Europa endlich wieder en marche ?

Wer hätte das gedacht. Plötzlich ist es wieder schick, die Europa-Fahne zu zeigen. Nach sieben bitteren Jahren fortgesetzter Krisen, die mit dem Brexit-Votum ihren Höhe- oder besser gesagt Tiefpunkt erreicht hatten, hat sich die Grundstimmung in Europa gewendet.1 Emmanuel Macron hat diesen Wandel gespürt und zugleich befördert und ist mit einem glänzenden Sieg belohnt worden. Jetzt steigen die Erwartungen, dass es wieder vorangeht mit Europa. Dabei ist keine der Krisen, die den Europäern so zugesetzt haben, nachhaltig gelöst. Die Finanzkrise kann wieder aufflammen, der Migrationsdruck in Richtung Europa hält an, der Brexit wird für alle eine Reise ins Ungewisse.

Trotzdem ist der Stimmungswandel da, und die Europäer dürfen dafür vor allem den Amerikanern danken. Die haben Donald Trump gewählt und seit Herbst letzten Jahres können wir live erleben, was Populismus im Großformat bedeutet. Die Entzauberung des Populismus hat begonnen. Der Irrwisch im Weißen Haus befördert auf dem europäischen Kontinent zudem überall das Gefühl, dass es an der Zeit ist, enger zusammenzurücken.

Nun warten wir noch die Wahlen in Deutschland ab, und dann kann es richtig losgehen, wenn der deutsch-französische Motor wieder anspringt und Europa ans Laufen bringt? Europa wieder en marche? In der Tat setzt Macron voll auf die deutsche Karte. Damit verfolgt er eine gänzlich andere Strategie als sein Vorgänger Hollande. Der hatte zu Beginn seiner Amtszeit auf eine Allianz der südlichen EU-Mitgliedstaaten gesetzt und war damit gescheitert. Macron dagegen verfolgt gegenüber Berlin eine Umarmungsstrategie.

Die großen Worte sind schon gesprochen. Europa müsse wiederaufgebaut werden, heißt es bei Macron. Europa muss sein Schicksal jetzt in die eigene Hand nehmen, sagt Angela Merkel. Wir sollten uns nicht weniger vornehmen, als Europa neu zu gründen, sagt Martin Schulz. Und Jean-Claude Juncker erkennt in Europa wieder „Zukunftslust“.

Aber was ist außer solchem Pathos konkret im politischen Angebot? Was schlägt der neue Präsident Frankreichs vor? Was wird in Berlin darauf geantwortet? Und was kommt von der vermeintlichen Speerspitze der Integration, der EU-Kommission?

Eine europäische Agenda aus Paris

Wer nach der europäischen Agenda von Macron fragt, der findet seine Vorschläge in Kurzform auf den Seiten 15 und 20/21 seines Wahlprogramms unter dem Motto „Une Europe protectrice et à la hauteur de nos espérances“.  Es sind zehn Vorschläge zur Sache und ein Verfahrensvorschlag.2

Schaut man sich die Vorschläge im Einzelnen an, so stellt man fest, dass es sich um eine bunte Mischung handelt. Einiges ist sehr präzise und konkret, anderes erschöpft sich im Grundsätzlichen oder in Stichworten. Einiges ist mit ein bisschen gutem Willen leicht machbar oder sogar schon fast unter Dach und Fach. Anderes erfüllt offenbar vor allem den Zweck, Diskussionen anzustoßen und damit die Akzente in der europäischen Debatte zu verschieben. Wirklich Revolutionäres ist nicht dabei. Zentrale Punkte hängen vor allem von der Bereitschaft ab, mehr Geld auf den Tisch zu legen. An erster Stelle steht auf Macrons Liste die Forderung nach einem Haushalt für die Eurozone, der von einem Parlament der Eurozone verabschiedet und von einem Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone ausgeführt wird, „um viel mehr investieren zu können als bisher“. Auch wenn Macron nicht sagt, um Beträge in welcher Höhe es gehen und wo das Geld herkommen soll, dürften sich an dieser Forderung in Berlin die Geister scheiden.

Neue deutsche Großzügigkeit

„Wir sollten mehr für Europa zahlen“, hat Bundesaußenminister Sigmar Gabriel von der SPD bereits am 22. März vor dem Sieg Macrons in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben. Deutschland sei kein Nettozahler, sondern ein Nettogewinner-Land. Jeder Euro, der dem EU-Haushalt von Deutschland zur Verfügung gestellt werde, komme direkt oder indirekt mehrfach zurück. Ob die Sozialdemokraten sich mit einem solchen Programm neuer deutscher Großzügigkeit in Berlin durchsetzen können, ist allerdings längst noch nicht ausgemacht.

Egal was aus Macrons Vorschlag für einen Haushalt der Eurozone am Ende wird, Streit ums Geld ist vorprogrammiert und dürfte in den kommenden Jahren alle anderen europäischen Debatten überlagern. Wie hoch soll die Rechnung ausfallen, die den Briten für den Brexit präsentiert wird? In welcher Höhe und wie lange wird London als Nettozahler noch zum Haushalt der EU beitragen? Und wie soll der nächste mehrjährige Finanzrahmen der EU aussehen, wenn der gegenwärtige siebenjährige Planungsrahmen im Jahr 2020 ausgelaufen ist?

Das EU-Haushaltsverfahren hat sich über die Jahre zu einem technokratischen Monster entwickelt, das als negatives Musterbeispiel für Brüsseler Intransparenz und Komplexität gilt. Selbst Insider haben Schwierigkeiten, die Einzelheiten zu verstehen. So ist zum Beispiel die Berechnung der auf die Mehrwertsteuer gestützten Anteile an den Zahlungen aus den nationalen Haushalten nach Brüssel eine Art Geheimwissenschaft. Viele Auswüchse sind ursprünglich britischen Sonderwünschen geschuldet, insbesondere die unseligen Rabatte, die in den 1980er Jahren Magret Thatcher („I want my money back“) herausgeschlagen hat und die dann nach und nach von immer mehr Mitgliedstaaten reklamiert wurden.

Mit dem Brexit besteht die einmalige Chance, die Finanzen der EU neu zu ordnen und insbesondere die Einnahmenseite klarer und einfacher zu gestalten. Allerdings liefen Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs zum EU-Haushalt bisher immer nach dem Motto „Alles hängt mit allem zusammen“ ab. Die nationalen Delegationen rücken dazu mit eigens erstellten Computerprogrammen an, um die Auswirkungen der wechselseitig erhobenen Forderungen ausrechnen zu können. Das macht tiefgreifende Reformen fast unmöglich, denn Verhandlungen werden dann eine Rechnung mit zu vielen Unbekannten.

Eine solche Reform wird nur möglich sein, wenn es gelingt, die drei Grundfragen „Wieviel wollen wir insgesamt ausgeben?“, „Aus welchen Quellen soll das Geld kommen?“ und „Wofür wollen wir das Geld ausgeben?“ voneinander zu trennen und nacheinander abzuarbeiten, wobei das Prinzip „Nichts ist entschieden, bevor alles entschieden ist“ gewahrt bleiben kann.

Sonderhaushalt statt grundlegender Reform

Wenn jetzt noch ein Sonderhaushalt für die Euro-Zone dazukommen soll, wird am Ende womöglich die Kraft für eine grundlegende Reform des EU-Haushalts fehlen. Bislang traut sich anscheinend noch niemand zu fragen, ob ein solcher Sonderhaushalt noch nötig ist, wenn die Briten ausscheiden. Denn er war ja auch und vor allem dafür gedacht, Widerstand aus London von vorneherein zu umgehen, wo bei Finanzverhandlungen aller Ehrgeiz daran gesetzt wurde, den finanziellen Spielraum Brüssels so weit wie möglich einzuschränken. Nachdem diese Notwendigkeit absehbar wegfällt, bleibt nicht viel übrig, um einen solchen separaten Haushalt noch zu rechtfertigen.

Was bei den Verhandlungen über den künftigen Haushalt der EU herauskommt, dürfte für das Schicksal einer Reihe weiterer Ankündigungen Macrons entscheidend sein. So zum Beispiel für sein Vorhaben, das Austauschprogramm Erasmus+ massiv auszubauen. Jeder vierte Student oder Auszubildende soll künftig mindestens ein halbes Jahr ins europäische Ausland gehen. Oder seine Forderung nach einem europäischen Fonds für Risikokapital, der mit mindestens fünf Milliarden Euro ausgestattet werden soll.

Geld für das Europa der Verteidigung

Geld steht auch beim „Europa der Verteidigung“ im Vordergrund, das Macron vorschwebt. Für die EU-Länder, die dabei mitmachen wollen, soll es einen europäischen Verteidigungsfonds geben, der gemeinsame militärische Ausrüstung finanzieren soll. Als Beispiel werden hier „europäische Drohnen“ angeführt. Dass es einen EU-Verteidigungsfonds geben soll, ist bereits seit Ende vergangenen Jahres auf EU-Ebene grundsätzlich eine beschlossene Sache. Allerdings ist er für die Zusammenarbeit in der Rüstungsforschung und -entwicklung reserviert, während bei Macron offenbar die Idee mitschwingt, auch die Anschaffung von Ausrüstung zu finanzieren. Konkrete finanzielle Festlegungen wie beim vorgeschlagenen Fonds für Risikokapital gibt es hier aber nicht.

Auch das von Macron vorgeschlagene ständige Europäische Hauptquartier ist bereits im Aufbau begriffen, allerdings unter dem etwas unverfänglicher klingenden Titel „Militärischer Planungs- und Durchführungsstab“.

Weil er lediglich Projekte aufgreift und weiterentwickelt, deren Umsetzung bereits begonnen hat, bleibt der Eindruck, dass Macron den wirklich entscheidenden Fragen ausweicht. Die drehen sich um Frankreichs Status als künftig einziger Atommacht in der EU. Wenn der Schutzschirm der Amerikaner Löcher bekommt oder sogar völlig eingeklappt wird, könnten Frankreichs Atomwaffen in der Logik der atomaren Abschreckung zur Lebensversicherung für die Europäer werden.

Vergeblich sucht man auch einen Vorschlag für eine gemeinsame europäische Cyberverteidigung. Dabei ist dies offensichtlich das Feld, auf dem in Zukunft die größten Gefahren für die Sicherheit und Funktionsfähigkeit offener Gesellschaften drohen.

Europäischer Protektionismus als Alternative

Ein Schwerpunkt des Programms von Macron liegt auf einer Art europäischem Protektionismus. Der ist offensichtlich als intelligentere Alternative zu nationalistisch inspirierten Forderungen gedacht, mit denen seine Konkurrenten von rechts und links angetreten sind.

Verlangt wird von Macron unter anderem ein Mechanismus zur Kontrolle ausländischer Investitionen in Europa, um strategische Sektoren zu schützen. Außerdem in seinem Forderungskatalog: ein „Buy European Act“, mit dem der Zugang zu öffentlichen Aufträgen denjenigen Unternehmen vorbehalten bleiben soll, die mindestens die Hälfte ihrer Produktion in Europa angesiedelt haben.

Wie Le Monde in einem Artikel vom 12. März 2012 berichtete, wurde dieser Vorschlag seit den 1990er Jahren aus Frankreich immer mal wieder aufs Tapet gebracht und war zum Beispiel Bestandteil der drei Ultimaten an Brüssel, mit denen Nicolas Sarkozy im Jahre 2012 um seine Wiederwahl als Präsident kämpfte. Die Forderung ist in Berlin und bei der EU-Kommission in der Vergangenheit immer auf Skepsis gestoßen, und unlängst hat der finnische Kommissionsvize Jyrki Katainen erneut davor gewarnt. Allerdings dürfte damit das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, denn die Rahmenbedingungen haben sich verändert, seit die Briten beschlossen haben, die EU zu verlassen, und seit Donald Trump im Weißen Haus sitzt.

Die weiteren Forderungen hier nur in Kurzform:  Schaffung eines Binnenmarkts für Energie, Mindestpreis für CO2-Zertifikate, Ablehnung von Steuerarrangements zwischen EU-Mitgliedstaaten und multinationalen Konzernen, Aufstockung der Grenz- und Küstenschutzagentur Frontex auf 5000 Grenzschützer.3

Auffallend ist, dass unter den Kernforderungen in Macrons Europa-Programm das Thema Soziales nicht auftaucht. Dieses Manko hat er anscheinend bei seinem Antrittsbesuch bei Jean-Claude Juncker am 25. Mai in Brüssel auszugleichen versucht. Es sei zuerst und vor allem um das soziale Europa gegangen, erkläre Juncker nach dem Gespräch („la première fois qu’un chef d’Etat ou de gouvernement me rend visite qui parle d’abord du social“). Konkret drehte es sich offenbar um die Entsenderichtlinie, die in ihrer gegenwärtigen Form als Einladung zum Sozialdumping wirkt.

Nun kann Juncker aus der politischen Deckung

Bei seiner Begegnung mit Macron hat Juncker nach eigenem Bekunden Vergnügen, Glück und Freude empfunden. Er hat nun endlich einen Komplizen gefunden, mit dem er die Integrationsagenda der Kommission vorantreiben kann und will. Man darf also erwarten, dass Juncker demnächst aus der politischen Deckung (oder sollte man sagen Depression?) kommen wird, in die er sich schon in den Monaten vor dem Brexit-Referendum begeben hatte.

Offizielle Gelegenheit dafür ist Mitte September, wenn Juncker im Europäischen Parlament seine jährliche Rede zur Lage der Europäischen Union halten wird.

Dann will Juncker die Ideen weiterentwickeln, die die Kommission im Weißbuch zur Zukunft Europas im März ausgebreitet hat. In diesem Weißbuch hat die Kommission Festlegungen vermieden und versucht, eine Diskussion anzustoßen, indem fünf Szenarien beschrieben werden („Weiter so wie bisher“, „Schwerpunkt Binnenmarkt“, „Wer mehr will, tut mehr“, „Weniger, aber effizienter“, „Viel mehr gemeinsames Handeln“). Jedes einzelne soll einen Ausblick bieten, wo die Union im Jahr 2025 stehen könnte – je nachdem, welchen Kurs Europa einschlägt. Laut Pressemitteilung der Kommission decken die Szenarien „verschiedene Möglichkeiten ab und dienen der Veranschaulichung. Sie schließen sich daher weder gegenseitig aus, noch sind sie erschöpfend.“

Bei der Lektüre drängt sich das Gefühl auf, dass das alles ein bisschen konstruiert und wenig inspirierend ist. Der Text liest sich, als ob er von einer mittelmäßigen PR-Agentur verfasst worden wäre – alles andere als ein großer Wurf. Zusätzlich gibt es Diskussionspapiere, zum Beispiel zur Zukunft der europäischen Verteidigung oder zur Zukunft der EU-Finanzen. Die sind inhaltlich anspruchsvoller, aber in den jeweiligen Schlussfolgerungen ebenfalls sehr vorsichtig formuliert.

Das ist wohl gewollt, um den Eindruck zu erwecken, dass ein offener Diskussionsprozess durchlaufen wurde, bevor Juncker dann im September vor das Europäische Parlament tritt und die Richtung vorgibt, die er für richtig hält.

Die Kommission hofft, dass dann auf dem Treffen des Europäischen Rates der Staats- und Regierungs-chefs im Dezember 2017 erste Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Dies werde dazu beitragen, so die Kommission, frühzeitig vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2019 das weitere Vorgehen festzulegen.

Macron ruft nach einem kurz gefassten Fahrplan, der von den europäischen Regierungen aufgestellt wird, „avec quelques défis communs et des actions précises, traçant les priorités d’action de l’Union et leur calendrier de mise en oeuvre pour les cinq ans à venir.“

Keine große demokratische Transformation Europas

Nach einer großen demokratischen Transformation Europas, wie sie von der Bewegung „Democracy in Europe Movement 2025“ (DiEM25) gefordert wird, klingt dies nicht. DiEM25 wurde Anfang 2016 ins Leben gerufen, unter maßgeblicher Beteiligung des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis. DiEM25 verlangt die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung für Europa, die bis zum Jahr 2025 eine europäische Verfassung ausarbeiten und beschließen soll. Bei aller Sympathie, die man für einen solchen großen Wurf hegen mag, bewegt sich der Vorschlag von DiEM25 in einem Zeithorizont, der unrealistisch lang erscheint. Außerdem soll die Arbeit an der künftigen Verfassung an gewählte Vertreter delegiert werden, Elemente direkter Demokratie oder gar eine europäische Volksabstimmung sind in dem DiEM25 Manifest für die Demokratisierung Europas nicht vorgesehen.

Präferendum statt Referendum

Nun mag man einwenden, dass man gerade nach der Brexit-Erfahrung besser die Finger von Volksabstimmungen lassen sollte. Im Online-Zeitalter ist allerdings genauso fragwürdig, sich nur auf die traditionellen Verfahren der repräsentativen Demokratie zu verlassen.

Ohne mehr direkte Konsultation und Beteiligung wird sich das Vertrauen in die EU nicht dauerhaft konsolidieren lassen. Vielleicht kommt es ja darauf an, die direkte Konsultation einfach intelligenter zu organisieren, wie dies zum Beispiel Professor Klaus Gretschmann vorschlägt.4 Gretschmann schlägt statt des Referendums das sogenannte „Präferendum“ vor. Es geht ihm dabei nicht um direkte Abstimmungen in der Wahlkabine, wo die Bürger nur die Wahl haben, einen Vorschlag entweder anzunehmen oder abzulehnen, und wo sie oft vor dem Dilemma stehen, dass das, was sie wirklich wollen, nicht zur Abstimmung steht. Intention ist es vielmehr, die Bürger, insbesondere über online-Befragungen, zu hören und in den Diskussionsprozess einzubeziehen, bevor endgültige Entscheidungen fallen.

Präferenda eignen sich insbesondere dann als Partizipationsinstrument, wenn es nicht um Entweder-oder-Entscheidungen geht, sondern darum, Prioritäten festzulegen, wobei die Vorschläge, die weniger Zustimmung erhalten, nicht automatisch völlig unter den Tisch fallen, sondern vielleicht einfach nur mit weniger Nachdruck verfolgt werden. Ein Präferendum wäre daher genau das richtige Instrument für die Situation, in der sich die EU befindet. Kaum ein Politiker oder Experte, der nicht empfehlen würde, die EU solle sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren. Doch was sind in den Augen der EU-Bürger die wirklich wichtigen Dinge?

Einmal angenommen, der Europäische Rat einigt sich im Einvernehmen mit dem Europäischen Parlament auf eine Liste von zehn möglichen neuen Initiativen. Warum sollte diese Liste den Bürgern nicht anlässlich der Europawahl im Juni 2019 online und/oder im Wahllokal zur Bewertung vorgelegt werden, damit sie zum Ausdruck bringen können, was ihnen besonders wichtig ist? Jeder hätte dann drei Punkte, die er verteilen oder auch alle auf eine der zehn vorgeschlagenen Initiativen konzentrieren könnte. Natürlich müsste für die Euroskeptiker auch die Option „Keine neuen Initiativen“ zur Verfügung stehen.

Auf diese Weise entstünde ein breites, EU-weites demo-kratisches Stimmungsbild, das den Europapolitikern eine Vorgabe dafür machen würde, worauf sie ihre Anstrengungen zu konzentrieren hätten. Nebenbei würde ein solches Präferendum den Bürgern auch näher bringen, um welche sachlichen Weichenstellungen es geht. Ein Präferendum hätte also auch einen wirksamen demokratiepädagogischen Effekt.

Für transeuropäische Wahllisten 2019

Eine weitere Chance für mehr europäische Demokratie tut sich auf, weil bei den Europawahlen in knapp zwei Jahren die 73 Sitze im Europäischen
Parlament neu zu verteilen sein werden, die bislang von den Abgeordneten aus dem Vereinigten Königreich besetzt sind.

Dies wäre die Gelegenheit, das lang gehegte Projekt transeuropäischer Wahllisten umzusetzen.5

Bislang hat jeder der 28 Mitgliedstaaten ein eigenes festes Kontingent an Sitzen. Die Kandidaten werden von nationalen Parteien aufgestellt und auch der Wahlkampf wird oft eher von nationalen als von europäischen Themen bestimmt und vorrangig als nationaler Stimmungstest verstanden.

Der Reformvorschlag besteht nun darin, diese nationalen Teilwahlen um einen gesamteuropäischen Wahlkreis zu ergänzen. Jeder Bürger hätte bei der Europawahl dann zwei Stimmen: Die erste ginge wie bisher an die Liste einer nationalen Partei für die Besetzung des nationalen Sitzkontingents. Die zweite würde an eine der von den europäischen Parteien aufgestellten transeuropäischen Listen gehen. Die Kandidaten auf diesen Listen wären überall in der EU wählbar und es liegt nahe, dass auf diesen Listen auch die Spitzenkandidaten der europäischen Parteien für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission zu finden sein sollten.

Das Projekt transeuropäischer Listen wird im Europäischen Parlament seit langem diskutiert, allerdings war es in der Vergangenheit so umstritten, dass es nur in sehr vagen Formulierungen in den Katalog der Reformvorschläge aufgenommen wurde, den das Parlament im November 2015 mit Blick auf die Verfahren für die nächsten Europawahlen beschlossen hat.

Die Blockade entstand wohl vor allem dadurch, dass aus damaliger Perspektive die nationalen Kontingente hätten reduziert werden müssen, um im Rahmen der vom EU-Vertrag vorgegebenen Obergrenze von 751 Abgeordneten die nötigen Sitze für einen gesamteuropäischen Wahlkreis bereitzustellen.

Dank Brexit verschwindet diese Hürde nun. Und Emmanuel Macron hat die Idee europäischer Listen in seinem Wahlprogramm stehen. Wer wissen will, wie ernst es der neue französische Präsident mit Europas demokratischer Erneuerung tatsächlich meint, sollte daher das Schicksal dieses Vorschlages genau beobachten.

1 Post Brexit, Europeans More Favourable Towards EU, Pew Research Center 2017.

2 Das Programm kann von der Website von „En Marche !“ heruntergeladen werden. Dort finden sich auch Erläuterungen dazu und weitere Vorschläge, https://en-marche.fr/ emmanuel-macron/ le-programme/europe.

3 Bisher sind maximal 1 500 vorgesehen.

4 In dem Sammelband Europa in der Krise – Vom Traum zum Feindbild?, Marburg 2017.

5 Für einen guten Überblick siehe den Blog Der (europäische) Föderalist von Manuel Müller, http://www.foederalist. eu/2017/04/transnationale- listen-europawahl-brexit.html

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