Fahrradland Luxemburg?

In den 1950er und 60er Jahren gehörte das Fahrrad noch in unser Straßenbild. An den Toren der Stahlwerke im Luxemburger Süden bildeten sich bei Schichtende regelrechte Fahrradstaus, und in der Hauptstadt zeigten sich Beamte, Bürger, Schüler und Pensionäre noch gerne auf ihrem Stahlross. Doch der Aufschwung des motorisierten Verkehrs nach dem Zweiten Weltkrieg hatte einen Teufelskreis in Gang gesetzt: Je weniger Fahrrad im Alltag gefahren wurde, desto größer wurde das Risiko, sich als Fahrradfahrer inmitten der Autos zu bewegen.

Unaufhaltsam wurden die städtischen Infrastrukturen dem Autoverkehr angepasst. Statusdenken gab dem Fahrrad dann am Ende den Rest. Das Fahrrad, obwohl das effizienteste, kostengünstigste und schnellste innerstädtische Verkehrsmittel, verschwand innerhalb weniger Jahre aus unserem Leben. Nur als Sport behielt es seine (von Doping überschattete) Bedeutung.

Doch all das ist schon wieder vergessen, niemand würde heute noch ernsthaft das Paradigma von der autogerechten Stadt vertreten. Stattdessen versuchen Stadtplaner rund um den Erdball die Stadt für den sanften und langsamen Verkehr zurückzugewinnen und dem besten Transportmittel, das jemals erfunden wurde, wieder Raum zu verschaffen. Wobei… in einem kleinen Land, irgendwo an der Grenze zu Frankreich, regt sich noch Widerstand. Um ihre unbeugsamen Autofahrer nicht zu verschrecken, arbeiten sich Stadt und Land in Luxemburg nur im Schneckentempo ins 21. Jahrhundert vor und auch nur dort, wo zwar mit viel Geld aber ohne Konflikte Resultate zu erreichen sind: in Form von hängenden Fahrradwegen, 70 Meter hohen, freistehenden Aufzügen, speziell fürs Fahrrad errichtete Brücken über die Täler, zusätzliche Fahrradwege entlang der Festungsmauern…
Das Fahrrad hebt in Luxemburg ab, nur um nicht zu stören! Obwohl es klar ist, dass in absehbarer Zeit die Innenstadt von Luxemburg komplett autofrei sein muss, wird zur einstweiligen Beruhigung der Wähler das Parkhaus auf dem Knuedler von 438 auf 751 Stellplätze erweitert. Die Dogmen des Modernismus scheinen in Luxemburg einfach länger zu halten als anderswo.

Die Hindernisse, um dem Fahrradverkehr wieder Raum und Bedeutung zu verschaffen, finden sich schon in den Gesetzen: Sie sind immer noch in erster Linie dem Freizeit- und nicht dem Alltagsverkehr gewidmet. Im Fokus stehen „Routen“, die über Land gehen und für Freizeit- oder Sportaktivitäten attraktive Strecken festlegen.

Detailliert und rigide beschreibt die entsprechende Gesetzgebung die einzelnen Strecken, wobei jedoch viele der 1999 beschlossenen Routen bis heute nicht realisiert sind. Zurzeit bestehen zwei Drittel, d.h. rund 600 km Strecke von ursprünglich vorgesehenen 900 km. Ein neues Gesetz sieht jetzt ein Netz von rund 1400 km vor und eine Erhöhung der Routen von 23 auf 38.

Sinnvolle Fuß- und Radwegekonzepte im öffentlichen Raum haben es in Luxemburg trotz Teilerfolgen hingegen immer noch schwer. Der Grund dafür ist selten das Fehlen der finanziellen Mittel. Stattdessen sind die Entscheidungsträger häufig desinteressiert (sie fahren meist nicht Rad bzw. gehen nicht zu Fuß). Die Konkurrenzsituation um vorhandenen Parkraum wird härter, und je erfolgreicher das Fahrrad in Zukunft sein wird, desto härter verspricht diese Auseinandersetzung um wertvollen Parkraum zu werden. Umwege und Steigungen werden für Radfahrer bzw. Fußgänger immer noch wie selbstverständlich in Kauf genommen, obwohl gerade hier der direkte Weg den Unterschied macht. Die eigentlich gesetzlich verankerte Gemeinnützigkeit («utilité publique») wird nicht bemüht, wenn eine auch nur knappe Inanspruchnahme von privatem Gelände für eine sinnvolle Routenführung notwendig wäre. Und schließlich: In neu geschaffenen Wohnsiedlungen werden die Langsamverkehrskonzepte in den meisten Fällen erst nach der Planung der Straßen entwickelt.

So stellt sich die Situation in Luxemburg etwas paradox dar. Trotz oder gerade wegen der vorhandenen Geldmittel hinkt das Land in diesem Bereich immer noch zwei Jahrzehnte der europäischen Entwicklung hinterher. Und doch, trotz aller Kritik, bewegt sich etwas: Das Fahrrad gewinnt wieder an Fahrt, die öffentliche Meinung kippt langsam auch in Luxemburg gegen das Auto. Das Zusammenspiel der neuerrichteten Infrastrukturen zeigt in der Hauptstadt erste Resultate, obwohl das eigentliche Radwegenetz immer noch nicht ausgereift ist. Das Wirtschaftsministerium hat das Fahrrad seinerseits als Wirtschaftsfaktor entdeckt und nutzt die Dynamik der diesjährigen Tour de France, um eine Förderstrategie für den Radtourismus zu entwickeln. Wir sind auf gutem Wege!

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Unser Dossier will diese positive Entwicklung zum Thema machen. Wir beginnen mit einem Beitrag von Frank Wilhelm zur nationalen Bedeutung des Fahrradsports in Luxemburg. Eine ganze Reihe Rennsportler haben es sogar geschafft, in den Rang einer nationalen Ikone aufzusteigen: Von Faber, Frantz über Gaul bis hin zu Schleck reichen die Namen. Majerus und Jungels könnten die nächsten auf der Liste sein.

Guillaume Rischard analysiert in seinem Text die Situation der „commuter“. Als überzeugter Radfahrer räumt er alle klassischen Argumente gegen das Fahrrad als tägliches Transportmittel aus dem Weg, fordert aber auch einen konsequenten Ausbau der Infrastruktur.

Dass sich das Fahrrad langsam zu einem Trendobjekt verwandelt, zeigt das Interview mit dem Jungunternehmer Mate Horvath. Der Besitzer eines unkonventionellen Fahrradladens in Strassen berichtet über aktuelle Tendenzen, spezifische Aspekte des hiesigen Marktes und die Besonderheiten der Kundschaft. Sein Fazit: Das (normale) Fahrrad wird zum coolen Statussymbol.

Sam Molitors Artikel tanzt ein wenig aus der Reihe. Er bricht eine Lanze für Downhill, eine (Extrem-)Sportart, die immer mehr Jugendliche in ihren Bann zieht. Auch hier im Land gibt es einige Pisten, teilweise verborgen, auf denen man mit Vollgas die hügelige Strecke herunterbrettern kann. Wenn Sie spektakuläre Fahrradstunts sehen möchten, empfehlen wir Ihnen übrigens einen Ausflug zum neuen Skatepark am Eingang des Petrusse-Tals oder schauen Sie einmal auf dem Parvis der Philharmonie vorbei. Wenn Sie Glück haben, trainiert dort gerade Vicky Gomez, der in Luxemburg lebende BMX Flatland-Weltmeister aus Spanien.

Zwei Texte behandeln die Liebe zum alten Fahrrad. Der Sammler Lucien Hilger, der seine Prunkstücke gerne in einem angemessenen Rahmen zeigen würde, und der Verein Vintage Boys berichten über ihre Leidenschaft für klassische Räder aus den 1960er, 70er und 80er Jahren.

Monique Goldschmit, Präsidentin der Lëtzebuerger Vëlos-Initiativ (LVI), beschreibt in einer Zukunftsvision, wie sich im Jahr 2030 unser Land endgültig als Velo-Land positioniert hat. Auch wenn man Luxemburg in diesem Bereich kaum als First mover bezeichnen kann, bietet der Fahrradtourismus immer noch ein enormes Potential für eine reale (und nachhaltige) Wirtschaftsentwicklung.

Mehrere Beiträge widmen sich der Art und Weise, wie es zur Renaissance des Fahrradfahrens in Luxemburg gekommen ist: Neben vielen individuellen Entscheidungen hat auch jahrzehntelange Lobbyarbeit dazu beigetragen. Patrick Besch macht einen Vergleich zwischen traditionellen und aktuelleren Formen des Fahrrad-Aktivismus. Neben der LVI gibt es jetzt u.a. die Plattform Luxembourgize! auf Twitter und Initiativen auf den sozialen Medien, die den Radfahrern Möglichkeiten der Interaktion und der Sichtbarkeit geben. In Brüssel besteht darüberhinaus die European Cycle Federation, die von den europäischen Fahrradverbänden getragen wird. ECF-Mitarbeiter Fabian Küster stellt die Arbeitsweise, die Erfolge und Ambitionen auf europäischer Ebene vor. Schließlich gibt Gust Muller, einer von Luxemburgs Fahrradaktivisten der ersten Stunde, einen Überblick über den langen Weg, der in Luxemburg zur Wiederaneignung des Straßenraumes durch das Fahrrad geführt hat. Gerade Gust und den vielen LVI-Aktivisten möchte man zur heutigen Situation gratulieren. Doch die Geschichte zeigt andererseits auch, welch langen Atem man in der Politik benötigt, um strukturelle Veränderungen durchzusetzen.

Zusätzlich ist das Dossier mit fünf kurzen, persönlichen Berichten aus dem Fahrradalltag illustriert, die einen guten Eindruck geben von der Situation auf unseren Straßen und den Erlebnissen (und Genüssen), die den Radler erwarten. Allen Autoren sei noch einmal herzlich gedankt für ihre Bereitschaft, am Gelingen dieses Dossiers mitgewirkt zu haben!

Zum Schluss leider eine tragische Nachricht: Während wir dieses (sehr positive und motivierende) Dossier zusammengestellt haben, ist mindestens ein Fahrradfahrer auf luxemburgischen Straßen tödlich angefahren worden und mehrere verunfallt durch Fremdeinwirkung. Auf europäischer Ebene richten sich vermehrt Kampagnen der nationalen Straßenverkehrssicherheit jetzt an die Autofahrer mit der Frage: Würden Sie nur 30 cm Abstand halten, wenn Sie Ihren Sohn mit dem Auto überholen? Ja, allen Ernstes, würden Sie?

Was behalten wir also zurück? Das Fahrrad ist eine tolle Erfindung, die uns begeistert, mobil macht und in die Zeit passt. Aber es braucht ein sicheres Umfeld und die Gemeindewahlen sind eine gute Gelegenheit, darauf aufmerksam zu machen. Und wenn Sie schon lange nicht mehr auf einem Fahrrad Luft und Geschwindigkeit genossen haben: Versuchen Sie es wieder einmal!

Bis dahin wünschen wir viel Spaß beim Lesen!

Ben Manet & Jürgen Stoldt

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