Es war einmal Europa … (2)

Die anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament vermitteln eine Normalität, die nicht mehr gegeben ist

Seit anderthalb Jahren schaut die europäische Öffentlichkeit mit Verwundern, Unverständnis und steigendem Entsetzen auf die britische Innenpolitik, die ganz Europa in Geiselhaft nimmt. Medien und Politik überschlagen sich in Ausstiegsszenarien, Notfallplänen, Schadensberechnungen usw. Am Beispiel Großbritanniens wird vorexerziert, dass der Ausstieg aus einer Staatengemeinschaft, und sei sie noch so friedlich, die auf einem gemeinsamen Markt und offenen Grenzen beruht, praktisch nur noch durch einen Bruderkrieg durchzusetzen ist. Bei einer Scheidung liegen die Interessen und Erwartungen der ehemaligen Partner so weit auseinander, dass eine einigermaßen vernünftige Trennung kaum ohne ein internationales Schiedsgericht realistisch ist. Diesen dritten (legitimen) Akteur, dem sich die europäische Staatengemeinschaft untergeordnet hätte, hat es aber nicht gegeben.

Das Versagen liegt jedoch in erster Linie bei der ältesten Demokratie der Welt. Das Wahlgesetz, die Funktionsweise des Parlamentes und die Regierungsführung Großbritanniens haben sich als unfähig erwiesen, die Herausforderungen der Zeit zu meistern: Die heutige Situation ist das explosive Ergebnis aus wirtschaftlicher Globalisierung, Finanzmarktkapitalismus und hohem Reichtum in London einerseits und der Verarmung eines Teils der britischen Bevölkerung andererseits (sowohl in relativen als auch absoluten Zahlen), verbunden mit dem Niedergang des öffentlichen Bildungssystems, der skrupellosen, antieuropäischen Agenda der britischen Massenmedien, der Einflussnahmen aus dem Ausland (insbes. Russland) und den neuen Öffentlichkeitsmärkten der sozialen Medien. Nicht zu vergessen – einer politischen Führungsschicht, die an Eitelkeit und Rückständigkeit in Europa ihresgleichen sucht.

Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass wir bei allem Entsetzen über diese verfahrene Situation gerade den Blick für die Veränderungen auf dem Kontinent verlieren. Einige der mitteleuropäischen Staaten sind für eine liberale, rechtsstaat­liche und wertebasierte Europäische Union praktisch schon verloren gegangen. Große Teile ihrer Bevölkerungen sehen die EU zuvorderst als Subventionsmaschine und machen sie andererseits verantwortlich für alle Verwerfungen, die ihre Gesellschaften treffen. Mehr noch als die dynamischen Staaten in Westeuropa trifft sie der Bevölkerungsrückgang mit voller Wucht – und die atavistischen Ängste vor Einwanderung (und Flüchtlingen) sind vor diesem Hintergrund einzuordnen. Kleine Nationen wissen, dass sie verschwinden können, und aus luxemburgischer Perspektive sollte man diese Ängste zumindest zur Kenntnis nehmen.

Während wir vom sicheren Boden aus den stürmischen Ärmelkanal betrachten und in gepflegter Herablassung auf unsere mitteleuropäischen Partner schauen, hat sich über uns jedoch noch ein weiteres Gewitter aufgebaut, das auch uns hinwegfegen kann: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist innerhalb kürzester Zeit an einem historischen Tiefpunkt angelangt, der zu ernster Sorge Anlass geben sollte und über den kein Elysée- oder Aachen-Vertrag hinwegtäuschen kann.

Nachdem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel durch zuerst die Bundestagswahl, dann monatelange Koalitionsverhandlungen, Richtungs- und Personalstreit mit der CSU und weiteren Landtagswahlen fast zwei Jahre lang den französischen Präsidenten, der eine schnelle Reform der EU verlangte, hat warten lassen, ist sie jetzt nicht mehr präsent. An ihre Stelle tritt eine Frau aus dem Saarland, die die deutsche Politik schon heute perspektivisch vorgibt. Gemeinsam mit anderen Grenz- und Provinzpolitikern (z.B. in Luxemburg) hat die designierte Merkel-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer gemein, dass sie auf ihre „armen“ französischen Nachbarn mit einer wenig wohlmeinenden Herablassung schaut.

Die europäischen Ambitionen des französischen Präsidenten, die dieser in einem Brief an die europäischen Bürger (und nicht die Regierungen) dramatisierte, hat Frau Kramp-Karrenbauer als das erkannt, was sie aus deutscher Sicht sein müssen – als Zeichen nationaler Schwäche. Und während der französische Präsident seinen Aufruf zur Reform mit „Pour une Renaissance européenne“ überschrieb, setzte Frau Kramp-Karrenbauer dem ein „Europa jetzt richtig machen“ entgegen – wobei leider das „richtig“ hier als öffentliche Zurechtweisung interpretiert werden muss. Die Positionen, die sie vertritt, sind zwar die üblichen (pragmatisch gemeinten) Positionen der deutschen CDU, sie sind sicherlich auch in erster Linie für das heimische Publikum gedacht, aber die Worte sind hart und belehrend gewählt, und Frau Kramp-Karrenbauer geht soweit, dass sie Frankreich ohne Not provoziert, indem sie vorschlägt, den französischen Sitz im UN-Sicherheitsrat der EU zu übertragen und Straßburg als Europahauptstadt aufzugeben. Hier wird tatsächlich ein Konflikt neu „geframt“, den wir längst überwunden geglaubt hatten.

Anders als die voluntaristische französische Politik, die für ein starkes Europa als Antwort auf die geostrategischen Herausforderungen durch Russland, China und die USA plädiert, will auch die neue politische Generation in Deutschland offenbar keine Verantwortung für Europa übernehmen. Auch Frau Kramp-Karrenbauer scheint noch der Überzeugung zu sein, dass Deutschland als Mittelmacht (und föderale Demokratie) besser ohne den europäischen Ballast durch die Wirren der nächsten Jahre kommt.

Das wachsende Unverständnis zwischen Frankreich und Deutschland riskiert zum eigentlichen Problem (auch für Länder wie Luxemburg) zu werden und Europa als unabhängigen, weltpolitischen Akteur endgültig auszuschalten. Während wir Bürger noch ein Europäisches Parlament wählen, wird das Werk der Gründerväter und -mütter, das man als institutionalisiertes Vertrauen bezeichnen könnte, vor unseren Augen und zur Freude der Großmächte eingerissen.

Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit, dass Luxemburg – seine Wirtschaft und Regierung – ihr doppelbödiges Spiel aufgibt und dezidiert die Rettung Europas auf ihr Agenda setzt. Das Land, das lange Zeit als europäischer Vermittler galt, positioniert sich heute in erster Linie als politisches und ökonomisches Einfallstor für die Interessen der USA, Russlands und Chinas und nebenbei der GAFA und anderer Weltkonzerne. Angesichts der negativen Spirale, in der sich Europa befindet, wirkt diese Strategie heute völlig unangemessen und gegenläufig zu den langfristigen Interessen Europas und Luxemburgs.  Jürgen Stoldt

siehe auch: Jürgen Stoldt, Es war einmal Europa, forum Nr. 387, September 2018, S. 5,
https://www.forum.lu/article es-war-einmal-europa

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