit einer europäischen Verfassung. Wie wir wissen, kommt dieser Wunsch 15 Jahre zu spät. Das europäische Verfassungsprojekt von 2005 ist gescheitert, weil die EU von vielen Menschen wohl mit Recht als Bedrohung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte und als demokratisch nur notdürftig kontrolliert und durchzogen von einem Geist der Intransparenz wahrgenommen wurde.

Emmanuel Macron umwirbt seit anderthalb Jahren die deutsche Bundeskanzlerin, um doch noch einen gemeinsamen deutsch-französischen Aufbruch zu stemmen. Frau Merkel, die für Visionen lange Zeit nicht viel übrig hatte, ist innenpolitisch jetzt so unter Druck, dass sie eine dezidiert europäische Politik kaum gegen den nationalen Mob durchsetzen kann. Deutschland und Frankreich – wenn sie sich denn finden – müssen zudem feststellen, dass sie in der EU nicht mehr über das nötige Gewicht verfügen, um den Ton anzugeben. Beim letzten Finanzministerrat stellten sich ein Dutzend europäische Regierungen gegen die gemeinsamen Vorschläge aus Paris und Berlin.

Dabei hätten die europäischen Regierungen (und Parlamente) allen Grund zusammen zu rücken. Die Handelspolitik von Donald Trump, seine Absage an die trans-atlantische Sicherheitspartnerschaft, das absehbare Chaos, das auf den Brexit folgt, und eine immer aggressivere Machtpolitik autoritärer Regime in Russland, der Türkei und China zeigen eigentlich, dass die Zeit des Abwartens und der Sonntagsreden vorbei sein müsste. Die neue Weltordnung, die vor unseren Augen entsteht, basiert nicht mehr auf den Menschenrechten, auf politischer Ausgewogenheit und Fairness, und auch nicht mehr auf multilateralen Institutionen. Sie basiert auf einem Prinzip, das die EU kennt – sie hat es in der Handels- und Fischereipolitik schon immer gegenüber ihren afrikanischen Partnerländern angewandt. Es ist das Recht des Stärkeren.

Vor diesem Hintergrund scheint sich allen die Sicherheitspolitik als verbindendes europäisches Projekt aufzudrängen. Für die baltischen Länder und für Ost- und Nordeuropa bedeutet eine gemeinsame Sicherheitspolitik effektive Verteidigungsgarantien gegenüber Russland, für Südeuropa geht es um einen effektiven Grenzschutz gegenüber Migranten und für Länder wie Frankreich und Belgien geht es darüber hinaus um die Zusammenarbeit der europäischen Geheimdienste. Joschka Fischer sieht hier die historische Chance für Europa, seine nach dem 2. Weltkrieg verlorengegangene Souveränität zurückzugewinnen, für andere handelt es sich um die Militarisierung des europäischen Projektes.

Doch Europa könnte sich auch mit friedlichen Mitteln stabilisieren. Es ist immer noch nicht zu spät für einen New Green Deal, der die Kapitalströme in klima- und umweltverträgliche Projekte lenkt. Gerade der europaweite Ausbau der erneuerbaren Energien könnte eine enorme Mobilisierungswirkung haben. Die Migrationspolitik muss über die Flüchtlingsproblematik hinaus neu verhandelt werden. Hier sind insbesondere die linken Parteien gefragt, ihre Positionen weiter zu entwickeln, damit die ganz Rechten nicht die Antworten vorgeben. Europa muss unbedingt seine immer noch überhebliche und völlig unzureichende Mittelmeer- und Afrikapolitik strategisch überdenken. Schließlich hängt die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der EU auch an einer Harmonisierung und Durchsetzung der Unternehmensbesteuerung. Die Steuerschlupflöcher nicht nur der US-amerikanischen Internetgiganten müssen schnellstens geschlossen werden, um eine Antwort auf das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden der europäischen Bürger zu finden. Es gibt keinen Grund, dass die Menschen eine Demokratie schützen und pflegen, von der sie sich im Stich gelassen fühlen.

Beim letzten Punkt kommt auch Luxemburg eine gewisse Bedeutung zu: Das Land lebt davon, dass sich die übergeordneten Interessen Europas in steuerpolitischen Fragen nicht durchsetzen. So wird eine europäische Finanztransaktionssteuer zur Aufstockung des EU-Budgets oder die Besteuerung grenzüberschreitender Internetgeschäfte u.a. von Luxemburg blockiert. Regierung, Parlament, Parteien und Wähler müssen sich bei uns die Frage stellen, ob die Interessen der internationalen (Finanz-)Unternehmen noch absolute Priorität haben können, wenn Europa am Abgrund steht.

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