Die gegenwärtige Flüchtlingskrise kommt nicht wirklich überraschend. Auf dem Territorium des vormaligen Iraks bestehen seit mehr als zehn Jahren keine staatlichen Strukturen mehr, die die Menschen vor Gewalt und Willkür beschützen könnten. Auch Syrien (mit dem Irak, Jordanien, Libanon und Palästina ein weiteres Kunstprodukt der europäischen Diplomatie nach dem ersten Weltkrieg) hat aufgehört zu existieren. Ein Teil seiner geflohenen Bevölkerung, der seit drei Jahren in gigantischen Lagern an der türkisch-syrischen Grenze ausharrt (etwa 1,5 bis 2 Millionen Menschen), macht sich jetzt in einer großen Wanderbewegung auf, um eine neue Heimat im Westen zu finden. Schätzungsweise 1,5 Millionen Syrer haben vorläufig im Libanon Aufnahme gefunden, ein Land, das auf Dauer keine Zuflucht bieten kann. Hunderttausende warten in Jordanien und verbringen ihre Tage damit, sich eine Zukunft für ihre Kinder vorzustellen.
In Afghanistan ziehen die westlichen Truppen ab, zurück bleiben Hunderttausende, die unter der Herrschaft der Taliban keine menschenwürdige Perspektive sehen. Am Horn von Afrika sind Staaten gescheitert und Sicherheit für die Bevölkerung nur noch eine Ausnahmeerscheinung: Somalia, Eritrea, Süd-Sudan und Jemen sind Länder, die ihren Bür- gern kein (Über-)Leben sichern. Vom Südrand der Sahara machen sich viele mutige Menschen auf, um an den Rand des Mittelmeeres zu gelangen und von dort mit Booten weiter an die Küsten Europas gebracht zu werden.
Während die absoluten Zahlen der verschiedenen Flüchtlingsbewegungen biblische Ausmaße annehmen und die EU und ihre Mitgliedstaaten über die Verstärkung bzw. Neuaufrichtung ihrer Grenzen debattieren, öffnen sich entlang der Transitrouten nach Europa neue, barbarische Geschäftsmodelle. Wie in Mexiko warten hier Wegelagerer, Erpresser und Menschenhändler auf ihre Opfer. Doch je mehr Menschen sich auf den Weg machen, desto größer sind die Chancen für den Einzelnen, im Schwarm nicht aufzufallen — und ans Ziel zu kommen. Die ganz rationale Risiko- und Kostenabschätzung fällt zunehmend positiv aus für den Einzelnen, der über ein bisschen Kapital (und Bildung) verfügt, gesund ist und nichts zu verlieren hat. Die Bewegung nimmt mehr und mehr Fahrt auf, jetzt wo es klar geworden ist, dass Europa nicht vorbereitet ist und über keine Antwort verfügt.
Im Unterschied zu Erdbeben oder Tsunamis sind große Wanderungsbewegungen keine überraschen- den Naturereignisse. Kann man sie aufhalten, ihnen entgegenwirken? Wahrscheinlich nicht, aber musste man deswegen wirklich so viel falsch machen? Die zaghafte europäische Mittelmeerpolitik der Neunzigerjahre wurde fallengelassen, die Glaubwürdigkeit der EU in jeder Krise weiter verspielt, schließlich wurden die Länder am Südrand des Mittelmeeres sich selbst überlassen. Währenddessen warnten Wirtschafts- und Naturwissenschaftler unablässig vor den Folgen der Klimaveränderungen, die auch westliche Länder über die zu erwartenden Migrationsströme treffen würden. Und politische Beobachter und NGOs weisen seit Jahrzehnten auf die verheerenden Folgen der skrupellosen europäischen (und US-amerikanischen) Landwirtschaftspolitik hin, die Marktöffnung erzwingt und die Lebensgrundlagen der Bauern in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Nahen Osten zerstört.
Den erpressten „Frei“-Handelsabkommen muss man die weinerlichen Aussagen des EU-Kommissionspräsidenten entgegenstellen, wenn er darauf hinweist, dass die EU-Kommission doch für die geregelte Aufnahme und Verteilung von 60 000 Menschen kämpft. Man möchte ihn fragen, ob er in der Eile nicht irgendwo eine Null vergessen hat. Die Anstrengungen der Kommission und die Aufforde- rungen ihres Präsidenten jetzt „kollektive Courage“ angesichts der Flüchtlingstragödie zu zeigen, müssen als das bezeichnet werden, was sie sind: eine reine Augenwischerei, insbesondere wenn gleichzeitig auf den Druck der europäischen (Milch-) Bauern reagiert wird und deren Exporte weiter subventioniert werden.
Glücklicherweise ist zumindest die luxemburgische Regierung gut gerüstet. Sie ist bereit, wie mit der EU-Kommission ausgehandelt, innerhalb von zwei Jahren ganze 350 der oben erwähnten 60 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Die Strukturen stünden bereit, so der Staatsminister im Interview (LW, 27.8.). Doch schon in den letzten Jahren kamen auf eigene Initiative rund Tausend Flüchtlinge pro Jahr nach Luxemburg — ohne Rücksicht auf die Zuteilung europäischer Quoten.
Vielleicht lebt Xavier Bettel tatsächlich in der ehrlichen Hoffnung, dass Luxemburg als Zielland weitgehend unter dem Radar bleibt, der Informationsfluss nicht funktionieren möge und Facebook unter Flüchtlingen keine Verbreitung hat. Denn die Zahl 350 bedeutet etwa soviel, als ob Frau Merkel ihre Bevölkerung mit dem Hinweis beruhigen möchte, der deutsche Staat und seine Kommunen hätten sich bestens auf die Ankunft von 12 500 Flüchtlingen vorbereitet (die die EU-Kommission in ihren Plänen Deutschland zuschlägt), während der Innenminister für das laufende Jahr schon die Zahl von 800 000 vorhersagt.
Zumindest geistig bereitet sich unser Land aber auf den Ernstfall vor. In der Sommerdiskussion um organisiertes (aber wohl kaum kriminelles) Betteln diskutierte die Öffentlichkeit in den Foren von RTL darüber, wo hier im Lande die Grenzen für Offenheit, Flexibilität und Empathie zu ziehen sind.
Auf dem Spiel steht aber nicht nur das ungestörte Einkaufsfeeling in unserer City, sondern möglicherweise etwas mehr. Die Aufnahme von Hundert- tausenden von Kriegs- und Armutsflüchtlingen in Europa mag eine Chance für das demographische Gleichgewicht unseres alternden Kontinents sein, sie ist aber auch eine Herausforderung für den Bestand der ökonomisch und ideologisch unter Druck geratenen Sozialsysteme. Daneben bedeutet der Flüchtlingsstrom eine Herausforderung für unser Rechts- system, das Würde, Sicherheit und Unversehrtheit aller Menschen auf europäischem Boden garantieren soll und legale Einwanderungsmöglichkeiten prak- tisch unterbindet. Auf den griechischen Inseln, in Italien, in Calais und unter den Seine-Brücken, an der ungarischen Grenze und in der Slowakei, in Heidenau und eben auch in Luxemburg wird die Neuausrich- tung nicht nur der Asylpolitik verhandelt, sondern die unseres gesamten Gesellschaftsvertrags.
PS: Exodus ist nicht nur ein Kapitel der Bibel (2. Buch Mose), sondern auch der Titel eines sehr lesenswerten, aktuellen Buches aus der Feder des britischen Wirtschaftswissenschaftlers Paul Collier zur Ökonomie der Migrationsbewegungen.
Jürgen Stoldt
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